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100 Mittwoch, 24.06.2020

Die Ratlosigkeit
Einhundert Tage ist es her, dass ich meine Notizen begonnen habe. Und heute ist der Tag, an dem ich sie beende. Zwei Hinweise gibt es, die mich bei Laune und in der Spur gehalten haben, zwei Aussagen von Schreibenden, die auf den Punkt bringen, worum es bei dem Narrativ ging. Wenn es schwierig war, die Zeit aufzubringen, es weiterzuführen – was nicht selten der Fall war – oder wenn sich das böse Leben dem hart in den Weg gestellt hat, dann tat es gut, diese Zitate zu lesen und sich die Sinnhaftigkeit des Versuchs in Erinnerung zu rufen, wie ich sie am ersten Tag gespürt habe. Der erste Hinweis stammt von Peter Handke aus dem Band Aber ich lebe nur von den Zwischenräumen – Ein Gespräch, geführt von Herbert Gamper. Er lautet:
Ich bin ratlos – und hab aber doch (lange Pause) eine immerwährende Anwandlung, etwas festzuhalten, und deswegen frag ich mich auch sehr oft, ob nicht die Form eines Notizbuchs – nicht eines Tagebuchs, sondern eines über die Person hinausgehenden, nur aus Betrachtungen, Beobachtungen, bezeichnenden Träumen bestehenden Notizbuchs – die bessere, epische Entsprechung wäre als jede nur durch Kampf, Warten, Geduld und auch Hoffnungslosigkeit sich zusammenfügende Erzählung.
*
Es war immer ein naheliegender und zielführender Akt, einmal kurz innezuhalten, sich die Passage durchzulesen und zu überprüfen, ob sie noch jener rote Faden ist, an dem ich mich so unbeholfen entlanghangle. Mit der Zeit wurde es zum liebgewonnenen Ritual, diesen Fingerzeig – den ich mittlerweile längst auswendig hersagen kann – ganz langsam zu lesen wie zum allerersten Mal und in Gedanken abzuhaken, was davon für mich noch stimmt.
Bin ich ratlos? Ja, das war ich durchgehend und bin es weiterhin. Es ist die ebenso lebensbejahende wie produktive Ratlosigkeit, aus der etwas entsteht, was immer das sein mag.
Habe ich eine immerwährende Anwandlung, etwas festzuhalten? Ja, leider zum Glück. Ich kann es nicht ändern, was soll man machen.
Geht es über die Person hinaus? Ja, es beginnt bei der Person, die grundsätzlich der Ausgangspunkt jeder Beschäftigung sein muss, hört dort aber nicht auf. Natürlich beginnt es bei der Person, sonst haben wir ja kein anderes Instrument, der Welt zu begegnen. Dann folgt die Anstrengung, aus sich herauszutreten und sich selbst abzustreifen, um neue Dinge zu sehen oder die alten Dinge neu.
Besteht das Notizbuch aus Betrachtungen, Beobachtungen, bezeichnenden Träumen? Ja, und aus einigem mehr, nämlich aus Reportagen, Essays, Kurz- und Kürzestgeschichten, Gedichtversuchen, Szenen, Miniaturen, Fragenlisten, Monologen, Erinnerungen (wahren und falschen), Chats und Spam, Fakes und falschen Fakes, aus schiefen Bildern und zackigen Blitzen, aus Straßenzitaten, Ohrenzeugenberichten, Aufgeschnapptheiten und Aneignungen, aus Verstörungen und Produktbeschreibungen und halbgarem Philosophieren. Es besteht auch aus Tagebuchstellen, verneigt sich kokett vor der Tradition des erkenntnisfördernden Journals. Es bedient sich im vollen Blumenstrauß der Gattungen und erfindet dreist ein paar zu seinen Gunsten um.
Ist es die bessere, epische Entsprechung? Ja. Der althergebrachten Romankonstruktion sollte man längst nicht mehr trauen. Da gibt es irgendwen, der irgendetwas macht, und dabei kommt ihm irgendetwas dazwischen. Zum Beispiel verliebt sich irgendwer in irgendwen, oder es explodiert wo eine Bombe oder ein Kontostand ist leer. Im Hintergrund spinnt jemand Fäden. Irgendwelche Leute fahren irgendwo hin und reden irgendetwas. Am Ende ist es aus und war interessant. Meistens geht das gut und bekommt auch die richtige Form, manches aber verlangt nach einem Bruch und einer Öffnung. Aus Kampf, Warten, Geduld und Hoffnungslosigkeit setzt es sich deshalb ja trotzdem zusammen, auch ein Narrativ.
Große Erleichterung, dass ich jedes Mal im Geiste alle Punkte abhaken konnte. Und große Ernüchterung, den selbstauferlegten Vorgaben nie ganz zu entsprechen. Zwischen diesen beiden Polen, im Pendeln von Erleichterung zu Ernüchterung und wieder zurück, entsteht etwas, das in den besten Momenten dem nahekommt, was man sich davon verspricht.
*
Der zweite Hinweis stammt von Fernando Pessoa aus Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares. Er lautet:
Die Erbärmlichkeit meiner Verfassung wird nicht geringer durch diese Worte, mit denen ich Satz um Satz das Zufallsbuch meines Nachsinnens gestalte. Nichtig bestehe ich fort auf dem Grund jedes Ausdrucks wie unlösliches Pulver auf dem Grund eines Glases, aus dem man nur Wasser getrunken hat. Ich schreibe meine Literatur wie ich Buch führe – sorgfältig und gleichgültig.
Auch das Lesen dieser Stelle wurde mit der Zeit zum schönen und wichtigen, wenn auch unbequemen Ritual. Es kann befreiend sein, sich immer wieder an die Erbärmlichkeit seiner Verfassung zu erinnern, auf die Gefahr hin, dass man zu einverstanden wird mit seinem Tun, dass man sich selbst zu ähnlich wird, sich auf den Leim geht und auf die eigenen Tricks hereinfällt. Gut auch, zu wissen, dass gesammelte und bei höchster Konzentration in eine bestimmte Reihenfolge gebrachte Wörter daran nichts ändern, wie kunstvoll oder spielerisch das auch gelingen mag.
Es ist und bleibt ein Zufallsbuch, an dem man schreibt, ein Zufallsbuch des Nachsinnens – eine Wendung, die man gleich stehlen will. Satz um Satz gestaltet man es, und nichtig besteht man fort. Dieses Glas und diesen Grund und dieses unauflösliche Pulver habe ich oft und gern geträumt. Neu war mir, dass auch jeder Ausdruck einen Grund hat. Als Hilfsbuchhalter kann ich nachvollziehen, dass man schreibt, wie man Buch führt. Es muss gleichgültig sein, um die Kräfte zu schonen, und sorgfältig, weil man Verantwortung trägt. Aus unerfindlichen Gründen musste ich bei Pessoas Zitat von Soares immer lächeln. Manchmal, in besonders verzagten Augenblicken, habe ich davon laut aufgelacht. (Ein Heteronym haben stelle ich mir sehr aufregend, aber auch anstrengend vor. Ja, sagt Bernardo, aber jetzt stell dir einmal vor, wie es sich anfühlen muss, ein Heteronym zu sein!)
Das Buch der Unruhe lag meistens irgendwo in der Gegend herum. Geblättert habe ich darin nur sporadisch, um von dem Vorsprung an Sprachfülle und Geistesgegenwart nicht noch mehr eingeschüchtert und entmutigt zu werden. Doch es war ein Ansporn, das Buch in der Nähe zu wissen. Es reichte die gutmütige Aura.
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Vor hundert Tagen lautete die eigene Prämisse, dass es sich beim Narrativ nicht um die Vorstudie zum vielgescholtenen Corona-Roman handeln würde. Dem immerhin bin ich treu geblieben und habe nicht abgeschwenkt in eine womöglich gefälligere Richtung. In der ursprünglichen Beschreibung des Projekts ist die Rede von Gedankenfetzen, Eindrücken, Bildern und dem einen oder anderen bösen Witz (geworden sind es sehr viele schlechte und ein paar wenige gute). Angekündigt wird ein wilder Ritt durch die seltsamen Zeiten. Hundert Tage später stimmt: Die Zeiten waren seltsam und der Ritt war wild. Für die nächsten hundert oder eher für die nächsten tausend Tage werden die Zeiten seltsam und der Ritt wild bleiben, mit oder ohne uns. Wir haben noch nichts überstanden, es fängt gerade erst an. Dieses Eingeständnis kommt in Wellen.

Die Erzählung
Das Narrativ war mein Versuch, dem Ereignis eine Form zu geben und einen Sinn abzutrotzen, sodass es mir nicht vor den Augen durch die Finger rinnt. Ich bin nicht der Erste und werde nicht der Letzte sein. Die Routine hat mich in der Gegenwart verankert. Es war der Versuch einer Echtzeitkunst, die keine Wegwerfkunst ist, die Suche nach einem Zeitdokument, das einen über den abgedeckten Zeitraum hinausgehenden Wert besitzt. Wie jeder gute Versuch muss er scheitern; die Frage ist, wie nachdenklich und unterhaltsam. Nicht nur das Ereignis selbst sollte beschrieben sein, sondern das, was im Kopf währenddessen davon abzweigt: Traumfetzen, Szenen, Empörung.
Diese Sache wird uns noch länger begleiten – Auslöser genauso wie Auswirkungen –, ob wir wollen oder nicht, und es wird uns nichts anderes übrigbleiben, als uns damit auseinanderzusetzen, nicht zuletzt durch künstlerische Hervorbringungen. So erst finden Geschehnisse Eingang in unsere Geschichte; was unerzählt bleibt, schwelt unsichtbar weiter bis zum nächsten vernichtenden Brand. Gerahmte Bilder flattern nicht davon. Das Ereignis selbst ist dabei austauschbar.
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Hundert Tage lang war nie Zeit, die Einträge des Vortages noch einmal anzuschauen und auf ihre Stichhaltigkeit oder Gewagtheit abzuklopfen. Jetzt, im flüchtigen und stichprobenartigen Wiederlesen einzelner Notizen fällt mir auf, dass es nie um irgendeinen Virus ging. Das trifft mich wie der Hammer in den Tanz. Ich kann gar nicht anders, als ungläubig zu lachen. Es ist niemals um irgendeinen neuartigen Virus gegangen, auch nicht um eine Quarantäne oder irgendwelche Masken. Es ist nur um das Leben gegangen, mein eigenes und jenes der Menschen. Die üblichen Kleinigkeiten eben. Der Virus war nichts als ein billiger Vorwand, um von ganz anderen Dingen zu erzählen. Von Freunden und Nächten und Straßen, von Freiheit und Politik. Von Schreiben und Lesen und Musik. Vom Gang ins Büro, von der Katastrophe und ihrem Ausbleiben. Von Prozessen und Strukturen. Unerbittliche Begriffe kommen vor – die finden sich auch in ganz anderen Bereichen. Es geht um Richtung und Form, um Fakten und Fiktionen. Ich dachte immer, es geht um eine Krankheit und wie wir uns dazu verhalten. Dabei geht es darum, wie wir uns überhaupt zu allem verhalten. Im Wiederlesen der Notizen wird mir klar, wie einfach alles ist. Eigentlich geht es nur darum, in der Stadt zu leben und Dinge zu tun. Jemand hat sich einen Scherz mit mir erlaubt.
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Ich bin hundert Tage gescheiter und hundert Tage blöder. Hundert Tage einverstandener mit allem und hundert Tage weniger bereit, Kompromisse zu machen. Hundert Tage enttäuschter von den Regierenden und hundert Tage beeindruckter von Entscheidungsprozessen. Ich bin hundert Tage anders und hundert Tage genau gleich. Wahrscheinlich bin ich hundert Tage und zwei Kilo schwerer. Auf jeden Fall bin ich hundert Tage älter. Jetzt – und erst jetzt – gibt es mich.
Ich weiß nicht, warum ich es getan habe, außer, dass es noch weniger Sinn gehabt hätte, es sein zu lassen. Vielleicht hätte es keinen Unterschied gemacht. Wahrscheinlich ist es egal. Wir alle wären gern mehr, als wir sind, und wollen mehr, als wir haben. Von weiter weg betrachtet wird es nicht der Rede wert gewesen sein. Das Schöne an Tatsachen ist immerhin, dass sie existieren. Es sind neue Zeiten angebrochen. Die seltsamen Zeiten. So war der Frühling nicht gedacht. Den Sommer werde ich damit verbringen, schwach zu sein und Bücher zu verschlingen.
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Blättern in Notizen. Was ich lese, hat ein anderer geschrieben. Am Ende kann ich nur feststellen, dass ein Mensch meines Namens sich Fragen gestellt hat. Er hat betrachtet, beschrieben, bezeichnend geträumt. Er ist nachts zum Einkaufszentrum gegangen und hat einen Streit mitangehört. Er hat Nachrichten geschaut. Er hat sich über Zahlen aufgeregt. Er hat Angst gehabt. Wer soll das gewesen sein? Er hat Kuchen gegessen und Gespräche geführt. Hat es satt gemacht? Er ist in der Stadt geblieben und hat eine Weltreise gemacht. Wer hat ihm das Recht gegeben, all das in meinem Namen zu tun?
Er hat gesagt, was er gesehen hat, und geschrieben, was er gedacht hat, und geglaubt, was er gewusst hat. Und hat er auch gesucht, was er gefunden hat? Er hat Pizza gebacken. Und so, im Wechsel der Person, geschieht das eigentliche Erzählen. Da gibt es wen, der etwas macht, und dabei kommt ihm etwas dazwischen. Und ob es ein Virus ist oder ein anderes Ereignis, spielt zwar eine Rolle, aber nicht die einzige. Dem sollte man trauen. Ein Nachsinnen, ein Zufallsbuch, eine Öffnung, ein Bruch – ein Erzählen. So kommt es zum Versuch einer Geschichte. Ein Mensch meines Namens wird behaupten, Sätze geschrieben zu haben. Wer kann sagen, ob es stimmt?

Die Erlösung
Es gibt keine Erlösung. Für mich nicht, und für niemanden sonst. Es gibt nur die Tage, an denen wir das vergessen. Zeit ist eine Richtung ohne Ort. Wir wachen auf und bleiben, wo wir sind, oder gehen hinaus. Wir schauen uns etwas an und hören zu. Wir treffen Leute oder bleiben allein. Es gibt nur ganz wenige Menschen, mit denen wir unsere Zeit verbringen wollen. Drei oder fünf oder neun. Wir sind ganz ruhig. So ruhig waren wir schon lange nicht mehr, und zwar nie. Wir haben etwas gemacht, aber genauso gut hätten wir es sein lassen können. Wer spricht da? Ich oder er oder wir. Wenn man ganz ruhig dasitzt und lange genug wartet, wird man sich irgendwann beim Denken zuhören. Und wenn das Fenster offen ist, fliegt irgendetwas herein. Ratlos blickt man auf. Es gibt keine Erlösung. Es gibt aber auch nichts mehr, von dem man erlöst werden muss.

