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99 Dienstag, 23.06.2020

Beim Essen sehe ich neuerdings am liebsten Dokumentationen über Fettleibigkeit und das fragwürdige Gebaren der Nahrungsmittelproduzenten. Fett in the USA: Amerikas Kampf gegen die Kilos und Dick, dicker, fettes Geld: Geschichten aus der Diabetes-Industrie und 5 Döner hintereinander – Wenn Essen zur Sucht wird und Abnehmen, um zu überleben und Amerika XXL – Eindrücke aus dem Land der Dicken. Langsam komme ich auf den Geschmack. Ein paar Magenverkleinerungen durfte ich mitansehen – alles, was Bauch war, ist Schmerz.
Zum Ausgleich steige ich um auf Dokumentationen über Fitness- und Abnehmtrends. Quäl dich! – Die härtesten Freizeitsportler Deutschlands und Körperkult – Vom Diätwahn & der Industrie dahinter und Muskelaufbau – Mit Anabolika zum Traumkörper und Bauch weg! Expedition in eine Problemzone und Im Muskel-Wahn. Auf mein Essverhalten haben weder die einen noch die anderen irgendeine Auswirkung. Ich lasse es mir unbehelligt schmecken.
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Zwei Tage hungern, damit sich die Pauschale fürs running sushi auszahlt. (Wie wohlwollend der Fettsack die vorbeipräsentierten Tellerchen abnickt, und wie verschämt er unter den Augen der Mitspeisenden die Bissen einschlürft. Er ist so mächtig, dass sein Körper regelrecht zerfließt.)
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Einmal träumte mir, meine Mutter würde die übriggebliebenen hausgemachten Marillenknödel samt Zimtbrösel in eine behäbige Schale tun und alles mit dem Stabmixer zerschreddern (und vorher gewissenhaft die Steine entfernt haben). Ich war entsetzt. Das werde ein traditioneller Knödelschmarren, erklärte sie mit ruhiger Stimme und kippte Apfelmus dazu. Schade um die schönen Marillenknödel, dachte ich. Zum Glück war es nur ein Traum.

Nachtstreuner und Regenspaziergang – einer braucht den anderen.

Innere und äußere Umstände
Es gibt innere und äußere Umstände. Die inneren Umstände sind das, was man tut. Man muss es für sich selbst tun, aus sich heraus. Die äußeren Umstände sind das, was andere davon halten. Wie sie es bewerten und was damit geschieht, ein Blick der Welt auf sich. Beim eigentlichen Tun muss man sich ganz auf die inneren Umstände besinnen und die äußeren konsequent ausblenden. Sobald sie hineinspielen, wird die Arbeit verwässert oder sogar vergiftet mit einer Gefallsucht. Danach, wenn die Arbeit abgeschlossen ist, beginnt die Suche nach Verbündeten. Grundlage ist die geteilte Vision. Jetzt bedrängen und befragen einen die äußeren Umstände, das Einordnen und Bewerten der Arbeit. So muss es sein. Eine Öffnung geschieht, ein Hereinlassen der fremden Bedenken. Der innere Kern aber bleibt intakt, sonst gibt man auf, weshalb man etwas ursprünglich in Angriff nahm.
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Immer ist man selbst derjenige, dem es schwergemacht wird, und immer sind die anderen diejenigen, denen alles so leichtfällt. Wie lasch ist die Kunst der Geschätzten, denkt man, und übersieht, dass keinem etwas geschenkt wird, und wenn doch, dann fordert es auf Dauer nicht heraus und lähmt den Eifer. Dem Einzelgänger wirft man sein Einzelgängertum vor, dabei kann er nichts dafür und wünscht es sich anders, dabei geschieht die Verhärtung des Körperpanzers rein zum Selbstschutz, und dem Zurückgewiesenen wirft man vor, dass seine Liebeserklärungen zu Kriegserklärungen werden. Das Schweigen ist groß. Aber, denkt man, eines Tages werde auch ich jemand sein, und schweige dann mit voller Kraft zurück. Eines Tages, denkt man, wenn ich sie längst nicht mehr brauche, werde ich mächtige Fürsprecher haben. All das ein Schielen auf äußere Umstände, zu denen das Leben nur gelangweilt gähnt. Da ist es wichtig, durchzuatmen, und an die inneren Umstände zu denken. Sie sind angenehm streng und lassen einem nichts durchgehen.

Funktionieren als maßgeblicher Lebensinhalt.

