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97 Sonntag, 21.06.2020

Zahlen und Daten
Um wie viel Uhr der Wecker läutet. Wie viele Stunden man geschlafen hat. Wie viele Minuten einem bleiben, bis man das Haus verlassen muss. Ungefähr zwanzig. Wie viele Schritte es aufs Klo sind. Nur ein paar, die macht man blind. Wie lange man sich die Hände wäscht. Wie viel Wasser man dabei verbraucht. In Millilitern. Wie schwer der Rucksack ist. In Kilogramm. Wie viele Stufen es durchs Stiegenhaus hinunter sind. Wer hat sie je gezählt? Wie viele Personen einem auf dem Weg zur Station entgegenkommen. In welchem Winkel sie den müden Blick zum Boden führen. In wie vielen Minuten die U-Bahn kommt. Wie viele andere sich im Waggon befinden. Wie lange die Fahrt dauert. Wie lange man fürs Umsteigen braucht. In wie vielen Minuten die U-Bahn diesmal kommt, wie viele Stationen es diesmal sind. Ein paar mehr. Wie spät es ist. Schon so spät?
Wie weit die Strecke ins Büro ist. Um wie viel Uhr man den Schlüssel umdreht. Die Abtropfgeschwindigkeit der Kaffeemaschine. Die Erledigungsgeschwindigkeit für einzelne Aufgaben. Die Menge der Sendungen im Briefkasten. Die Anzahl der eingelangten Bestellungen. Wie viel Papier im Drucker ist. Wie hoch der zu bezahlende Betrag ausfällt. Hausnummer und Postleitzahl. Die Telefonnummer. Der Stundenlohn für Arbeit.
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Die aktuelle Basisreproduktionszahl. Wie viele Meter Abstand eingehalten werden müssen. Wie viele Menschen sich in welchem Bereich versammeln dürfen. Es ändert sich so schnell. Wie viele Gäste in Restaurants um einen Tisch sitzen dürfen. Was alles kostet. Wie viel Geld man noch am Konto hat. Wie viele Pressekonferenzen gegeben worden sind. Wie viele Kameras aufgestellt waren. Auf wie vielen Bildschirmen wir sie verfolgten. Wie sich die Zahlen entwickeln. Wie viele Neuinfektionen es gibt. Wie viele Erkrankte und Genesene es gibt. Wie viele Verstorbene es gibt. Wie viele Länder es auf der Welt gibt. Wie sich dort die Zahlen jeweils entwickeln. Wie rund oder erratisch Kurven sind. Mit wie vielen Klicks man sich alle Daten zusammensuchen kann.
Wie viele Kalorien man täglich zu sich nimmt. Was man wiegt. Wie oft man jemanden sieht. Wie viele Stunden seit der letzten Begegnung vergangen sind. Die Summe der gelesenen Bücher. Aufgeschlüsselt in geborgte und besessene. Die Anzahl geschriebener Wörter. Aufgeteilt in lange und kurze. Wie viele Folgen jede Staffel einer Fernsehserie hat. Manchmal sind es unterschiedlich viele. Um wie viel Uhr es so weit ist. Bis wann die Zeit vergeht. Seit wann es uns gibt. Immer schon?
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Mein Kopf ist so randvoll mit Zahlen, und davon so verstopft, dass kaum mehr Platz für etwas anderes ist. Nicht zuletzt das Infektionsgeschehen hält uns auf Trab. Es wäre unverantwortlich, darauf nicht täglich zu schielen. Längst setzen Ermüdungserscheinungen ein, von denen mir auch andere berichten. Es ist genug. Um den Kopf wieder frei zu kriegen, muss man wahrscheinlich ans Meer fahren. Dabei ist Urlaub schrecklich langweilig, und Entspannen ist – sind wir uns ehrlich – insgeheim furchtbar anstrengend. Wer tut sich das freiwillig an? Die allergrößte Sorge vieler Landsleute gilt der nächsten Italienreise. Wer aber führt derweil unser Leben? Tun wir es lieber selbst. Das Meer gibt es auch so, lassen wir es doch mit uns in Ruhe.
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(Alte Reisenotiz: Im Bus lausche ich der einschläfernden Erzählung eines deutschen Radfahrer-Pärchens. Sie berichten einem Trio aus weißhaarigen Seniorinnen. Es geht um zurückgelegte Distanzen und gebuchte Hotels. Es ist so belanglos wie laut. Wahrscheinlich hören alle schlecht. Wie ein Live-Podcast, um den man niemanden gebeten hat. Sie bleiben mehrere Tage in Salzburg, auch die Erzählung verharrt dort. Beim Zuhören vergeht mir die Lust auf Radtouren und aufs Älterwerden.)