Gerade war da ein Gedanke.
Jetzt ist er weg.

Und manchmal befinden wir uns beinahe im Epizentrum des Lebens.

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99 Dienstag, 23.06.2020

Beim Essen sehe ich neuerdings am liebsten Dokumentationen über Fettleibigkeit und das fragwürdige Gebaren der Nahrungsmittelproduzenten. Fett in the USA: Amerikas Kampf gegen die Kilos und Dick, dicker, fettes Geld: Geschichten aus der Diabetes-Industrie und 5 Döner hintereinander – Wenn Essen zur Sucht wird und Abnehmen, um zu überleben und Amerika XXL – Eindrücke aus dem Land der Dicken. Langsam komme ich auf den Geschmack. Ein paar Magenverkleinerungen durfte ich mitansehen – alles, was Bauch war, ist Schmerz.
Zum Ausgleich steige ich um auf Dokumentationen über Fitness- und Abnehmtrends. Quäl dich! – Die härtesten Freizeitsportler Deutschlands und Körperkult – Vom Diätwahn & der Industrie dahinter und Muskelaufbau – Mit Anabolika zum Traumkörper und Bauch weg! Expedition in eine Problemzone und Im Muskel-Wahn. Auf mein Essverhalten haben weder die einen noch die anderen irgendeine Auswirkung. Ich lasse es mir unbehelligt schmecken.
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Zwei Tage hungern, damit sich die Pauschale fürs running sushi auszahlt. (Wie wohlwollend der Fettsack die vorbeipräsentierten Tellerchen abnickt, und wie verschämt er unter den Augen der Mitspeisenden die Bissen einschlürft. Er ist so mächtig, dass sein Körper regelrecht zerfließt.)
*
Einmal träumte mir, meine Mutter würde die übriggebliebenen hausgemachten Marillenknödel samt Zimtbrösel in eine behäbige Schale tun und alles mit dem Stabmixer zerschreddern (und vorher gewissenhaft die Steine entfernt haben). Ich war entsetzt. Das werde ein traditioneller Knödelschmarren, erklärte sie mit ruhiger Stimme und kippte Apfelmus dazu. Schade um die schönen Marillenknödel, dachte ich. Zum Glück war es nur ein Traum.

Nachtstreuner und Regenspaziergang – einer braucht den anderen.

Innere und äußere Umstände
Es gibt innere und äußere Umstände. Die inneren Umstände sind das, was man tut. Man muss es für sich selbst tun, aus sich heraus. Die äußeren Umstände sind das, was andere davon halten. Wie sie es bewerten und was damit geschieht, ein Blick der Welt auf sich. Beim eigentlichen Tun muss man sich ganz auf die inneren Umstände besinnen und die äußeren konsequent ausblenden. Sobald sie hineinspielen, wird die Arbeit verwässert oder sogar vergiftet mit einer Gefallsucht. Danach, wenn die Arbeit abgeschlossen ist, beginnt die Suche nach Verbündeten. Grundlage ist die geteilte Vision. Jetzt bedrängen und befragen einen die äußeren Umstände, das Einordnen und Bewerten der Arbeit. So muss es sein. Eine Öffnung geschieht, ein Hereinlassen der fremden Bedenken. Der innere Kern aber bleibt intakt, sonst gibt man auf, weshalb man etwas ursprünglich in Angriff nahm.
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Immer ist man selbst derjenige, dem es schwergemacht wird, und immer sind die anderen diejenigen, denen alles so leichtfällt. Wie lasch ist die Kunst der Geschätzten, denkt man, und übersieht, dass keinem etwas geschenkt wird, und wenn doch, dann fordert es auf Dauer nicht heraus und lähmt den Eifer. Dem Einzelgänger wirft man sein Einzelgängertum vor, dabei kann er nichts dafür und wünscht es sich anders, dabei geschieht die Verhärtung des Körperpanzers rein zum Selbstschutz, und dem Zurückgewiesenen wirft man vor, dass seine Liebeserklärungen zu Kriegserklärungen werden. Das Schweigen ist groß. Aber, denkt man, eines Tages werde auch ich jemand sein, und schweige dann mit voller Kraft zurück. Eines Tages, denkt man, wenn ich sie längst nicht mehr brauche, werde ich mächtige Fürsprecher haben. All das ein Schielen auf äußere Umstände, zu denen das Leben nur gelangweilt gähnt. Da ist es wichtig, durchzuatmen, und an die inneren Umstände zu denken. Sie sind angenehm streng und lassen einem nichts durchgehen.

Funktionieren als maßgeblicher Lebensinhalt.

Es war einmal eine Idee. Ich habe mich in ihr erkannt und ihr vertraut. Sie störte etwas auf. Die Idee ging fort. Aus der Ferne sehe ich, wie sie älter wird und zu wirken aufhört. Sie war Befürworterin meines Tuns. Aber was sind schon Ideen? Wenn ich sie sehe, ist sie plötzlich wieder so, wie sie gewesen ist. Da durchzuckt es mich wie als Stich. Was sind wir selbst ohne unsere Ideen? Ich warte auf sie. Eines Tages wird sie sagen, dass es lang genug war und sich das Warten auf sie gelohnt hat. Ob es dann zu spät ist? Ich denke an den Satz, der alles sagt. Es gibt ihn nicht. Ich suche die Suche nach der verlorenen Idee. Das reicht. Sie war einmal und wird gewesen sein.

Die Männer schwadronieren von ihren Bärten und deren Pflege, als sei Bartwuchs eine Entscheidung. (Jemand hat statt einer Oberlippe einen präzise gekränkten Bartstrich.)

Eine Bekannte erklärt mir, sogenannte Ladies’ Nights, bei denen Frauen in Lokalen für einen bestimmten Zeitraum vergünstigte Getränke bekommen, seien eine Erfindung von Männern für Männer – diese würden im Verlauf des Abends dazustoßen und die ausreichend betrunkenen und vermeintlich willigen Ladies einsammeln. Die Vorarbeit des Herbeitrinkens einer Unvernunft hätten sie dann bereits auf eigene Kosten selbst an sich geleistet.

Eine Traube Menschen wartet an der Ampel. Sie stehen versammelt um ihren Ärger. Wahrscheinlich dauert es schon etwas länger. Immer mehr gesellen sich dazu, und immer genervter warten die Fußgänger, endlich die Straße überqueren zu dürfen. Ungehindert rauschen die Autos vorbei. Nichts blinkt, nirgends. Auch die andere Uferseite wird immer voller und genervter. Längst haben wir es mit einer unüblich langen Rotphase zu tun. Ich möchte zwar auf meinem Gehsteig bleiben, trete jedoch hinzu, um mir ein Bild von der Lage zu machen. Außerdem habe ich einen leisen Verdacht, den ich nun überprüfen möchte. Er bestätigt sich: Die Ampelbox ist nicht gedrückt.
Zur Unterhaltung warte ich ein bisschen mit. Mehr und immer noch mehr Menschen stehen sich gegenüber und starren immer genervter in den Autoverkehr. Irgendwann fasse ich mir ein Herz und erlöse sie. Tapfer drücke ich den Knopf. (Es gibt nur wenige, die mit dieser besonderen Fähigkeit ausgestattet sind. Bekanntlich ist eine mehrjährige Spezialausbildung dafür vorgeschrieben, die nur die Härtesten unbeschadet überstehen. Zum Glück bin ich offiziell zertifizierter und staatlich anerkannter Ampelboxknopfdrücker.) Es blinkt. Ein Raunen der Erleichterung geht durch die Menschen. Autos bleiben stehen. Erlöstes Seufzen. Bescheidener Held des Alltags, der ich bin, mache ich mich unbedankt aus dem Staub. Die Ampel springt auf Grün. Durch die Menschen geht ein Ruck. Bis morgen, denke ich.

Nachtspaziergang und Regenstreuner – enharmonische Verwechslung.

Jakob (Twistgeschichte)
Jakob steht im Wetter. Er beobachtet ein Haus. Die Menschen gehen achtlos an ihm vorbei. Ein Hund reibt sich an ihm. Jakob bewegt sich nicht vom Fleck. Die Besitzerin zerrt an der Leine. Kein Wort der Entschuldigung. Ihr Hund hebt woanders sein Bein. Auch nachts steht Jakob vor dem Haus und beobachtet durch die Fenster, was vor sich geht. Bildschirmflimmern überall, Fernseher blättern um in der Welt. Jakob lauert. Niemand stört sich an ihm. Er sieht Liebe und Streit, manchmal beides im selben Raum. Wer soll die Menschen verstehen? Jakob bleibt, wo er ist. Die Nacht schläft. Eine junge Frau hinter dem Fenster ist noch wach. Sie hört Musik und weint. Ein neues Gesicht. Muss frisch hierhergezogen sein. Jakob verschaut sich ein bisschen in sie. Morgen wird er ihr begegnen und sie trösten. Alles halb so schlimm. Sie zieht sich aus und löscht das Licht. Stilles Weinen. Menschen sind schön. Jakob ist verliebt. Morgen wird er sich ihr zeigen. An einem Tag mit Hund. Der Wind pfeift. Verliebt sein ins neue Gesicht. Jakob ist ein Baum.

