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96 Samstag, 20.06.2020

Einen Sommer lang dachte ich in Gedichten.

Einmal schwebte mir ein Gedichtband vor, der die schöne neue digitale Welt besingen sollte: das Verlagern unserer Existenz in soziale Medien und Online-Spiele, die Rechnerleistung von Supercomputern zur Wettersimulation, die Nullen und Einsen, den binären Code. Der Band trug den umständlichen Arbeitstitel Datenverarbeitungsgedichte. Alles Material, das ich dafür bereits zusammengetragen und teilweise ausformuliert habe, ist auf geheimnisvolle Weise verschwunden.

Eine Mollner Lyrikerin spricht sehr treffend von der Kronenkrankheit, die sich auf die Länder gesetzt habe. Außerdem erfahre ich von leuchtendem Brot.

Beim Verlassen der Wohnung schoss mir ein launiges Kurzgedicht ein:
Wenn man keinen Hunger hat
Macht sogar ein Zuckerl satt
(Gedichtet mit einem Hustenzuckerl im Mund.)

Erheblicher Gedichtversuch:
Die Maske schnalzt mir ins Gesicht
Du kennst mich nicht mehr und noch nicht

Donaustadtbrückengedicht:
Ein mal eins ist keins
Zwei mal zwei ist Bier
Und drei mal drei ist Sekt

Dichtlust im Dauerregen:
Rasten
Wie ein Stein am Platz
Und warten
Auf die Zeit
*
Übersetzt in jede Sprache
Ist Liebe nur ein Wort
Das es nicht gibt

In den Baumkronen dichtet der Wind.

Lyriker sind einfach nur faul.

Auf der Tanzfläche haben zwei sich bemerkt. Jetzt lauern sie in blickreicher Distanz.

Mann und Frau gehen auf einander zu. Zwei Fremde am Gehsteig. Sie hebt den Blick, sieht ihn jedoch nicht an, sondern frontal geradeaus an ihm vorbei, um sich zu vergewissern, dass sie angesehen wird, was sie aus dem Augenwinkel triumphierend erkennt. Der stumme Sieg einer Unbekannten, irgendwo im dritten Wiener Gemeindebezirk. So oder so ähnlich jeden Tag überall auf der Welt.
*
Zwei verzweifelt Liebende, für die es keinen Ausweg gibt, besuchen gemeinsam einen Escape Room. Sie wird von einer Schwangeren mit dem Auto gebracht, er kommt zu Fuß. Sie streiten ein bisschen, finden aber ohne Hinweis jede Lösung und schaffen es rechtzeitig hinaus. Danach gehen sie erschöpft, aber beschwingt in ein Pub. Dort treffen sie eine gemeinsame Bekannte, die von nichts wissen darf. Dann gehen sie heim und machen dort weiter, wo sie miteinander aufgehört haben.
*
Grausamkeit als letztmögliche Form der Zuneigung. Und mit dem Einstecken der Schläge, dem Aufreißen der Hautstellen, wird plötzlich klar, wie unverwundbar man früher einmal gewesen ist. Das Höchste der Gefühle: Ein gedankenlanges Zögern des Fingers am Abzug.

Sie waren einen Hund lang zusammen.

Wie gerührt man sofort ist, bloß weil zwei Leute sich in Gebärdensprache miteinander unterhalten.

Ich gehe in ein Fastfoodrestaurant in der Innenstadt. Einmal sah ich hier nachts einen sozialdemokratischen Jungpolitiker. Er saß gegenüber einer auffällig tätowierten Frau gleichen Alters in einer der gemütlichen Polsternischen. Mit Lust biss er in seinen Burger. Am Vortag war er frisch als Nationalratsabgeordneter angelobt worden. Jetzt hätte er mit Sicherheit auch bei einem exklusiven Parlamentsempfang sein können. In letzter Zeit war er viel in den Medien gewesen, da er sich nach der Wahlniederlage mit der Parteispitze angelegt hatte. Ich wollte ihm sagen, dass er richtig liege, ließ es jedoch bleiben, denn er sollte in Ruhe essen. Seine Begleitung hatte ein Tattoo, das rankend ihren Arm verschlang.

Das beste Argument für Atomkraft sind ihre Gegner.

Dreimal die Woche führt mein Büroweg am Schottenring über die Donau. Gern blicke ich von der Brücke hinunter auf den weltbekannten Club mit Außenareal. Wie all die anderen ist auch er während der seltsamen Zeiten ins Straucheln geraten, der Programmkalender noch für Wochen leergefegt. Ich verbinde ihn mit Konzerten, abenteuerlichen Nächten und seltsamen Begegnungen. Einmal wurden mir die Ohrenstöpsel aus der abgelegten Jacke gestohlen.
Ein anderes Mal saß ich mit gekreuzten Beinen auf der Couch, um die Nacht zu schreiben. Eine Art Punk marschierte herein, in Lederkluft, mit dreistem Haar. Er starrte mich an, als wäre ich ein völlig anderer als ich vorgab zu sein – wahrscheinlich hatte er Recht. Eingeschüchtert hielt ich inne. Vielleicht erkannte er in mir auch jemanden, den er doch eigentlich niemals hatte wiedersehen wollen – auch das soll ihm zugestanden sein. Er schüttelte vorwurfsvoll den Kopf. Nach dem Motto: Kannst du es also schon wieder nicht lassen! Dann ging er fort zu seinen lauten Freunden. Nach dieser Begegnung war ich erschöpft, und für Minuten zerfressen von schlechtem Gewissen, das weder Grund noch Sinn hatte. Dann rückte ich mich zurecht und schrieb weiter, schrieb plötzlich gegen etwas an.