Es war einmal eine Idee. Ich habe mich in ihr erkannt und ihr vertraut. Sie störte etwas auf. Die Idee ging fort. Aus der Ferne sehe ich, wie sie älter wird und zu wirken aufhört. Sie war Befürworterin meines Tuns. Aber was sind schon Ideen? Wenn ich sie sehe, ist sie plötzlich wieder so, wie sie gewesen ist. Da durchzuckt es mich wie als Stich. Was sind wir selbst ohne unsere Ideen? Ich warte auf sie. Eines Tages wird sie sagen, dass es lang genug war und sich das Warten auf sie gelohnt hat. Ob es dann zu spät ist? Ich denke an den Satz, der alles sagt. Es gibt ihn nicht. Ich suche die Suche nach der verlorenen Idee. Das reicht. Sie war einmal und wird gewesen sein.

Die Männer schwadronieren von ihren Bärten und deren Pflege, als sei Bartwuchs eine Entscheidung. (Jemand hat statt einer Oberlippe einen präzise gekränkten Bartstrich.)

Eine Bekannte erklärt mir, sogenannte Ladies’ Nights, bei denen Frauen in Lokalen für einen bestimmten Zeitraum vergünstigte Getränke bekommen, seien eine Erfindung von Männern für Männer – diese würden im Verlauf des Abends dazustoßen und die ausreichend betrunkenen und vermeintlich willigen Ladies einsammeln. Die Vorarbeit des Herbeitrinkens einer Unvernunft hätten sie dann bereits auf eigene Kosten selbst an sich geleistet.

Eine Traube Menschen wartet an der Ampel. Sie stehen versammelt um ihren Ärger. Wahrscheinlich dauert es schon etwas länger. Immer mehr gesellen sich dazu, und immer genervter warten die Fußgänger, endlich die Straße überqueren zu dürfen. Ungehindert rauschen die Autos vorbei. Nichts blinkt, nirgends. Auch die andere Uferseite wird immer voller und genervter. Längst haben wir es mit einer unüblich langen Rotphase zu tun. Ich möchte zwar auf meinem Gehsteig bleiben, trete jedoch hinzu, um mir ein Bild von der Lage zu machen. Außerdem habe ich einen leisen Verdacht, den ich nun überprüfen möchte. Er bestätigt sich: Die Ampelbox ist nicht gedrückt.
Zur Unterhaltung warte ich ein bisschen mit. Mehr und immer noch mehr Menschen stehen sich gegenüber und starren immer genervter in den Autoverkehr. Irgendwann fasse ich mir ein Herz und erlöse sie. Tapfer drücke ich den Knopf. (Es gibt nur wenige, die mit dieser besonderen Fähigkeit ausgestattet sind. Bekanntlich ist eine mehrjährige Spezialausbildung dafür vorgeschrieben, die nur die Härtesten unbeschadet überstehen. Zum Glück bin ich offiziell zertifizierter und staatlich anerkannter Ampelboxknopfdrücker.) Es blinkt. Ein Raunen der Erleichterung geht durch die Menschen. Autos bleiben stehen. Erlöstes Seufzen. Bescheidener Held des Alltags, der ich bin, mache ich mich unbedankt aus dem Staub. Die Ampel springt auf Grün. Durch die Menschen geht ein Ruck. Bis morgen, denke ich.

Nachtspaziergang und Regenstreuner – enharmonische Verwechslung.

Jakob (Twistgeschichte)
Jakob steht im Wetter. Er beobachtet ein Haus. Die Menschen gehen achtlos an ihm vorbei. Ein Hund reibt sich an ihm. Jakob bewegt sich nicht vom Fleck. Die Besitzerin zerrt an der Leine. Kein Wort der Entschuldigung. Ihr Hund hebt woanders sein Bein. Auch nachts steht Jakob vor dem Haus und beobachtet durch die Fenster, was vor sich geht. Bildschirmflimmern überall, Fernseher blättern um in der Welt. Jakob lauert. Niemand stört sich an ihm. Er sieht Liebe und Streit, manchmal beides im selben Raum. Wer soll die Menschen verstehen? Jakob bleibt, wo er ist. Die Nacht schläft. Eine junge Frau hinter dem Fenster ist noch wach. Sie hört Musik und weint. Ein neues Gesicht. Muss frisch hierhergezogen sein. Jakob verschaut sich ein bisschen in sie. Morgen wird er ihr begegnen und sie trösten. Alles halb so schlimm. Sie zieht sich aus und löscht das Licht. Stilles Weinen. Menschen sind schön. Jakob ist verliebt. Morgen wird er sich ihr zeigen. An einem Tag mit Hund. Der Wind pfeift. Verliebt sein ins neue Gesicht. Jakob ist ein Baum.