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98 Montag, 22.06.2020

Lieber Diego,
ich schreibe dir, um mich zu verabschieden. Ehrlich gesagt wollte ich das schon viel früher machen, habe es dann aber immer weiter nach hinten verlegt. Vor zwei Wochen wollte ich mich daran machen, vor einer. Jetzt endlich ist es so weit. Entschuldige bitte, dass ich mir damit so lange Zeit gelassen habe. Du kannst dir vorstellen, dass hier auch schlechtes Gewissen im Spiel ist. Du wirst sterben, Diego. Aber dazu später mehr.
*
Eine atemlose Dystopie, im Zuge einer unbenannten Katastrophe globalen Ausmaßes verschwindet die gesamte Menschheit vom Antlitz der Erde, kapitelweise wird heruntergezählt von sieben Milliarden auf null, ohne doppelten Boden oder Aufwachen aus einem Albtraum, ein Archivar bemüht sich, die Geschehnisse festzuhalten. Ein exemplarisches, traumartiges Fest. Sieben Menschen treffen sich in einem Praterhaus, um gegen etwas anzuschreiben, dabei entsteht eine Säule aus Licht, die in den Himmel schießt, Geburt des ersten Kindes im Weltall, eine Kreismaschine wird in Gang gesetzt, etwas bricht auf, von der Wirklichkeit spaltet sich eine Möglichkeit ab, die Menschen führen zwei Leben, eines als sie selbst, das andere als Kopie, eine Klartraumgeschichte, Propaganda für das Assoziat als literarische Mischform. Entwicklungsroman in der Großstadt, Künstlerwerdung und obskure Projekte, Japanreise in eine normierte Gesellschaft, die Umwege Wiens, das Glück des langen Blicks auf kleine Dinge. Ein Schreibender erwacht in einem sterilen Raum, alles ist bereit für einen langen Aufenthalt, ein Sessel und ein Tisch mit ausreichend Papier, er schreibt und erzählt, nach und nach wird er versetzt in weitere, immer offenere und lebenswertere Räume, Betreten einer Zeitschleife, Begegnung mit sich selbst. Autobiographisches Schreiben am Erinnerungsbuch, letztes Finden des Assoziats als Form, sich trauen, ich zu sagen, mit eigener Stimme und fragendem Ton. Ich habe die Welt meiner Bücher betreten. Es war immer klar, dass es ein Narrativ geben wird. Vielleicht gibt es den Virus ja nur, damit wir alle davon erzählen. Ich habe im Narrativ einen Frühling lang meine Bestimmung gefunden – und du hoffentlich auch.
*
Tja, Diego, das war sie also, meine persönliche Absorbierung des lokalen Weltgeschehens, das wird sie bald gewesen sein. Bist du zufrieden? Ich auch nicht. Aber einen Versuch war es wert. Was können wir denn auch anderes tun, als gewissenhaft weiterzuscheitern? Eben. (Es gibt übrigens den Entwurf eines Briefes von dir an mich, um dich auch einmal zu Wort kommen zu lassen. Doch diesen Plan habe ich verworfen. Die strikte Regel der einseitigen Kommunikation wollte ich dann doch nicht brechen. So vieles im Leben ist lauwarm und schwammig, da tun ein paar kalte Gesetze ganz gut, die kann man sich notfalls ja selbst auferlegen. Es geht darum, aus der Not eine Tugend zu machen. Dass du mir nicht antwortest, hat für mich den Nachteil, von dir zur Weiterarbeit keine Impulse zu bekommen. Der Vorteil ist natürlich, dass ich nie auf Antwort warten muss. Das kann recht mühsam sein. Gibt es etwas Egozentrischeres, als Briefe an jemanden zu schreiben, den es nicht gibt? Wir sind verlorene Kinder. Man hat uns irgendwo vergessen an einer Ecke der Stadt, aus der wir nicht mehr alleine nach Hause finden.)
Hörst du es? Genau. Da ist nichts, nur Stille. Von ihr geht etwas aus. Sie scheint uns etwas vorauszuhaben, eine wichtige Sache zu wissen, die sie nur mit uns teilt, wenn wir aufmerksam zuhören. Das tun wir ein bisschen. Bleib einfach kurz stehen. Ach, Diego. Das Gute, wenn man verrückt ist – man kann es nicht mehr werden.
*
Ich habe geschrieben am offenen Patienten, forschte in die Erkrankung hinein. Das Narrativ als Zeitkapsel von mir an mich, vergraben im eigenen Kopf. Immer mehr Skizzen und Notizen und unterschiedlich weite Vorstufen des Geschriebenen habe ich abgearbeitet, und immer mehr sind es dabei geworden. Es war so viel zu erzählen. Das war ich mir schuldig. Und je richtungsloser und überbordender die Inhalte, desto strenger und konkreter muss die Form sein, in die man sie gießt. Das kennst du schon. Ich sage es so gern, weil es so wahr ist. Ich liebe es, die Formstrenge zu lieben. (Ein erbauliches Nachdenken, ausgelagert aus dem beschleunigten Fluss sozialer Netzwerke. Beharren auf Rechtschreibung und Beistrichsetzung und Strichpunktgebrauch und Doppelpunktanschluss, auch muss auf kompromisslose Vereinheitlichung der Schreibweisen geachtet werden. Es kann nicht zuerst von einem Arzt-Freund und später von einem Arztfreund die Rede sein; das schafft Inkonsequenz und stiftet Verwirrung – und das ist das Letzte, was wir jetzt brauchen.)
Es gibt einen Ort für unsere Ideen. Dieser Ort ist ruhig und mild. Hier sind wir ganz bei uns. Es ist ein reizvolles – und heilsames – Gedankenexperiment, sich vorzustellen, dass sich alles, wirklich alles nur in unerem Kopf abspielt. Ich sage ja: Man kann es nicht mehr werden.
*
Du fragst dich sicher, wo jetzt alle sind. Ich möchte versuchen, es dir zu erzählen. Schriftsteller Alfred übersetzt. Kommunikationsdramaturg Erwin kuratiert. Die ferne Bekannte verkostet Wein. Lektorin Merle lektoriert. Der Tiroler Pirat weist auf Fehler hin. Die Mutter kocht. Der Kulturkoch ist auf Kur. Der Bruder liest Comics im Garten. Der Bundeskanzler regiert. Der Innenminister nuschelt. Der Gesundheitsminister hat einen grünen Daumen. Der Ober-Virologe wird zugeschaltet. Der Bundespräsident verplaudert sich am Wein. Die Menschensammlerin schweigt sich aus. Die Krückenfrau sitzt in der Bäckerei. Die Schnitzelfrau hat eine Tochter. Die chinesische Supermarktfrau legt eine Limette ins Sackerl. Die Dichterin kennt Wörter mit Vokalen. Der Postler grüßt. Der Mistkübler leuchtet orange. Der Lehrer-Freund schaut mit der Klasse Filme. Die Kuchenschmugglerin hat eine Fahrradbrille. Die steirische Schneiderin lernt. Die brasilianische Hackerin gibt es nicht. Der Anwalts-Freund verdient pro Stunde gut. Der Arzt-Freund ist müde von der Nachtschicht. Sie alle sind noch da. Und die anderen? Gibt es auch.
*
Es wird ein sanfter Tod sein. Ich habe dich zur Welt gebracht, und ich werde dich töten. Du kannst mir glauben: Ich wollte niemals ein Gott sein. In manche Jobs rutscht man einfach so durch Zufall hinein. Mit dem Narrativ endet auch dein Auftrag, es zu konservieren. Von einem Moment auf den anderen wird es dich nicht mehr geben. Sei unbesorgt. Ich bin der sanfteste Mörder, den du jemals haben wirst. Es tut mir Leid.
*
Die große Wanderlust ist ausgebrochen. Alle planen den Sommer, viele bleiben im Land. Alle steigen auf irgendeinen Berg oder kraxeln durch irgendwelche Täler. Munter geht es auf und ab. Sie wandern als Gruppen oder zu zweit als solides Paar, selten auch allein. Gerastet wird auf irgendwelchen Hütten mit Wind. Ich kann es ja verstehen. Die Menschen wollen zurück in die Natur, frische Luft atmen, in einen kalten Bergsee springen, weil das so erfrischt. Die Fotos werden schön sein, und die Menschen darauf schön. Dabei könnte man die Stunden des Marschierens über Wiesen auch mit dem Lesen von Büchern verbringen. Etwas anderes zu tun, muss gut begründet sein.
Ich möchte nicht wandern gehen. Natur ist fad. Die einzige Landschaft, die es wert ist, durchschritten zu werden, bleibt die Stadtlandschaft. Selbst am Sonntag, wenn die Geschäfte geschlossen sind, bleibt sie interessant. In den Auslagen kann man sich all die Dinge ansehen, die man nicht haben will und nicht braucht. Kaum zu glauben, wie viele Dinge es überall gibt. Als wäre die Welt nur da, um dafür Platz zu haben. Vielleicht sollte ich doch hinaus, wo gar nichts ist.
Ich werde mich bemühen, langsamer zu sein. Von jetzt an möchte ich alles in Zeitlupe machen. Am besten wäre es, ein Stein zu sein, der in einem Fluss liegt, oder in einem Bach, dessen Wasser fröhlich auf mich einplätschert. Ein Stein ist die zu Ende gedachte Langsamkeit, ein unbelebtes Objekt, die endgültig feste und beständige Form. Niemand spricht einen an, was gut ist, denn man könnte ja auch gar nicht antworten. So ähnlich wie du. Also, von jetzt an, zehn Mal langsamer als sonst.
*
(Zeit vergeht.)
*
Seitdem ich mich der neuen Langsamkeit verschrieben habe, komme ich zu viel mehr. Je langsamer ich durch die Stadt spaziere, desto interessanter wird jeder Mensch, dem ich unterwegs begegne. Zu jedem einzelnen fallen mir tausend Geschichten ein, und alle wären es wert, erzählt zu werden. Jetzt, da ich so viel mehr Zeit habe, komme ich sicher dazu. Ein Stein bin ich zwar noch nicht geworden, aber werfen können mich die anderen versuchsweise ja. Ein komisches Gefühl.
Das Gefühl geht so: Nichts haben, aber auch nichts brauchen. Oder als würde es alles geben und alles fehlt. Es ist zwar interessant, aber nicht mehr so wichtig. Es wäre schön, mit jemandem Zeit zu verbringen, doch es hängt nicht mehr das Leben davon ab. Vielleicht ist es das, was Leute meinen, die Glück beschreiben als Abwesenheit von Unglück. Das scheint mir aber schon zu hoch gegriffen. Eigentlich heißt es nur, dass man am Fenster sitzt und Zeit vergeht. Mehr kann man sich nicht wünschen. Vielleicht probiere ich das mit dem Wandern doch einmal aus. So ein Sommer geschieht ja nicht von selbst.
*
Ich habe jetzt schon ungefähr ein Prozent des Lebens verstanden, hoffe aber, dass es demnächst noch mehr sein wird. Man sollte sich trauen, viel langsamer zu sein, hundertmal oder tausendmal langsamer, es so weit treiben, dass man eine negative Geschwindigkeit erreicht, um rückwärts in der Zeit zu reisen und Dinge geschehen zu lassen oder ungeschehen zu machen. Auch das eine Unmöglichkeit.
Wir führen zwei Leben. Ein pragmatisches, alltägliches und ein besonderes, mögliches. Beide sind wichtig, um bei Sinnen zu bleiben. Manchmal wachen wir aus dem einen ins andere auf, und umgekehrt. Das kann verwirrend sein. Jemand wacht auf und denkt, er befindet sich im einen Leben, dabei ist es das andere. Er braucht dann ein paar Sekunden, den Blick scharf zu stellen und sich einzugestehen, wo er sich befindet. Diese Lücke, die entsteht, füllt man zum Beispiel mit Gedichten oder ähnlichen Hervorbringungen. Es gibt auch andere Arten der Freizeitgestaltung.
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(Zeit vergeht.)
*
Es gibt keine wichtigere Fähigkeit, als in Würde loszulassen. Im Kern ist das Narrativ unsere Geschichte. In Wahrheit bist du es, der alles erzählt. Ich schreibe nur mit. Du bist der Körper, und ich bin der Bot. Man kann es nicht mehr werden. Zeit vergeht. Im Wald plätschert ein Stein. Ganz sanft. Ich werde da sein, wenn es so weit ist.
Für jede Sache, die klappt, gibt es neun, die nicht klappen. Das scheint wahnsinnig entmutigend. Eigentlich besteht überhaupt kein Grund, irgendetwas zu versuchen. Die Chancen stehen gut, dass man sich daran die Zähne ausbeißt. Aber alle neun Sachen, die nicht klappen, gibt es diese eine Sache, die klappt. Manchmal, Diego, gibt es überhaupt keine Möglichkeit mehr. Und weißt du, was es dann immer noch gibt: Die Möglichkeit für eine Möglichkeit. Und das ist doch besser als nichts. Gestern hat es geregnet. Irgendwo spielt jemand Klavier. Hörst du es?

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97 Sonntag, 21.06.2020

Zahlen und Daten
Um wie viel Uhr der Wecker läutet. Wie viele Stunden man geschlafen hat. Wie viele Minuten einem bleiben, bis man das Haus verlassen muss. Ungefähr zwanzig. Wie viele Schritte es aufs Klo sind. Nur ein paar, die macht man blind. Wie lange man sich die Hände wäscht. Wie viel Wasser man dabei verbraucht. In Millilitern. Wie schwer der Rucksack ist. In Kilogramm. Wie viele Stufen es durchs Stiegenhaus hinunter sind. Wer hat sie je gezählt? Wie viele Personen einem auf dem Weg zur Station entgegenkommen. In welchem Winkel sie den müden Blick zum Boden führen. In wie vielen Minuten die U-Bahn kommt. Wie viele andere sich im Waggon befinden. Wie lange die Fahrt dauert. Wie lange man fürs Umsteigen braucht. In wie vielen Minuten die U-Bahn diesmal kommt, wie viele Stationen es diesmal sind. Ein paar mehr. Wie spät es ist. Schon so spät?
Wie weit die Strecke ins Büro ist. Um wie viel Uhr man den Schlüssel umdreht. Die Abtropfgeschwindigkeit der Kaffeemaschine. Die Erledigungsgeschwindigkeit für einzelne Aufgaben. Die Menge der Sendungen im Briefkasten. Die Anzahl der eingelangten Bestellungen. Wie viel Papier im Drucker ist. Wie hoch der zu bezahlende Betrag ausfällt. Hausnummer und Postleitzahl. Die Telefonnummer. Der Stundenlohn für Arbeit.
*
Die aktuelle Basisreproduktionszahl. Wie viele Meter Abstand eingehalten werden müssen. Wie viele Menschen sich in welchem Bereich versammeln dürfen. Es ändert sich so schnell. Wie viele Gäste in Restaurants um einen Tisch sitzen dürfen. Was alles kostet. Wie viel Geld man noch am Konto hat. Wie viele Pressekonferenzen gegeben worden sind. Wie viele Kameras aufgestellt waren. Auf wie vielen Bildschirmen wir sie verfolgten. Wie sich die Zahlen entwickeln. Wie viele Neuinfektionen es gibt. Wie viele Erkrankte und Genesene es gibt. Wie viele Verstorbene es gibt. Wie viele Länder es auf der Welt gibt. Wie sich dort die Zahlen jeweils entwickeln. Wie rund oder erratisch Kurven sind. Mit wie vielen Klicks man sich alle Daten zusammensuchen kann.
Wie viele Kalorien man täglich zu sich nimmt. Was man wiegt. Wie oft man jemanden sieht. Wie viele Stunden seit der letzten Begegnung vergangen sind. Die Summe der gelesenen Bücher. Aufgeschlüsselt in geborgte und besessene. Die Anzahl geschriebener Wörter. Aufgeteilt in lange und kurze. Wie viele Folgen jede Staffel einer Fernsehserie hat. Manchmal sind es unterschiedlich viele. Um wie viel Uhr es so weit ist. Bis wann die Zeit vergeht. Seit wann es uns gibt. Immer schon?
*
Mein Kopf ist so randvoll mit Zahlen, und davon so verstopft, dass kaum mehr Platz für etwas anderes ist. Nicht zuletzt das Infektionsgeschehen hält uns auf Trab. Es wäre unverantwortlich, darauf nicht täglich zu schielen. Längst setzen Ermüdungserscheinungen ein, von denen mir auch andere berichten. Es ist genug. Um den Kopf wieder frei zu kriegen, muss man wahrscheinlich ans Meer fahren. Dabei ist Urlaub schrecklich langweilig, und Entspannen ist – sind wir uns ehrlich – insgeheim furchtbar anstrengend. Wer tut sich das freiwillig an? Die allergrößte Sorge vieler Landsleute gilt der nächsten Italienreise. Wer aber führt derweil unser Leben? Tun wir es lieber selbst. Das Meer gibt es auch so, lassen wir es doch mit uns in Ruhe.
*
(Alte Reisenotiz: Im Bus lausche ich der einschläfernden Erzählung eines deutschen Radfahrer-Pärchens. Sie berichten einem Trio aus weißhaarigen Seniorinnen. Es geht um zurückgelegte Distanzen und gebuchte Hotels. Es ist so belanglos wie laut. Wahrscheinlich hören alle schlecht. Wie ein Live-Podcast, um den man niemanden gebeten hat. Sie bleiben mehrere Tage in Salzburg, auch die Erzählung verharrt dort. Beim Zuhören vergeht mir die Lust auf Radtouren und aufs Älterwerden.)

Die Liebe zum Meer ist wie die Liebe zum Tod: Sie steht in einem Buch.

Ich kann es nicht leiden, wenn Leute ihre eigenen Witze kommentieren. Zum Beispiel diesen hier.

Fragestellung zu Drogen: Setzt der Rausch, der wahrnehmungsverändernde Zustand, die bereits vorhandenen inneren Sehnsüchte frei oder verändert er das Wesen, wird man also zu jemandem, der man gar nicht ist?

Im U-Bahn-Gedränge rammt mir ein Mann seinen Rucksack in den Bauch, ohne sich zu entschuldigen. Eine mittelalte Frau schnauzt er blöd an, ihm gefälligst mehr Platz zu lassen, obwohl es doch für alle gleich eng ist. Ich mustere ihn. Und dabei stelle ich fest, dass ich bei aller berechtigten Abneigung noch für den größten Vollkoffer der Stadt etwas empfinde, das am ehesten als vorsichtiges Wohlwollen beschrieben werden kann; an manchen Tagen – nämlich an solchen der euphorischen Weltumarmung, der überbordenden Sehnsucht nach Verbundenheit – ist es noch mehr, ist es die Gewissheit, dass ich für jeden Mitbewohner Wiens ohne zu zögern in den Schuss hechten würde. Auch für den ungehobelten Rucksackmann würde ich es tun, sofort und ohne auch nur einen Moment des Abwägens verstreichen zu lassen – ohne mit der Wimper zu zucken, wie man sagt.
Er beschwert sich lautstark bei einem Jugendlichen, der ihm wertvolle Zentimeter U-Bahn-Boden abgeluchst haben soll. Ich betrachte ihn mit vorsichtigem Wohlwollen. Du bist und bleibst ein Vollkoffer, denke ich beseelt lächelnd, aber immerhin bist du mein Vollkoffer.

Bedrängt von Gerüchen – zum Beispiel in der U-Bahn.

7/8-Takt krault einen beim Hören behaglich gegen den Strich.