In den winzigen unkontrollierten Muskelzuckungen des Frauengesichts erkenne ich Anzeichen einer beginnenden Geisteskrankheit. Ein paar normale Jahre hast du noch, denkt der Garstige in mir.

Theaterarbeit
Schauspieler sind Kinder, Verrückte oder beides.
Sänger waren krank oder sind es bald wieder.
Regisseure halten begeistert den Wahnsinn zusammen.

Eine Autorenbiographie am Schutzumschlag: „Georg Trakl wurde 1887 in Salzburg geboren. Nach mehreren gescheiterten Versuchen brach er 1905 die Schule ab und wendete sich vermehrt seinem literarischen Schaffen zu.“ Der stiller Triumph, ihm etwas vorauszuhaben – denn mir ist es bereits beim ersten Versuch gelungen.
*
Meine Entscheidung, die Schule abzubrechen, fiel mitten in der Nacht. Ich konnte nicht schlafen und quälte mich durch mögliche Zukunftsszenarien, eines grauer als das nächste. (In Wahrheit erlaubte ich mir gar nicht erst, bestimmte Abzweigungen ins Reine zu denken.) Dann, als ich wusste, was zu tun war, da wurde mir ganz leicht. Ich brauchte mich auch nicht mehr im Bett zu wälzen, aus Sorge, am morgigen Schultag auch ja ausgeruht zu sein. Stattdessen stand ich auf – vielleicht so gegen zwei Uhr Früh –, machte mir einen Tee und las Zeitung. Es war die Erleichterung, sich etwas eingestanden zu haben. Ich saß in unserer Küche am marmornen Kaffeehaustisch, schlüfte meinen bitteren Tee, blätterte die Zeitung um, und war vorübergehend mit mir einverstanden.

Wo alle mutig sind, beweist der Ängstliche den größten Mut. (Also sprach der Dorf-Feigling.)

Jeder neue Laptop ist ein Wunder. Er bringt Ordnung ins Chaos. Endlich laufen die Spiele, auf die man sich seit Jahren freut. Für Tage versinke ich in einem Action-Rollenspiel mit komplexer Charakterentwicklung. Ich ballere und schleiche, knacke Schlösser, modifiziere und repariere die von mir mitgeführten Waffen, verwalte gewissenhaft mein Inventar. Ich nehme alle Quests an und klappere die Zielorte an, sie zu erledigen. Ich nehme alle companions in meine Crew auf und klicke mich durch die Gespräche mit ihnen. Ich stelle alle Fragen, um alle Antworten zu erhalten. Keine Dialogoption soll mir verborgen sein.
Beim Aufleveln verteile ich viele Erfahrungspunkte in Dialog-Skills, um Gesprächspartner möglichst oft einschüchtern und überreden zu können. Die englische Sprachausgabe ist äußerst gelungen. So spiele ich entkoppelt von der Wirklichkeit, erlebe ein immersives Abenteuer, reise mit meinem unzuverlässlichen Raumschiff zu Planeten und Raumstationen, töte Feinde und treffe schwerwiegende Entscheidungen, die für den Weiterverlauf der Story relevant sind. Daneben vernachlässige ich die täglichen Verrichtungen. Das ist herrlich und bleibt mein Geheimnis, niemand darf es erfahren. Wenn alles vorbei ist, werde ich spielen.

Es wird gemutmaßt, Bettschlaf sei erholsamer als Couchschlaf.

Ich fasse jemandem mein langes Jahr zusammen, erzähle von Irrungen und Wirrungen, die mich ziemlich durchgerüttelt haben. Ich erwarte mir Trost, verbale Streicheleinheiten. Jemand klatscht freudig in die Hände. Toll, ruft jemand begeistert aus, das ist ja perfekt für deine Arbeit, so viel durchzumachen. Ich stimme jemandem grundsätzlich zu, gebe aber vorsichtig zu bedenken, dass mir einiges davon hätte erspart bleiben können. Damit nehme ich jemandes Begeisterung über meinen Kummer ein bisschen den Wind aus den Segeln.

Pendeln zwischen Einsamkeitsdrang und Geselligkeitssucht – eines als Erholung vom anderen. Wie lautet eine originelle Bezeichnung für diese unentschiedene Lebensbewegung? Mensch.

Ich singe darüber – so erst findet es statt.