Dystopie und Utopie
Alles läuft zu auf diese eine Frage: Streben wir in eine Dystopie oder in eine Utopie?
Dystopie heißt, dass wir in Zukunft mit einem Virus ringen werden, der nie ganz unter Kontrolle zu bringen ist und in erkennbaren Zyklen auftritt. Er wird Teil unseres Alltags, in dem massive Beschränkungen von Versammlungen und Veranstaltungen aufrechtbleiben. Immunität besteht nur vorübergehend und begrenzt. Immunitätsnachweis und Impfpass als Grundvoraussetzung für Arbeitsverhältnis und Reisefreiheit, Probleme mit der Fälschungssicherheit. Nationenverbünde zersplittern sich in Einzelländer, Brücken verwandeln sich in Grenzen. Die Entwicklung von wirkungsvollen Medikamenten oder gar eines Wirkstoffes gestaltet sich schwierig. Womöglich ist der Virus gar nicht so gefährlich wie anfangs befürchtet, jedoch scheiden sich die Geister bei der Frage, was gefährlich überhaupt meint. Für Jahre verharrt die Welt im steten Wechsel zwischen Hammer und Tanz. Schockstarre. Politische Entscheidungsfindung gestaltet sich schwierig, gesellschaftliche Umbrüche sind aufgeschoben, ein konzertierter Umgang mit dem Klimawandel illusorisch. Die Staatskassen seien leer, was als Dauerargument herhalten muss. Dystopie heißt Unfrieden, Armut und Zwang.
*
Utopie heißt Entschleunigung eines Kapitalismus, der sich selbst verdaut. Umdenken in allen Lebensbereichen, Rückbesinnung auf sogenannte alte Werte. Umkehr bei festgefahrenen Entwicklungen, ressourcenschonendes Wirtschaften. Angehen großer Vorhaben, neue Impulse für die Klimapolitik, Investition in erneuerbare Energie und innovative Technologie. Menschlichere Arbeitswelt, mehr Verteilungsgerechtigkeit. Aufwertung prekärer Jobs, faire Bezahlung gesellschaftlich relevanter Stellen in Gesundheit und Bildung. Wir haben erkannt, was wichtig ist, und welche Menschen wir in unserer Nähe brauchen. Festigung sozialer Kontakte, sinnstiftende Lebensführung. Blindes Konsumieren behält einen schalen Beigeschmack. Grundrechte wie Redefreiheit und Demonstrationsrecht werden nicht mehr als selbstverständlich angesehen und erfahren eine Aufwertung. In der Bevölkerung erwacht ein neues politisches Bewusstsein. Populisten haben sich selbst als unbrauchbar für Amtsgeschäfte entlarvt. Mündige Staatsbürger treiben die Wahlbeteiligung in die Höhe. Eine neue Liebe zur Demokratie ist entflammt. Der Kampf gegen den Virus ist gewonnen. Auftauchende Infektionscluster werden durch gezieltes Handeln im Keim erstickt. Der Virus wird einer von vielen. Er war der Weckruf, den es gebraucht hat, uns wieder zu uns selbst finden zu lassen. Kunst, die entsteht, hat Bestand. Utopie heißt Möglichkeit, Offenheit und Zuversicht.
*
Wohin streben wir also? Irgendetwas muss es doch auf sich haben mit den seltsamen Zeiten. Aber ist das überhaupt die Frage? Müsste sie nicht eher lauten: Worin befinden wir uns? Der Blick in die Zukunft ist gar nicht nötig, denn die erklärt sich bekanntlich seit jeher aus der Gegenwart. Was jetzt also: Dystopie oder Utopie? Die Antwort lautet: Beides. Wir befinden uns weder im einen noch im anderen, genauso wie wir weder ins eine noch ins andere streben. Manchmal wird das eine mit dem anderen verwechselt. Die Zeiten waren immer seltsam. Besser seltsam oder schlechter seltsam? Anders seltsam. Wir befinden uns genau dort, wo wir hingehören, und niemand verbietet uns, woandershin zu streben. Es kann so schön sein, sich eine finstere Dystopie vorzustellen, und es macht oft so Angst, sich in eine strahlende Utopie zu versetzen. Und mit dem Aushalten einer Gleichzeitigkeit der Widersprüche geschieht der Eintritt in die Erwachsenenwelt. Wir halten es aus.

Der Sommer hat begonnen. Hat er das? (Zweifel nach zwei Tagen Regen.)

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96 Samstag, 20.06.2020

Einen Sommer lang dachte ich in Gedichten.

Einmal schwebte mir ein Gedichtband vor, der die schöne neue digitale Welt besingen sollte: das Verlagern unserer Existenz in soziale Medien und Online-Spiele, die Rechnerleistung von Supercomputern zur Wettersimulation, die Nullen und Einsen, den binären Code. Der Band trug den umständlichen Arbeitstitel Datenverarbeitungsgedichte. Alles Material, das ich dafür bereits zusammengetragen und teilweise ausformuliert habe, ist auf geheimnisvolle Weise verschwunden.

Eine Mollner Lyrikerin spricht sehr treffend von der Kronenkrankheit, die sich auf die Länder gesetzt habe. Außerdem erfahre ich von leuchtendem Brot.

Beim Verlassen der Wohnung schoss mir ein launiges Kurzgedicht ein:
Wenn man keinen Hunger hat
Macht sogar ein Zuckerl satt
(Gedichtet mit einem Hustenzuckerl im Mund.)

Erheblicher Gedichtversuch:
Die Maske schnalzt mir ins Gesicht
Du kennst mich nicht mehr und noch nicht

Donaustadtbrückengedicht:
Ein mal eins ist keins
Zwei mal zwei ist Bier
Und drei mal drei ist Sekt

Dichtlust im Dauerregen:
Rasten
Wie ein Stein am Platz
Und warten
Auf die Zeit
*
Übersetzt in jede Sprache
Ist Liebe nur ein Wort
Das es nicht gibt

In den Baumkronen dichtet der Wind.

Lyriker sind einfach nur faul.

Auf der Tanzfläche haben zwei sich bemerkt. Jetzt lauern sie in blickreicher Distanz.

Mann und Frau gehen auf einander zu. Zwei Fremde am Gehsteig. Sie hebt den Blick, sieht ihn jedoch nicht an, sondern frontal geradeaus an ihm vorbei, um sich zu vergewissern, dass sie angesehen wird, was sie aus dem Augenwinkel triumphierend erkennt. Der stumme Sieg einer Unbekannten, irgendwo im dritten Wiener Gemeindebezirk. So oder so ähnlich jeden Tag überall auf der Welt.
*
Zwei verzweifelt Liebende, für die es keinen Ausweg gibt, besuchen gemeinsam einen Escape Room. Sie wird von einer Schwangeren mit dem Auto gebracht, er kommt zu Fuß. Sie streiten ein bisschen, finden aber ohne Hinweis jede Lösung und schaffen es rechtzeitig hinaus. Danach gehen sie erschöpft, aber beschwingt in ein Pub. Dort treffen sie eine gemeinsame Bekannte, die von nichts wissen darf. Dann gehen sie heim und machen dort weiter, wo sie miteinander aufgehört haben.
*
Grausamkeit als letztmögliche Form der Zuneigung. Und mit dem Einstecken der Schläge, dem Aufreißen der Hautstellen, wird plötzlich klar, wie unverwundbar man früher einmal gewesen ist. Das Höchste der Gefühle: Ein gedankenlanges Zögern des Fingers am Abzug.

Sie waren einen Hund lang zusammen.

Wie gerührt man sofort ist, bloß weil zwei Leute sich in Gebärdensprache miteinander unterhalten.

Ich gehe in ein Fastfoodrestaurant in der Innenstadt. Einmal sah ich hier nachts einen sozialdemokratischen Jungpolitiker. Er saß gegenüber einer auffällig tätowierten Frau gleichen Alters in einer der gemütlichen Polsternischen. Mit Lust biss er in seinen Burger. Am Vortag war er frisch als Nationalratsabgeordneter angelobt worden. Jetzt hätte er mit Sicherheit auch bei einem exklusiven Parlamentsempfang sein können. In letzter Zeit war er viel in den Medien gewesen, da er sich nach der Wahlniederlage mit der Parteispitze angelegt hatte. Ich wollte ihm sagen, dass er richtig liege, ließ es jedoch bleiben, denn er sollte in Ruhe essen. Seine Begleitung hatte ein Tattoo, das rankend ihren Arm verschlang.

Das beste Argument für Atomkraft sind ihre Gegner.

Dreimal die Woche führt mein Büroweg am Schottenring über die Donau. Gern blicke ich von der Brücke hinunter auf den weltbekannten Club mit Außenareal. Wie all die anderen ist auch er während der seltsamen Zeiten ins Straucheln geraten, der Programmkalender noch für Wochen leergefegt. Ich verbinde ihn mit Konzerten, abenteuerlichen Nächten und seltsamen Begegnungen. Einmal wurden mir die Ohrenstöpsel aus der abgelegten Jacke gestohlen.
Ein anderes Mal saß ich mit gekreuzten Beinen auf der Couch, um die Nacht zu schreiben. Eine Art Punk marschierte herein, in Lederkluft, mit dreistem Haar. Er starrte mich an, als wäre ich ein völlig anderer als ich vorgab zu sein – wahrscheinlich hatte er Recht. Eingeschüchtert hielt ich inne. Vielleicht erkannte er in mir auch jemanden, den er doch eigentlich niemals hatte wiedersehen wollen – auch das soll ihm zugestanden sein. Er schüttelte vorwurfsvoll den Kopf. Nach dem Motto: Kannst du es also schon wieder nicht lassen! Dann ging er fort zu seinen lauten Freunden. Nach dieser Begegnung war ich erschöpft, und für Minuten zerfressen von schlechtem Gewissen, das weder Grund noch Sinn hatte. Dann rückte ich mich zurecht und schrieb weiter, schrieb plötzlich gegen etwas an.

In den winzigen unkontrollierten Muskelzuckungen des Frauengesichts erkenne ich Anzeichen einer beginnenden Geisteskrankheit. Ein paar normale Jahre hast du noch, denkt der Garstige in mir.

Theaterarbeit
Schauspieler sind Kinder, Verrückte oder beides.
Sänger waren krank oder sind es bald wieder.
Regisseure halten begeistert den Wahnsinn zusammen.

Eine Autorenbiographie am Schutzumschlag: „Georg Trakl wurde 1887 in Salzburg geboren. Nach mehreren gescheiterten Versuchen brach er 1905 die Schule ab und wendete sich vermehrt seinem literarischen Schaffen zu.“ Der stiller Triumph, ihm etwas vorauszuhaben – denn mir ist es bereits beim ersten Versuch gelungen.
*
Meine Entscheidung, die Schule abzubrechen, fiel mitten in der Nacht. Ich konnte nicht schlafen und quälte mich durch mögliche Zukunftsszenarien, eines grauer als das nächste. (In Wahrheit erlaubte ich mir gar nicht erst, bestimmte Abzweigungen ins Reine zu denken.) Dann, als ich wusste, was zu tun war, da wurde mir ganz leicht. Ich brauchte mich auch nicht mehr im Bett zu wälzen, aus Sorge, am morgigen Schultag auch ja ausgeruht zu sein. Stattdessen stand ich auf – vielleicht so gegen zwei Uhr Früh –, machte mir einen Tee und las Zeitung. Es war die Erleichterung, sich etwas eingestanden zu haben. Ich saß in unserer Küche am marmornen Kaffeehaustisch, schlüfte meinen bitteren Tee, blätterte die Zeitung um, und war vorübergehend mit mir einverstanden.

Wo alle mutig sind, beweist der Ängstliche den größten Mut. (Also sprach der Dorf-Feigling.)

Jeder neue Laptop ist ein Wunder. Er bringt Ordnung ins Chaos. Endlich laufen die Spiele, auf die man sich seit Jahren freut. Für Tage versinke ich in einem Action-Rollenspiel mit komplexer Charakterentwicklung. Ich ballere und schleiche, knacke Schlösser, modifiziere und repariere die von mir mitgeführten Waffen, verwalte gewissenhaft mein Inventar. Ich nehme alle Quests an und klappere die Zielorte an, sie zu erledigen. Ich nehme alle companions in meine Crew auf und klicke mich durch die Gespräche mit ihnen. Ich stelle alle Fragen, um alle Antworten zu erhalten. Keine Dialogoption soll mir verborgen sein.
Beim Aufleveln verteile ich viele Erfahrungspunkte in Dialog-Skills, um Gesprächspartner möglichst oft einschüchtern und überreden zu können. Die englische Sprachausgabe ist äußerst gelungen. So spiele ich entkoppelt von der Wirklichkeit, erlebe ein immersives Abenteuer, reise mit meinem unzuverlässlichen Raumschiff zu Planeten und Raumstationen, töte Feinde und treffe schwerwiegende Entscheidungen, die für den Weiterverlauf der Story relevant sind. Daneben vernachlässige ich die täglichen Verrichtungen. Das ist herrlich und bleibt mein Geheimnis, niemand darf es erfahren. Wenn alles vorbei ist, werde ich spielen.

Es wird gemutmaßt, Bettschlaf sei erholsamer als Couchschlaf.

Ich fasse jemandem mein langes Jahr zusammen, erzähle von Irrungen und Wirrungen, die mich ziemlich durchgerüttelt haben. Ich erwarte mir Trost, verbale Streicheleinheiten. Jemand klatscht freudig in die Hände. Toll, ruft jemand begeistert aus, das ist ja perfekt für deine Arbeit, so viel durchzumachen. Ich stimme jemandem grundsätzlich zu, gebe aber vorsichtig zu bedenken, dass mir einiges davon hätte erspart bleiben können. Damit nehme ich jemandes Begeisterung über meinen Kummer ein bisschen den Wind aus den Segeln.

Pendeln zwischen Einsamkeitsdrang und Geselligkeitssucht – eines als Erholung vom anderen. Wie lautet eine originelle Bezeichnung für diese unentschiedene Lebensbewegung? Mensch.

Ich singe darüber – so erst findet es statt.

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95 Freitag, 19.06.2020

Ich erinnere mich.

Ich erinnere mich an den Podcast der New York Times vom siebenundzwanzigsten Februar, in dem der Wissenschafts- und Gesundheitsreporter Donald G. McNeil Jr. sagte: I spend a lot of time thinking about whether I’m being too alarmist or whether I’m being not alarmist enough. And this is alarmist, but I think right now, it’s justified. This one reminds me of what I have read about the 1918 Spanish influenza.
Es war das erste Mal, dass ich stutzig wurde und mir die Möglichkeit einer globalen Pandemie ins Bewusstsein trat. Ich saß nachmittags in einem Innsbrucker Hotelzimmer und hörte einem erfahrenen und kompetenten Journalisten zu, der vorsichtige Parallelen zur Spanischen Grippe zog. Too alarmist oder not alarmist enough – zwischen diesen beiden Polen würden sich die kommenden Entscheidungen und Maßnahmen bewegen, genauso wie unsere Diskussionen. Zukunftsbilder bauten sich vor mir auf. Er wolle nun wirklich kein Alarmist sein, wiederholte McNeil mehrmals, doch er müsse der Sache ganz nüchtern einen gewissen Ernst attestieren, der manche vielleicht überraschen mag.
*
Am späteren Abend, nach einer erfreulichen Veranstaltung, bei der noch weitgehend normal begrüßt und verabschiedet wurde, las ich mir den Eintrag zur Spanischen Grippe der Freien Enzyklopädie in voller Länge durch. Die gebündelten Informationen versetzten mich in einige Unruhe. In der Chatgruppe mit Anwalts-Freund und Arzt-Freund machte ich mich darüber lustig. (Die Gruppe trägt den Titel Geschmackssichere Witze, und ausschließlich dafür ist hier Platz, anders als in der Vorgängergruppe namens Geschmacklose Witze, in der wiederum ausschließlich dafür Platz gewesen ist.)
Ich erinnere mich, in Anlehnung an Donald G. McNeil Jr. ebenfalls launige Vergleiche mit der Spanischen Grippe gezogen zu haben, vor allem in Bezug auf die berüchtigte zweite Welle, mit der wir es im Herbst oder Winter zu tun haben könnten. Diese sei es dann, schrieb ich, die uns natzen werde. Auch deshalb, weil wir in Europa vorerst recht glimpflich davonkommen, und in weiterer Folge die Gefährlichkeit der Krankheit verhängnisvoll unterschätzen würden. Ich schickte meinen Freunden Screenshots von Statistik-Updates der Johns Hopkins University (viele sagen fälschlich John Hopkins, was naheliegender wäre), und machte mich gleichzeitig mit bissigem Sarkasmus lustig über die eigene Panikmache. In dieser Nacht schlief ich schlecht.
*
Jetzt erleben wir das Abklingen eines Infektionsgeschehens, auf das wir längst keine Lust mehr haben. Eigentlich ist es das: Wir haben keine Lust mehr darauf. Es interessiert uns nicht mehr. Wir glauben, dass die Pandemie vorbei ist, weil sie hierzulande vorbei ist. Andere Weltteile scheinen so weit entfernt wie sie sind. Es interessiert uns nicht mehr, und wahrscheinlich haben wir Recht. Vielleicht ist uns alles viel egaler, als es uns geworden sein sollte. And this is alarmist, but I think right now, it’s justified.
Auch ich selbst habe keine Lust mehr, mich noch weiter mit dem Virus und seinen Auswirkungen auf unser Leben zu befassen. Corona hängt mir zum Hals heraus. Niemand soll mir mehr davon erzählen. Wer mich auf etwas hinweist, dem werfe ich es vor. Der Virus braucht keinen neuen Aspekt. Ich habe dazu nichts mehr zu sagen und werde die nächsten Tage damit verbringen, für das Narrativ einen würdigen Abschluss zu finden. Sollte es eine zweite Welle geben, wie von manchen prophezeiht, dann darf sie uns ruhig überrollen. Es interessiert mich nicht mehr.

Ich erinnere mich an drei mögliche Katastrophenszenarien vom siebenundzwanzigsten Februar.
Erstens: Der Bus legt sich allzu sehr in die Kurve, und der Suppentopf kippt um. Man stelle sich vor, die ganze schöne Suppe ergießt sich über den Boden, die Leute treten mit ihren Schuhen hinein. Deshalb ist es wichtig, den Topf gut zu befestigen und ihn zusätzlich festzuhalten.
Zweitens: Beim Hochtragen des Topfes in den zehnten Stock rutscht man aus und fällt hin, der Inhalt ergießt sich über den Gang. Das wäre umso bedauerlicher, da man doch bereits am Ziel war, und den schweren Suppentopf mühsam bis ganz hinauf befördert hat an seinen eigentlichen Bestimmungsort.
Drittens: Die Suppe wird schlicht und einfach zu Hause vergessen. Man macht sich auf den Weg, fährt mit dem Bus – der sich nicht allzu sehr in die Kurve legt –, man stapft festen Schrittes bis hinauf in den zehnten Stock – wo man nicht ausrutscht –, bemerkt dann jedoch direkt nach seiner Ankunft, dass man den eigentlichen Grund seines Hierseins nicht mit sich trägt – die Suppe. Man steht mit leeren Händen da und guckt dumm aus der Wäsche. Wieder umzukehren und die vergessene Suppe zu holen, das zahlt sich kaum mehr aus. Es bleibt einem also nichts anderes übrig, als mit leeren Händen dazustehen und betreten den Kopf zu schütteln. Für Trost sorgen verständnisvolle Mitmenschen und das eine oder andere Bier. Man schämt sich für seine Vergesslichkeit. Eine absolute Horrorvorstellung, unbekümmert suppenlos im sanften Bus zu stehen.
Ich erinnere mich, dass glücklicherweise keines dieser drei möglichen Katastrophenszenarien eingetreten und die Suppe wohlbehalten im zehnten Stock angekommen ist. Sie hat gut geschmeckt.

Ich erinnere mich an eine Privataudienz im Innsbrucker Brenner-Archiv am achtundzwanzigsten Februar. Die wertvollsten Schätze lagerten in einem bulligen Safe. Die Briefe Wittgensteins waren überraschend lesbar. Trakl schrieb mit hauchzartem Bleistiftstrich, wie gedruckt. Welch schöne Handschriften die Leute damals hatten. In hundert Jahren wird es über unsere Generation einmal heißen: Schaut, damals haben die Leute manchmal noch mit der Hand geschrieben, wie niedlich! Rilke hat in seinen Briefen Gedichte verschickt. Da war Dichten noch etwas. Schwer lastet die Gegenwart von Karl Kraus in den hellen Räumen, der so streng schaut, dass man mithalten will.
*
Die Archivarin griff das Papier mit bloßen Händen an, was mich sofort erschreckte. Schweißbildung auf Fingerkuppe, dachte ich. Doch dieser Umgang sei der aktuellste Stand der Forschung. Ihre berühmten weißen Stoffhandschuhe würden die Mitarbeiter nur überstreifen, wenn das Fernsehen da sei. Dann spiele man Archiv. Auf lange Sicht könne die Haut für das Material schonender sein. Ich würde mich niemals trauen, eines dieser kostbaren Papiere auch nur flüchtig mit halbem Finger zu berühren. Beigelegte Fotos waren ausschließlich in Papierhüllen verstaut, denn Plastikfolien würden gerade der Bleistiftschrift arg zusetzen. Wir befanden uns im zehnten Stock, damit sei alles absolut hochwassersicher. Und vor Feuer schütze der Safe. Auch diese Menschen haben gelebt, dachte ich, und auch sie haben geschrieben. Ich erinnere mich, dass auch sie gestorben sind.

Ich erinnere mich an das Radio-Interview des Gesundheitsministers am ersten März. Bei einem Frühstück plauderte er locker über Topfpflanzen und seinen grünen Daumen, auch über seinen lieben Hund, der sich gut mit der Katze vertrage. Sein psychischer Zusammenbruch wegen Überarbeitung einige Jahre zuvor wurde ebenfalls behandelt, und welche Schlüsse er für sich persönlich daraus gezogen habe. Es fiel das Wort Kraftort. (Dieses Wort sollte verboten worden. Wenn noch einmal jemand Kraftort sagt, gibt es Tote.) Der Virus kam am Rande vor. Wir sollten uns wappnen für den Ernstfall, der Minister sei jedoch zuversichtlich, dass es keine massiven Einschränkungen wie Geschäftsschließungen geben werde. Bald ging es im Interview wieder um Pflanzen und Tiere.
*
Ich erinnere mich, in der Küche beim Abwasch gestanden zu sein und den Gesundheitsminister nicht gemocht zu haben. Wir befanden uns am Beginn der Pandemie. Ich erinnere mich, höchst irritiert darüber gewesen zu sein, nur Tage zuvor in einem amerikanischen Podcast ganz andere Einschätzungen gehört zu haben. Da wurden ganz andere Töne angeschlagen, nämlich ernstere. Die Frühstücksfrau interessierte sich mehr für softe Themen wie Sinn des Lebens, Glück in der Liebe und eben Kraftorte. Schwierige Dinge sind anstrengend. Ich erinnere mich, mir gedacht zu haben, dass wir den Amerikanern ein paar Tage hinterherhinken. Das ist halt die New York Times, dachte ich. Während sie dort erste Studien aus China analysieren, wird bei uns der grüne Daumen des zuständigen Ministers in den Mittelpunkt gestellt. Beides ur interessant.

Ich erinnere mich an den Sandler im Park neben der Kirche auf einer Bank in Wien. Es war der dritte März. Ich saß ein paar Bänke weiter. Der Sandler teilte sich eine Flasche mit seinem Kollegen. Immer wieder musste er unterbrechen, weil ihm ein Hustenanfall dazwischenkam. Der Sandler war stark übergewichtig und saß da mit hochrotem Kopf. Er hustete massiv. Ich erinnere mich, mir dieses Wort gedacht zu haben. Seinen Kopf nannte ich einen Luftballon kurz vorm Platzen. Er hustete immer weiter, und immer heftiger, dass er sich nicht mehr sinnvoll am Gespräch beteiligen konnte. Sein Kollege stand auf und entfernte sich, die Flasche nahm er mit. Anstatt sich zu verabschieden, nickte der hustende Sandler zum Abschied. Er holte keuchend Luft, dann ging es wieder los. Ein waschechter, ungustiöser, feucht schmatzender Hustenanfall, dachte ich und wärmte meine Bank.
*
Langsam machte ich mir Sorgen. Es war kein Ende in Sicht, irgendwann würde der Kopf des Sandlers tatsächlich so rot werden, dass er platzte, oder er bekam keine Luft mehr, kippte von der Bank und brach auf dem Kirchenvorplatz zusammen. Irgendjemand würde dann herbeieilen und ihn beatmen müssen (Mund zu Mund), oder sogar wiederbeleben, sollte sich der Anfall in einen Herzinfarkt steigern. Das wollte ich mir ersparen. Mir grauste vor den schrundigen Lippen des Sandlers. Seine Alkoholfahne wehte bis zu mir in mein Gesicht. Bei meinem Ekel spielte nicht zuletzt die propagierte Ansteckungsgefahr eine Rolle.
Ich musste dringend Distanz herstellen, um nicht derjenige zu sein, der am wenigsten weit von ihm entfernt war, wenn der Moment des Zusammenbruchs kam. Er hustete. Ich sah ihn schon wie einen Sack Zement nach vorn kippen und regungslos am Kirchenvorplatz liegen. Er holte Luft. Ich nicht, dachte ich. Er hustete. Ich werde nicht derjenige sein, der deine Halspartie freimacht, meine Lippen deinen Lippen aufpfropft und dir rettenden Atem einstößt. Er holte Luft. Ich sicher nicht. Er hustete. Ich packte meine Sachen und spazierte weiter. Den Sandler ließ ich mit seinem Husten allein.

Ich erinnere mich an das letzte unbeschwerte Wochenende vor dem großen Lockdown im Burgenland vom sechsten bis zum achten März, eine Literaturveranstaltung mit mir bisher unbekannten Kollegen, deren Werke mich allesamt fesselten und überzeugten. Corona war bereits angekommen, im letzten verbleibenden Bundesland genauso wie in unseren Köpfen. Wir scherzten darüber und gaben uns die Hand. Auf der Hinfahrt notierte ich: Sich verteilen in einer spärlichen Landschaft, die rein aus Vergangenem besteht.
Bissige Altnotiz aus dem Burgenlandbus (mit der Überheblichkeit des flammenden Städters): Wenn jetzt plötzlich der Virus ausbricht und die Hälfte der Bevölkerung ausstirbt, dann wäre es hier auch nicht ausgestorbener als davor.
Der Bus rumpelte mich voran. Bei den jeweiligen Stationen wurde nur dann stehengeblieben, wenn man rechtzeitig den Halteknopf drückte, jedoch gab es weder Durchsagen noch eine Anzeige, nicht einmal einen vergilbten Aushang mit veralteten Zeiten. Diese Abwesenheit von Hilfestellungen legte einem nahe, Kontakt zu den einheimischen Passagieren zu knüpfen oder jedenfalls einen kleinen Plausch mit dem Fahrer zu starten; sie forderte einen heraus, den Blick aus dem Smartphone in die Landschaft zu heben, und weiterzulenken ins Innere des Busses, um sich einen ungefähren Eindruck der anderen und ihrer Hilfsbereitschaft zu machen. So kam man ins Reden. Ich fragte einen Mann um Rat, und er half mir. Nach dem Aussteigen wartete ein Fußmarsch von ein paar Kilometern auf mich. Den Rollkoffer im Schlepptau bewegte ich mich zielsicher voran.
*
Bereits ein paar hundert Meter von der Erlebnistherme hörte man das feierliche Jauchzen der Kinder, wie sie die angeblich längste Virtual Reality Wasserrutsche der Welt hinunterprasselten. Eine zelebrierte Ausgelassenheit, die man von Erwachsenen im nüchternen Zustand gar nicht kennt.
Ich checkte ein, versorgte meine Sachen und wunderte mich zum ersten Mal überhaupt, dass Hotelzimmer gleich neben der Eingangstür einen (oft mit Aufkleber auch explizit so bezeichneten) Hauptschalter zum Aktivieren des Stromkreises haben. Wie in einer Fertigungshalle, dachte ich.
Die Lesungen und musikalischen Beiträge waren von hervorragender Qualität, auch die Verpflegung. Die Gastfreundschaft der Gastgeber suchte ihresgleichen. Nach dichtem Programm stellte sich im Seminarraum des burgenländischen Thermenhotels eine wohlige Nachmittagsmüdigkeit ein, die nur von mehreren Tassen starken Kaffees halbwegs in Schach gehalten werden konnte. Die überschlagenen Beine waren längst eingeschlafen. Ich erinnere mich, niemals ein besseres Gefühl gekannt zu haben.

Ich erinnere mich – ist es nicht der älteste Trick des Schreibenden, einen Satz mit ich erinnere mich anzufangen? Irgendetwas wird daraus schon entstehen, an irgendetwas wird man sich ja wohl erinnern, ob man will oder nicht. Und irgendetwas wird darauf folgen, womöglich eine andere Erinnerung. Irgendjemand wird darin zum Vorschein kommen, dessen Stimme man noch im Ohr hat. Irgendein Bild wird auftauchen und wieder verschwinden. Ein Erinnerungsbuch mit Abschnitten, die jeweils mit genau dieser Eingangsphrase beginnen, gibt es sicher längst. Das könnte ewig gehen. Ich erinnere mich, dass ich mir alles merken wollte, um mich später daran erinnern zu können. Manches ist noch da, anderes verschwunden.

Ich habe mich erinnert.

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94 Donnerstag 18.06.2020

Auch das Rembrandtstraßenland ist ein Ungargassenland.

Die Verpeiltheit in Person
Ich kenne einen, der ist die Verpeiltheit in Person. Gibt es eine klare Ansage, wo genau sich ein Treffpunkt befindet und wann man sich dorthin zu begeben hat, so kann man sicher sein, dass die Verpeiltheit in Person sofort nach Ende der Erklärung Fragen stellen wird, die exakt auf die eben genannten Details abzielen. Wo sollen wir uns treffen?, wird die Verpeiltheit in Person fragen, und wann genau? Augenbrauen werden gehoben.
In der Gruppe gewöhnt man sich sehr schnell an das Gebaren der Verpeiltheit in Person. Zuerst denken manche, es sei nur eine Show, um ein Herausstellungsmerkmal zu kultivieren, dass also die Verpeiltheit in Person sich bewusst von den anderen unterscheiden, sich sogar abheben will, doch mit der Zeit begreifen alle, dass es der Verpeiltheit in Person nicht darum geht, sich krampfhaft interessant zu machen, sondern dass sie eben einfach so ist, wie sie ist: Die hängenden Schultern, die groß fragenden Augen, die ungebügelten Hemden, die vertrackten Haare, die Schlurfschritte ins Nichts sind echt, auch die kaugummikauenden Nuschelsätze, mit denen sie sich uns mitteilt.
*
Die Verpeiltheit in Person macht es einem nicht leicht. Und wir schließen sie ins Herz. Mehr noch: Wir wechseln uns damit ab, auf sie achtzugeben. In der Gruppe herrscht das unausgesprochene Einverständnis, dass der Verpeiltheit in Person nichts zustoßen darf, bald ist sie sozusagen unser Maskottchen. Wir müssen sie verteidigen gegen die harten Fakten der Wirklichkeit. Rasch ist es unsere Verpeiltheit in Person, und keinem Außenstehenden wollen wir erlauben, über sie zu urteilen oder gar sich über sie lustigzumachen. Es darf nicht sein.
Plustert sich die Welt unschön auf vor der Verpeiltheit in Person, dann gehen wir dazwischen und sorgen dafür, dass wir die Ohrfeige abkriegen. Nichts und niemand darf unserer Verpeiltheit in Person auch nur ein Haar krümmen, denn wir empfinden eine verwandtschaftliche Nähe zu ihr, vielleicht weil wir uns zu gewissen Teilen in ihr erkennen. Schließlich sind wir in der Gruppe alle manchmal ein bisschen verpeilt – wer ist das nicht? Die einen sind es mehr, die anderen weniger, und oft sind wir es sehr viel öfter, als wir vor uns selbst oder vor den Menschen einzugestehen bereit sind.
*
Anders als die Verpeiltheit in Person reißen wir uns zusammen, hören aufmerksam zu, wenn man uns etwas Wichtiges erzählt, wir notieren uns Telefonnummern und richten Leuten etwas aus, wir stecken den Einkaufszettel ein und begleichen rechtzeitig unsere Rechnungen. Wir organisieren unseren Alltag und führen mit Bleistift Kalender. Die Verpeiltheit in Person wiederum muss man ständig an alles erinnern, ihr Dinge nachtragen. Sie ist nicht in der Lage, für sich selbst Verantwortung zu übernehmen, geschweige denn für jemand anderes. Mir vorzustellen, dass die Verpeiltheit in Person womöglich einmal ein Kind haben wird, für das zu sorgen ihre Aufgabe wäre, lässt mich unbehaglich schmunzeln.
*
Ich kenne also einen, der ist die Verpeiltheit in Person. Eine Unbekümmertheit geht von ihm aus, und jene Unschuld, die man partout in sich zu erhalten versucht, die aber – wenn man ehrlich ist – im Laufe der Jahre vertrocknet und verkümmert und sich verflüchtigt. Wir beneiden die Verpeiltheit in Person. Ach, denke ich, du mit deinem Gang und deinem Blick und deiner Haltung. Du, denke ich sanft und mit einer gewissen Wehmut, weil die Verpeiltheit in Person aus einer Zeit stammt, die es wohl nie gegeben hat. Er gähnt. Alles an ihm strahlt Verpeiltheit aus, immer ist er gerade erst aufgestanden. Wie spät ist es denn?, fragt mich die Verpeiltheit in Person. Und ich schaue auf die Uhr.

Kleinmädchenblues an der Supermarktkassa: Mami, ich hab Hunger, mir ist kalt und ich muss aufs Klo!

In Peking feierte man 70 Jahre Volksrepublik China mit einer imposanten Militärparade, bei der die teilnehmenden Soldaten Windeln tragen mussten, um auszuschließen, dass einer die Formation verlassen und seine Notdurft verrichten musste.
*
In Japan entschuldigte sich der Vorstand einer Zuggesellschaft für eine um fünfundzwanzig Sekunden verfrühte Abfahrt. (Das erschließt sich mir durchaus: seinen Zug knapp zu verpassen, ist wesentlich lästiger als mit Verspätung abzufahren.)
*
Auch im privaten Bereich ist zu früh kommen bekanntlich viel schlimmer als zu spät kommen: Womöglich sitzt der Gastgeber noch seelenruhig am Klo. Nachdem alles erledigt ist – der Tisch gedeckt, der Wein gekühlt, die Sitzkissen flachgeklopft – gönnt sich der Arme ein paar Minuten des Innehaltens vor der angenehmen Aufregung eines stimmigen Empfangs. Lassen wir sie ihm doch.
*
Wer eine Verspätung ankündigt, muss auf ihr beharren. (Die Ankündigung hat wohlgemerkt rechtzeitig zu erfolgen.) Angenommen, man hat ausgemacht, einen Bekannten um zwanzig Uhr abzuholen, bemerkt jedoch, dass es womöglich knapp werden könnte und verschiebt die Abholung höflichkeitshalber auf zwanzig Uhr fünfzehn – so lautet nun die neue ausgemachte Zeit. Angenommen, man beeilt sich und schafft es nun doch bereits um Punkt zwanzig Uhr vor die Haustür des Bekannten – man darf nicht läuten. Der Bekannte hat sich auf die Verspätung eingestellt. Vielleicht putzt er noch rasch die Zähne oder löffelt eine Schüssel Cornflakes – alles legitime Verrichtungen, die zu unterbrechen man kein Recht hat.
Wer entgegen aller Annahmen, sich selbst überholt und die angekündigte Verspätung abfängt, also im ursprünglich rechtzeitigen Moment auftaucht, muss warten und eine Runde um den Häuserblock drehen. Erst um zwanzig Uhr fünfzehn – keine Minute früher oder später – läutet er die Glocke des Bekannten. So ist mit einer angekündigten Verspätung zu verfahren. Wer dringend auf die Toilette muss, kann ja zur Sicherheit eine Windel anziehen wie ein braver chinesischer Soldat.

Wie rechthaberisch ich heute wieder bin – herrlich! (Wenn man Recht hat, ist nicht rechthaberisch sein halt schwer.)

Die Gesellschaftskritik
Sie würde es tun. Und wenn sie es getan hatte, dann würde es kein Zurück mehr geben für die Welt, dann wäre der Reset-Knopf gedrückt, konnte alles von Null beginnen. Ob die Menschen es ihr danken würden? Manche bestimmt. Jene nämlich, die nicht profitierten vom System, sondern die zwischen seine Räder geraten waren und keine Aussicht auf eine Veränderung hatten. Die Hackerin klopfte ein paar Codezeilen in die Tastatur. Ihre Form der Kritik bestand darin, etwas in die Luft zu sprengen.
Jahrelang hatte sie an ihrem Plan gefeilt, ihn ausgetüftelt bis ins letzte Detail. Alle Firewalls waren überklettert oder untertunnelt, alle Sicherheitslücken zur Gänze ausgenutzt. Unbemerkt von den teuren Experten hatte sie ihre Sprengkörper hinterlegt, sie wie Dominosteine aufgestellt, sodass mit einem Handstreich einer den anderen auslösen konnte. Die Welt war einen Tastendruck vom Neuanfang entfernt.
*
Die Hackerin knackte mit den Fingern und stellte sich genüsslich eine Zukunft vor, in der es gerechter zuging als heute. Jede Geburt war mit Schmerzen verbunden. Das globale Finanzsystem würde zusammenbrechen, unser Bankenwesen zu existieren aufhören. Alle Schulden würden getilgt sein, Währungen zu haltlosen Behauptungen werden. Und was kam dann? Die Hackerin wusste es nicht. Und wie gut tat es, die eigene Geschichte selbst fortzusetzen.
Sie schaute hinaus in den späten Nachmittag eines müden Donnerstag. Kein Mensch war unterwegs. Ihr Mittelfinger ruhte auf der Enter-Taste. Schade fand sie nur, wie leicht man es ihr gemacht hatte. Ein bisschen herausfordernder hätte die Umsetzung ihres Plans schon ausfallen dürfen. Die Hackerin gefiel sich. Das war ihr Moment. Die Zeit blieb stehen. Danke, Welt – war schön mit dir. Enter. Reset.

Titel einer Rede zu einem gewichtigen Anlass: Vom Wagnis, man selbst zu sein.

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93 Mittwoch, 17.06.2020

Amerikanische Comedy läuft zur Höchstform auf. Die Late Night Shows werden nach wie vor bei den Moderatoren zu Hause aufgenommen. Einen sah man anfangs gut gelaunt in der Badewanne sitzen. Einer steht immer im Garten vor Bäumen. Einer produziert in seinem Wohnzimmer, ein anderer in einem leergeräumten Dachbodenzimmer. Die zugeschaltenen Prominenten sind ebenfalls zu Hause, Interviews oft unscharf, verwackelt und abgehackt. Doch das macht nichts, die Nation rückt zusammen.
Late Night Hosts sind prägende Figuren der amerikanischen Gesellschaft, die nicht nur die Geschehnisse des vergangenen Tages in verdichteten Pointen zusammenfassen, sondern die gerade bei der jüngeren Generation zur politischen Meinungsbildung beitragen, über komplexe Vorgänge sehr verständlich und in lockerem Ton informieren und Debatten anstoßen oder weitertragen. (Im deutschsprachigen Raum können wir von so etwas nur träumen; unsere Humorkultur ist irgendwo in der Nachkriegszeit steckengeblieben – mit seltenen Sternstunden, die umso heller strahlen. Bei uns wäre es unvorstellbar, dass ein professioneller Spaßmacher oder die Moderatoren einer spätabendlichen Unterhaltungsshow die Masken fallenlassen, in ruhigem Ton mit ihrer eigenen Stimme in die Kamera sprechen und sagen, dass es um etwas geht.)
Viele behalten ihre Shows über Jahrzehnte, werden zu menschlichen Einrichtungsgegenständen in den Wohnzimmern der Seher. Klickt man sich durch die Datenbanken, sind oft tausende Folgen aufgelistet. Das ist beeindruckend. Verlässlichkeit schafft Zuneigung; Unterhaltung bedeutet auch Routine. The Show Must Go On.
*
Es gibt den Moment, wo selbst der Late Night Host den Ernst der Lage anerkennt und keinen Hehl daraus macht, dass hier der Humor an seine Grenzen stößt. Er richtet sich direkt an sein Publikum –, gefühlt an die Nation –, und spricht ein paar ermutigende Worte, spendet Trost in schwierigen Zeiten. Bitteres Lachen aus Trotz. Selbst nach den Terroranschlägen des elften September wurde ausgestrahlt. Im wöchentlich produzierten Sketch-Comedy-Urgestein Saturday Night Live standen Vertreter der Einsatzkräfte zur stummen Parade, Feuerwehrmänner und Polizisten, denen für ihren unermüdlichen Einsatz Respekt gezollt wurde – live from New York. Im Hintergrund flattern gern Sterne und Streifen. Wenn die Amerikaner etwas können, dann ist es Pathos.
Wo gestorben wird, vergeht einem das Lachen. Nach kurzem Innehalten darf es weitergehen, weil es weitergehen muss. Auch jetzt, in unruhigen Zeiten mit weit über hunderttausend Todesfällen, die dem Virus zugeschrieben werden (Tendenz steigend), und einem psychisch kranken Präsidenten, dessen Niedertracht kein Maß kennt und der sein Volk nur immer weiter spaltet, witzeln die Late Night Shows gegen die Wirklichkeit an, stemmen sich mit aller Kraft dagegen. Die heilende Wirkung ernsten Humors.

Gute Witze schlecht erzählen oder schlechte Witze gut erzählen – was ist besser? Gute Witze schlecht erzählen. Gut erzählen kann sie später dann ja immer noch jemand anderes.

Unerbittlicher Begriff: Haushaltsübertragungsstudie

Gruppenchat zum Ausmachen eines Treffens.
Arzt-Freund: (Diese Nachricht wurde gelöscht.)
Anwalts-Freund: (schreibt…)
Arzt-Freund: (Bild einer Nackten in einer Badewanne voller Spaghetti.)
Anwalts-Freund: (schreibt…)
Arzt-Freund: du kannst nicht ewig was schreiben, und es dann nicht abschicken!
Anwalts-Freund: (schreibt…)
Arzt-Freund: (Pistolengebärde)
Anwalts-Freund: (schreibt…)
Arzt-Freund: (Thumbs up)
Anwalts-Freund: Seit meine Wortspenden zu so hohen Preisen verrechnet werden, lasse ich mir besonders viel Zeit.

Wer schon zu blöd fürs Leben ist, darf nicht auch noch wehleidig sein.

Die seltsamen Zeiten bedeuten in vielerlei Hinsicht eine Erstarrung. Das Vorhandene wird in seiner bestehenden Form festgezurrt, das Bekannte einzementiert. Man sieht keine neuen Strömungen entstehen oder den Durchbruch einer unbekannten Idee, die abseits von der Beschäftigung mit dem Virus stattfindet. Medien sind thematisch verstopft. Kaum etwas löst sich vom Grund und strebt an die Oberfläche der Wahrnehmung. Bei Einzelpersonen geschieht keine Statusverschiebung. Für all das kann nur eine Vorarbeit geleistet werden, eine Anstrengung, die sich zu einem späteren Zeitpunkt einlösen wird.
*
Die Menschen sind müde. Unsere Köpfe hängen matt von schweren Körpern. Wir haben keine Lust auf allzu fordernde intellektuelle Verrenkungen. Woher sollte die Energie dafür auch kommen? Welche geheime Reserve könnten wir guten Gewissens anzapfen? Für Wochen und Monate mussten wir reagieren auf Eindrücke und Bilder, mussten Stellung beziehen zu Regelungen und Maßnahmen. Zu allem sollte man eine Meinung haben, sich zustimmend oder ablehnend positionieren. Wer Zeit hat, kann philosophische oder moralische Überlegungen anstellen. Das laugt aus. Es gilt, einen sich ständig verändernden Alltag zu organisieren. Feinjustierung der Seelen. Wann darf man ans Meer?
Die Aufnahmefähigkeit der Gesellschaft ist begrenzt, und die Sinne zeigen starke Ermüdungserscheinungen. Wir ziehen uns zurück an vertraute Orte, und wollen umgeben sein mit dem, was wir kennen. Anlächeln sollen uns bekannte Gesichter. Wir hören alte Stimmen. Bald darf man ans Meer.

Ich komme aus einer möglichen Zukunft. Schön hättet ihr es hier!

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92 Dienstag, 16.06.2020

Das Ausbleiben der Katastrophe (Eine mögliche Geschichte)

Wir haben uns die Katastrophe vorgestellt, uns ausgemalt, wie es sein würde, wenn sie eintritt. Jetzt scheint es so weit zu sein, und wir sind überrascht. Das haben wir nicht gewollt. Es war ein Spiel, weil es unabsehbar war, dass der Ernstfall tatsächlich eintreten würde.
Wir sprechen darüber. Alle sprechen darüber. Es wird jetzt über nichts anderes mehr gesprochen. Und jeder weiß es besser als der andere. Jeder hat den neuesten Informationshappen aufgeschnappt, um ihn weiterzutragen. Halbwissen macht die Runde, Gerüchte sind im Umlauf.
Wir wollen die Wahrheit hören. (Wollen wir das?) Wir können sie ertragen. (Können wir das?) Wir möchten hören, wie schlimm es um uns steht. Wie lange wird es dauern? Wie viele wird es treffen? Wird jeder Mensch jemanden kennen, der betroffen ist? Ja, jeder wird jemanden kennen.
Wir verbunkern uns in unserer Angst. Die Angst ist unsere Heimat, unser Haus. Die Angst ist in unserem Kopf. Also ist unser Kopf unsere Heimat, und unser Kopf ist unser Haus. Irgendwie ergibt das Sinn.
*
Die Menschen gehen auf Distanz. Auf den Straßen bewegen sie sich in geraden Linien. Eine angenehme Veränderung. Das macht die Dinge einfacher. Es herrscht die neue Achtsamkeit. Wir sitzen alle im selben Boot. In den sozialen Medien macht sich Panik breit. Vor allem junge Mütter, oder vielmehr die Mütter von kleinen Kindern, teilen ihre Angst mit der Welt. Wir können es verstehen. Hinter jeder Ecke lauert der Tod. Das meiste ist Spekulation.
Aus der Geschichte wissen wir, die Katastrophe selbst, die Krankheit, der Krieg oder sonstwelche bösen Wörter mit K, ist oft weniger schlimm als das Verhalten der Menschen, wenn sie damit zurechtkommen müssen. Es gibt den Punkt, an dem es kippt. Aus Erfahrung wissen wir, dass wir selbst gar nicht so anders sind als andere.
Termine werden abgesagt, erst unwichtige, dann auch wichtige. Die Stadt kommt zum Erliegen wie der Rest der Welt. Lassen wir den Dingen ihren Lauf. Wir erinnern uns an die alte Abwägung zwischen Freiheit und Sicherheit. Wenn wir uns alle in unseren Löchern verkriechen, um uns nicht in Gefahr zu begeben, dann haben diejenigen, die unser freies Leben verachten, gewonnen. Sie brauchen sich gar nicht mehr die Mühe zu machen, uns etwas anzutun. Wir gehören ihnen auch so. In uns keimt eine Angst, die ungehindert wächst zu etwas Großem. Es fällt schwer, den Überblick zu behalten. Auch im eigenen Kopf.
*
Wir bringen uns in Sicherheit. Wir machen die Schotten dicht. Wir vernageln die Fenster mit Brettern. Wir dichten die Zwischenräume mit Fugenmasse ab. Wir stellen die Pflanzen in den Keller. Nicht alle werden es schaffen. Während der Handgriffe des Verbarrikadierens überspielen wir unsere Angst mit blöden Witzen. Innerlich schlottern uns die Knie. Wir haben Angst vor der Katastrophe, die bald eintreten wird. Wir lassen uns nichts anmerken.
Wir verabschieden uns von den Tieren. Der Hund bellt. Er weiß etwas. Die Katzen müssen hinaus. Anfangs sträuben sie sich, doch dann lassen sie es geschehen. Das nehmen wir uns zum Vorbild. Sie werden es schaffen im Wald.
Wir prüfen die Festigkeit der Knoten. Wir treten in den Haufen aus Gerümpel, ob er Bestand hat. Wir schicken letzte Blicke in die Natur, die wir lange nicht zu Gesicht bekommen werden. Wir kontrollieren die hinreichend gestopften Löcher und die ordnungsgemäß versiegelten Öffnungen. Das geschieht seltsam routiniert. Als hätten wir das alles schon einmal getan. In einem anderen Leben vielleicht? Ein Nachbar winkt uns zu. Es geht allen gleich. Wir wünschen ihm alles Gute. Wir sind angekommen in unserer Angst. Wir schließen die Tür.
Wir raffen zusammen, was uns gehört. Wir lassen uns nichts nehmen. Keiner darf für sich beanspruchen, was in unserem Besitz ist. Wir schauen Nachrichten, schenken den gebetsmühlenartig wiederholten Warnhinweisen kaum Beachtung. Das kennen wir alles auswendig. Wir sehen es auch selbst. Wir trauen unseren Augen. Die Sender sind sich einig. Das Ausbleiben der Katastrophe liegt nicht mehr im Bereich des Möglichen.
*
Wir überprüfen die Bestände. Mit dem, was wir haben, kommen wir sehr lange aus. Das Lager ist voll. Es gibt ausreichend Nahrung, um uns für mehrere Wochen oder sogar Monate am Leben zu erhalten. Auch an Hygieneprodukte haben wir gedacht. Alles hängt vom Wasser ab. Wir haben rechtzeitig eine Filteranlage installiert. Wir sind vorbereitet.
Wir beruhigen die Kinder. Zum Einschlafen werden wir ihnen Lieder vorsingen. Die Kinder verstehen nicht alles, was vor sich geht, den Ernst der Lage verstehen sie aber sehrwohl. Wenn sie Fragen stellen, bemühen wir uns, diese so ehrlich und aufrichtig wie möglich zu beantworten, gleichzeitig in einfacher Sprache, die leicht verständlich ist. So ähnlich machen es die Nachrichten mit uns. Wir beschönigen nichts. Warum sollten wir das tun? Früher oder später kommt die Wahrheit ans Licht. Wir kontrollieren den Generator. Er brummelt verlässlich vor sich hin. Jetzt sind wir bereit. Jetzt kann sie kommen, die Katastrophe.
*
Wir verabschieden uns von unseren Liebsten. Das dauert nicht so lange, da es nur wenige gibt, die wirklich zählen. Wir denken Schlimmeres, als Worte sagen können. Manche erreichen wir nicht. Ausgehend von unseren engsten Vertrauten zieht die Verabschiedung weitere Kreise, melden wir uns auch bei jenen, die in unserem Leben keine allzu große Rolle spielen. Wir wünschen einander alles Gute. Wir verschieben nichts auf später. Vielleicht werden wir dafür keine Gelegenheit mehr haben. So war es nicht gedacht. Es hätte anders sein sollen.
Wir sitzen eng beisammen und warten auf die Katastrophe. Umgeben sind wir von jenen Dingen, die wir an diesen Ort mitnehmen konnten. Der Kofferraum eines Autos bietet nicht unendlich viel Platz. Alles geschah mit der gebotenen Eile. Wir haben mitgenommen, was uns von großem materiellen Wert schien oder sich in Zukunft als nützlich erweisen könnte. Auch persönliche Gegenstände mit eher ideellem Wert haben wir mitgenommen. Manches haben wir vergessen. Schachteln sind kompliziert.
Wir hören Radio. Sie sagen, bald ist es so weit. Wir malen uns aus, was sie meinen und kommen dabei an die Grenzen unserer Vorstellungskraft. Auch insgesamt schwinden die Kräfte. Wir sind müde und schwach. Wir haben Hunger und Durst. Wir öffnen eine Dose und essen. Die Kinder bekommen zuerst. Dazu trinken wir Wasser. Es ist rationiert, wir teilen es gut ein. Vom Wasser hängt alles ab. Wir erinnern uns voraus, an eine mögliche Zukunft. Karge, lebensfeindliche Landschaften. Eine ausgestorbene Welt. Wir sind vorbereitet. Mehr kann man nicht tun. Besser geht es nicht.
*
Wir verstehen uns gut. Das Warten auf die Katastrophe schweißt zusammen. Unsere Beziehungen werden erst noch den Beweis antreten müssen, inwieweit sie überlebensfähig sind, ob sie nur Bestand haben für die Dauer der Krise oder auch noch darüber hinaus. Es wird sich zeigen. Das Warten ist unser Geschäft. Wir verharren in Sicherheitsposition, wie wir sie aus Flugzeugen kennen. Wir machen uns gefasst auf den kommenden Aufprall. Fliegen war immer sehr schön, so bald werden wir das wohl nicht mehr erleben.
Für Unterhaltung werden Bücher und Filme sorgen. Wir teilen sie ein in gelesene und ungelesene, in gesehene und ungesehene. Auf einen Extrastapel kommen jene, die wir zwar bereits kennen, die uns jedoch so sehr gefallen, dass wir uns noch weitere Male damit beschäftigen wollen. Die Kinder langweilen sich nicht so bald. Wenn gar nichts mehr hilft, erzählen wir ihnen Geschichten. Sie gehen gut aus. So schlafen sie ein. Erst in der Nacht, wenn sie uns nicht mehr hören können, sprechen wir offen von unseren Ängsten.
Wir leben aus Kisten und Kartons. Manches ist verstaut in robusten Allzwecktaschen. Alles ist bereit für den Transport. Als ob wir jeden Moment aufbrechen könnten. Im Fernsehen ziehen noch träge Schiffe übers Meer, die Waren nach hierhin und dorthin bringen. Auch wir wären gern auf einem Schiff, die Nase umweht von frischer Meeresluft. Wir schmecken das Salz.
*
Die Welt ist in Aufruhr. Es werden Maßnahmen gesetzt. Es ist ein gutes Gefühl, zu wissen, dass unsere Angst von Anfang an begründet war. Regierungen weisen die Bevölkerung an, in den Häusern zu bleiben. Es gibt Fluchtmöglichkeiten aus der Wirklichkeit. Wir träumen von besseren Zeiten. Die Leute verschanzen sich in ihren Gedanken an die Zukunft. Wir sind froh, dass wir beisammen sind, stellen uns aber Paare vor, die sich in den Irrungen und Wirrungen der Gegenwart verlieren. Alles, was wir erleben, haben wir vorher schon in Filmen gesehen. Eigentlich spielen wir nur Szenen nach, mal besser, mal schlechter.
Wir sprechen über Möglichkeiten der endgültigen Flucht. Manchmal erschlägt uns die Wirklichkeit. Noch ist es zu früh. Wir könnten einander helfen. Zuerst würden wir uns um die Kinder kümmern, dass sie versorgt sind. Mit einem Kissen wäre es leicht. Seile gibt es genug. Wir können feste Knoten. Wir reden darüber, wer zuerst gehen müsste, und wer dem anderen nachfolgt. Wird es jemals so weit sein? Die Vorräte reichen noch lange. Wir werden kämpfen. Es muss weitergehen, um jeden Preis.
*
Als die Hamsterkäufe begannen, waren wir sehr amüsiert. Trotzdem haben wir uns den Menschen angeschlossen, haben Trauben um beliebte Geschäfte gebildet. Man kann nie wissen. Pläne wurden geschmiedet, nur zur Sicherheit, für den Ernstfall. Man weiß nie. Wir haben Wasserflaschen eingelagert. Wer soll das alles trinken? Wasser hält ewig. Wir sind wie das Wasser, finden immer einen Weg. Wenn man genau darüber nachdenkt, dann sind wir nur Körper, die Stoffwechsel betreiben. An den Körpern hängt ein Kopf, der Sachen denkt. Sonst nichts.
Als das Misstrauen wuchs, haben wir Vorbereitungen getroffen, uns in Sicherheit zu bringen. Wir haben das Haus in Schuss gebracht und den Keller hergerichtet. Viel war nicht zu tun. Vielleicht ist es immer schon der Zweck dieses Hauses gewesen, uns einen geschützten Rückzugsort zu bieten, sobald das Gefüge der Welt auseinanderbricht. Die Grillfeste am Wochenende waren eine Freude. Den Kindern hat es gefallen. Das größte Glück im Leben ist ein trockener Keller. Kein Streit mehr am Autorücksitz auf der Hinfahrt. Andere waren früher dabei, ihre Vorkehrungen zu treffen. Wir haben es nicht kommen sehen. Das Haus macht vertraute Geräusche. Wir hätten es kommen sehen sollen.
*
Die Katastrophe zwingt uns, zu reagieren. Jeden Moment könnte es soweit sein. Wir müssen die Alten und Kranken und Schwachen vor einem Schicksal bewahren. Unsere allererste Sorge gilt dem Weiterleben der Kinder. Es gibt Vorkommnisse in der Welt, zu denen man nicht schweigen kann. Die Staatengemeinschaft hat sich zusammengesetzt, um Lösungen zu finden. An den Börsen wird der Handel ausgesetzt, um sie abkühlen zu lassen. Wir sind überrascht. Der Welthandel lebt doch vom Steigen und Fallen der Kurse. Fällt es aber zu rasant, dann wird ein Hebel umgelegt und es kommt zum Stillstand. Ein seltsam unehrlicher Vorgang. Als hätten sich alle darauf geeinigt, dass es im Kern ein großes Spiel ist, bei dem man sagen kann: Ich mag nicht mehr. Und die Welt schweigt dazu.
Wir haben Abstand gehalten, gingen einander aus dem Weg. Auch das war ein Spiel. Wenn wir ehrlich sind mit uns selbst, dann finden wir Gefallen an den Ereignissen. Es ist ein Abenteuer. Die Aufregung tut gut, sie rüttelt uns wach. Waren wir nicht allzu einverstanden mit allem, haben wir es uns nicht allzu gemütlich gemacht im Wochenendhaus mit Essen vom Grill? Furchtbar aufregend sind die Zeiten ja schon.
Noch scheint alles offen. Zwischen Ausbruch und Ausbleiben der Katastrophe liegt nur ein winziger Moment. Wir wollen nicht, dass der Ernstfall eintritt. Gleichzeitig sehnen wir ihn herbei. So wach wie jetzt waren wir selten, wahrscheinlich nie. Wir möchten die Katastrophe um jeden Preis verhindern, gleichzeitig würden wir alles dafür tun, dass sie eintritt. Die Angst ist ein sauberes, starkes Gefühl. Sie gibt uns ein warmes Zuhause. Hier gehören wir hin. Niemand darf uns vertreiben.
*
Es ist der richtige Zeitpunkt, Verbrechen zu begehen. Die Polizei hat nicht mehr ausreichend Kapazitäten, sich um kleine Delikte zu kümmern, geschweige denn für Aufklärung zu sorgen. Andererseits gestalten sich Einbrüche sehr schwierig, jetzt, da jeder sich in die eigenen vier Wände zurückgezogen hat.
Wir zählen unsere Patronen. Angenehm schwer liegen die vollen Schachteln in der Hand. Wir haben uns rechtzeitig ein Gewehr besorgt. Der Nachbar hat uns gezeigt, wie man es benutzt. Am wichtigsten ist, die Kinder davon fernzuhalten. Sie dürfen nicht damit spielen. Nicht auszudenken, was passieren würde, wenn sich dabei ein Schuss löst. Die Kinder sind unsere Fortsetzung, durch sie wird unsere Geschichte weitererzählt. Braver Nachbar. Auf ihn ist Verlass. Das Gewehr hat er uns gerne verkauft gegen Dosen. Auch Nägel sind wertvoll geworden. Und Bretter. Unser Keller war gut ausgestattet. Der Nachbar hat einige Gewehre.
*
Früher gab es andere Katastrophen. Weniger beängstigend oder klein waren sie nicht. Wir dachten, es sei eine Katastrophe, zu spät zu kommen oder etwas zu verpassen. Es war eine Katastrophe, ein Getränk zu verschütten oder ein liebgewonnenes Kleidungsstück zu ruinieren. Wir haben über kaputte Geräte und abgelaufenen Käse geklagt. An jenem Samstag, da im Supermarkt der Reis ausverkauft war, änderte sich unser Blick auf die Welt. Reis ausverkauft. Das hatten wir noch nie erlebt. Es war der Moment, in dem wir alles wussten. Da war uns alles klar. Der ausverkaufte Reis hat uns erzählt, wie es weitergeht. So ging es dann auch weiter. Ab diesem Zeitpunkt hätte jeder wissen können, was zu tun sein würde. Die Menschen hätten sich zusammenreißen und kluge Entscheidungen treffen sollen. Planung ist das halbe Leben, sagt man.
Wir sind vorbereitet. Die Kinder grübeln im Bett. Das Fernsehflimmern träumt uns etwas vor. Die eigentliche Katastrophe wäre das Ausbleiben der Katastrophe. Nichts ist schlimmer, als sich auf etwas vorzubereiten, das niemals eintreten wird. All die Mühe, die man sich gemacht hat. Doch daran wollen wir erst gar nicht denken. Wir sind bereit. Jetzt kann sie kommen.
*
Und wenn sie dann da ist, die Katastrophe, sind wir einerseits erschüttert, doch andererseits seltsam zufrieden, denn wir haben es uns längst in unserer Angst gemütlich gemacht. Ist uns nicht schon allzu behaglich geworden in unserem wohligen Frieden? Haben wir nicht insgeheim den Krieg herbeigesehnt? Ist uns nicht schlecht vor lauter Sattheit, die einer Übersättigung gleichkommt? Ist nicht dieser vermeintliche Frieden, in dem wir uns aufhalten, bloß die vorübergehende, wenn auch jahrzehntelange, Abwesenheit von Krieg?
Würde sie ausbleiben, die Katastrophe, dann wären wir fürchterlich enttäuscht. Das Ausbleiben der Katastrophe wäre eine große Enttäuschung. Es würde sich die Frage stellen: Wozu das alles? Patronen wiegen schwer. Warten auf die Zeit. Der ruhige Atem der Kinder. Vater Schlaf.
*
Als uns die Nachricht ereilt, dass die Katastrophe ausbleiben würde, sind wir fassungslos. Es geschieht auf den üblichen Kanälen mit Gesichtern, die jetzt heller und freundlicher wirken. Ein Schimmer der Enttäuschung huscht darüber hinweg, den wir auch bei uns selbst bemerken. Anfangs können wir es nicht glauben. Doch Stunde um Stunde trauen wir den Verlautbarungen immer mehr. Es wird Entwarnung gegeben. Die Wahrheit sickert ein. Wir fallen uns in die Arme. Das muss die Erleichterung sein. Und irgendwie, auf eine verquere Weise, war uns immer schon klar, dass die Katastrophe ausbleiben würde.
Wir wecken die Kinder. Wohin mit unserer Angst? Ohne sie wissen wir kaum noch, wer wir sind. Erst sie erschafft in uns jene zarten Dissonanzen, durch die wir nach uns selbst klingen. Mit blankem Entsetzen lockern wir die Bretter an den Fenstern. Wir zählen die Wasserflaschen. Die meisten sind noch da. Ans Essen aus der Dose haben wir uns gewöhnt.
Wir sind davongekommen, sagen wir, und schüttelten ungläubig die müden Köpfe. Wir treten die Tür ein. Ob gleich der Nachbar winkt? Wir nehmen die Kinder und treten ins Freie. Die Luft ist feucht und kühl. Der Hund lebt noch, die Katzen sind tot. Wir blinzeln uns wach. Das Gewehr liegt gut in der Hand. Verwirrt kommen wir aus unserer Angst zum Vorschein. Die Welt ist noch intakt. Neue Bilder für Zukunft entstehen. Alles wird sich finden. Die Kinder gähnen. Der Spuk ist vorbei. Wir blicken uns um. Jetzt kann sie kommen. Nichts erschreckt uns so sehr wie das Ausbleiben der Katastrophe.

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91 Montag, 15.06.2020

Satzbau überbewertet ist. (Baby Yoda gewidmet.)

Im Hessischen Rundfunk geht es um den Unterschied zwischen einer Schamgesellschaft und einer Schuldgesellschaft. Ich halte ihn für sehr klein und verstehe ihn nicht gut genug für eine Erklärung. Auf dem Weg ins Büro denke ich darüber nach. Vielleicht ist auch das ein Mitgrund, dass ich beim Betreten des Supermarkts gedankenlos die Musiknotenmaske aufsetze, obwohl doch gerade heute Lockerungen bei der Maskenpflicht in Kraft treten und sie in Geschäften, mit Ausnahme von Apotheken, aufgehoben ist. Erst als ich wieder hinausgehe, fällt mir das ein.
Ich habe die Verhaltensweise so sehr verinnerlicht, sie ist so automatisch geworden, dass ich sie wieder gezielt verlernen muss. Die englische Wendung get it out of my system passt am besten, leider hat sie keine direkte Entsprechung im Deutschen. Es wird ein bisschen dauern, bis wir uns all das, was wir sollen oder müssen, wieder abgewöhnt haben. Ich nehme die Maske ab, schäme mich für meine feuchte Oberlippe und die beschlagenen Brillengläser, die ich mir hätte ersparen können. Das mit der Scham klappt immerhin schon recht gut.

Montäglicher Büro-Spam von aileen999:
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Meine Versorgung mit rostfreien Stahlrohren scheint damit gesichert zu sein.

Übers verlängerte Wochenende betreibt der Kaffeefilter eine lukrative Schimmelzucht.

Ich erinnere mich, gegen Anfang der seltsamen Zeiten gefragt worden zu sein, etwas darüber zu schreiben, wie viel Ort Kultur brauche. Abgedruckt wurde es im Programmfolder eines Kulturzentrums, des altvertrauten Wiener Werkstätten- und Kulturhauses, dessen Veranstaltungskalender für Monate wie leergefegt sein würde, was sich schmerzlich bewahrheiten sollte. Ich schrieb, vor Kurzem sei das erste Album meines Musikprojekts Moll erschienen. Es heiße schlicht und einfach Musik und sei jetzt in der Welt, man könne es hören auf den diversen Plattformen, hin und wieder laufe der eine oder andere Song sogar im Radio. Auch erwerben könne man es, in digitaler und physischer Form. Trotzdem fühle sich dieser Release seltsam unabgeschlossen an, bleibe da ein gewisses Gefühl der Leere – denn Konzerte spielen würden ich und meine Mitmusiker derzeit nicht können. Und wie schön wäre es jetzt, dafür irgendjemandem die Schuld geben zu können. Selbst das falle ins Wasser, denn auch wir fühlten uns dem Grundkonsens von Maßnahmen verpflichtet, die wissenschaftlich fundiert seien, solange sie in ihrer zeitlichen Dimension und Konsequenz nicht übers Ziel hinausschießen würden – wobei wir alle die Vorgänge kritisch und in wachem Ernst begleiten sollten.
Wie bei so vielen – eigentlich bei allen – Künstlern sei auch bei uns das Musizieren und die Begegnung mit den Hörern völlig in den virtuellen Raum abgewandert. Als Alternative zum geplanten Release-Konzert hätte ich allein ein Wohnzimmer-Konzert über Livestream am Label-Kanal gespielt. Manches sei gewesen wie sonst auch: Die nervöse Vorfreude, das Kribbeln im Bauch, das Bereitlegen der Utensilien (Setlist, Kapodaster und ausreichend Plektren, falls eines aus der Hand falle.) Doch hätte ich mich nicht an einem besonderen, feierlichen und vor allem gemeinschaftlichen Ort befunden. Wie in einer finsteren Dystopie sei ich allein auf meinem Wohnzimmersessel gehockt, hätte nervös an meinem Bier genippt und auf der Gitarre ein paar Songs in Kamera und Mikrophon des Laptops gespielt – hinein ins Schweigen des Raums.
*
Das Konzert sei weniger seltsam gewesen als befürchtet. Nach einiger Zeit habe sich eine gewisse Gelassenheit eingestellt, ich hätte mich entspannt und Lust bekommen, zwischen den Songs ein bisschen zu plaudern. Das Mitlesen des Live-Chats während des Spielens habe mich überfordert, erst später hätte ich es nachgelesen. Und schön sei es gewesen, zu sehen, dass sich so mancher Zugeschaltete ehrlich bedankt habe für diese kleine Abwechslung. Von manchen sei sogar etwas gespendet, also auf eine gewisse Weise Eintritt bezahlt worden. Alles im Kontext, das hier als eine Art Appetizer fürs eigentliche Konzert zu genießen, das man sich möglichst bald wünsche. Im Nachhinein sei zwischen mir und den Menschen so etwas wie eine Wärme zu spüren gewesen, wenn auch seltsam gedämpft und fern. Livestreams würden nur eine Notlösung sein, die seltene Ausnahme, die eine Regel bestätige.
Ich schrieb, das Virtuelle strebe in die Wirklichkeit. Als Menschen suchten wir das Menschliche – die echte Begegnung, den echten Blick, die echte Berührung. Weniger sei auf Dauer nicht genug. Für Theaterschaffende und Performer würden unsere seltsamen Zeiten gerade besonders schwer sein; in jeder Hinsicht, finanziell genauso wie persönlich, denn das Publikum könne nur sporadisch und durch den Filter des Digitalen erreicht werden. Als Musiker laufe die Arbeit immerhin auf zwei Ebenen ab, beide hätten ihren Platz und ihren Wert. Einerseits das Aufnehmen, die Produktion, das Herumtragen der Musik. Andererseits das Konzert – im besten Fall umgeben von einer Vielzahl an Gleichgesinnten, mit denen man das Erlebnis teilen könne. Das Live-Erlebnis sei der Ort, an dem alles zusammenkomme, an dem alles kulminiere. Hier finde Kunst, hier fänden wir als denkende und fühlende Wesen statt.
*
Danach, wenn sich der Staub bald gelegt haben werde – früher als befürchtet, aber später als erhofft – würde ich dann wirklich niemanden etwas sagen hören wollen wie:Naja, so viele Bühnen und Locations und Veranstalter brauchen wir eh nicht, man hat ja gesehen, dass das meiste auch im Internet ganz gut funktioniert. Dem würde ich mich mit aller Vehemenz entgegenstellen, und jeden und jede dazu einladen, dasselbe zu tun. All diese Notlösungen im Netz seien ein Trostpflaster, um den Zeitraum bis zu echten Konzerten, Theaterstücken und Performances zu überbrücken. Und sie seien eine Anstrengung, nicht zuletzt in organisatorischer und technischer Hinsicht, bedeuteten eine Mehrarbeit, die nicht selbstverständlich und nicht jedem möglich sei.
Eine Art Gesundschrumpfen in diesem Bereich brauche es nun wirklich nicht, im Gegenteil – gerade offene Orte der friedlichen Begegnung mit einem anspruchsvollen Programm, das herausfordere und kritisches Denken fördere, seien neben integrer Justiz, professionellem Journalismus und kritischer Öffentlichkeit die Grundlage für eine funktionierende Demokratie, die diesen Namen auch verdiene. Sie dienten der geistigen, psychischen – und damit eben auch der physischen – Gesundheit. Sie stifteten jenen Zusammenhalt, den wir gerade in Zeiten wie diesen so dringend brauchten und zurecht stolz hervorheben würden. Die vielbeschworene neue Normalität werde für mich – und viele andere – darin bestehen, die Möglichkeiten des Kulturlebens neu wertzuschätzen und auf ihrem Wiederaufblühen zu beharren. Wenn überhaupt, schrieb ich, dann bräuchten wir mehr dieser Orte.
Wir alle hätten Hunger auf Kunst: auf Konzerte, Lesungen, Theater, Kino, Museum. Die Künstler scharrten bereits in den Startlöchern, und die Besucher würden sich die Hände reiben in freudiger Erwartung. Auch meine Band und ich, wir fieberten schon dem Tag entgegen, da die Türen geöffnet würden und wir in verdunkelte Räume strömen dürften, um den Leuten unsere Musik vorzuspielen, und jener der anderen zu lauschen. Ich glaube, schrieb ich, das werden die schönsten Konzerte unseres Lebens – für uns genauso wie für unsere neuen virtuellen Freunde.
(Allzu viel hat sich seither nicht geändert. Veranstaltungen sind nur teilweise und unter sehr strengen Auflagen möglich. Freiluftkonzerte scheinen die Lösung zu sein. Es gibt Ideen. Noch scharren wir.)

Seitdem der Bankraub verjährt ist, schlafe ich viel besser.

Am Ende meines Lebens werde ich niemals einen Marathon gelaufen sein.