Die Liebe zum Meer ist wie die Liebe zum Tod: Sie steht in einem Buch.

Ich kann es nicht leiden, wenn Leute ihre eigenen Witze kommentieren. Zum Beispiel diesen hier.

Fragestellung zu Drogen: Setzt der Rausch, der wahrnehmungsverändernde Zustand, die bereits vorhandenen inneren Sehnsüchte frei oder verändert er das Wesen, wird man also zu jemandem, der man gar nicht ist?

Im U-Bahn-Gedränge rammt mir ein Mann seinen Rucksack in den Bauch, ohne sich zu entschuldigen. Eine mittelalte Frau schnauzt er blöd an, ihm gefälligst mehr Platz zu lassen, obwohl es doch für alle gleich eng ist. Ich mustere ihn. Und dabei stelle ich fest, dass ich bei aller berechtigten Abneigung noch für den größten Vollkoffer der Stadt etwas empfinde, das am ehesten als vorsichtiges Wohlwollen beschrieben werden kann; an manchen Tagen – nämlich an solchen der euphorischen Weltumarmung, der überbordenden Sehnsucht nach Verbundenheit – ist es noch mehr, ist es die Gewissheit, dass ich für jeden Mitbewohner Wiens ohne zu zögern in den Schuss hechten würde. Auch für den ungehobelten Rucksackmann würde ich es tun, sofort und ohne auch nur einen Moment des Abwägens verstreichen zu lassen – ohne mit der Wimper zu zucken, wie man sagt.
Er beschwert sich lautstark bei einem Jugendlichen, der ihm wertvolle Zentimeter U-Bahn-Boden abgeluchst haben soll. Ich betrachte ihn mit vorsichtigem Wohlwollen. Du bist und bleibst ein Vollkoffer, denke ich beseelt lächelnd, aber immerhin bist du mein Vollkoffer.

Bedrängt von Gerüchen – zum Beispiel in der U-Bahn.

7/8-Takt krault einen beim Hören behaglich gegen den Strich.

Dystopie und Utopie
Alles läuft zu auf diese eine Frage: Streben wir in eine Dystopie oder in eine Utopie?
Dystopie heißt, dass wir in Zukunft mit einem Virus ringen werden, der nie ganz unter Kontrolle zu bringen ist und in erkennbaren Zyklen auftritt. Er wird Teil unseres Alltags, in dem massive Beschränkungen von Versammlungen und Veranstaltungen aufrechtbleiben. Immunität besteht nur vorübergehend und begrenzt. Immunitätsnachweis und Impfpass als Grundvoraussetzung für Arbeitsverhältnis und Reisefreiheit, Probleme mit der Fälschungssicherheit. Nationenverbünde zersplittern sich in Einzelländer, Brücken verwandeln sich in Grenzen. Die Entwicklung von wirkungsvollen Medikamenten oder gar eines Wirkstoffes gestaltet sich schwierig. Womöglich ist der Virus gar nicht so gefährlich wie anfangs befürchtet, jedoch scheiden sich die Geister bei der Frage, was gefährlich überhaupt meint. Für Jahre verharrt die Welt im steten Wechsel zwischen Hammer und Tanz. Schockstarre. Politische Entscheidungsfindung gestaltet sich schwierig, gesellschaftliche Umbrüche sind aufgeschoben, ein konzertierter Umgang mit dem Klimawandel illusorisch. Die Staatskassen seien leer, was als Dauerargument herhalten muss. Dystopie heißt Unfrieden, Armut und Zwang.
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Utopie heißt Entschleunigung eines Kapitalismus, der sich selbst verdaut. Umdenken in allen Lebensbereichen, Rückbesinnung auf sogenannte alte Werte. Umkehr bei festgefahrenen Entwicklungen, ressourcenschonendes Wirtschaften. Angehen großer Vorhaben, neue Impulse für die Klimapolitik, Investition in erneuerbare Energie und innovative Technologie. Menschlichere Arbeitswelt, mehr Verteilungsgerechtigkeit. Aufwertung prekärer Jobs, faire Bezahlung gesellschaftlich relevanter Stellen in Gesundheit und Bildung. Wir haben erkannt, was wichtig ist, und welche Menschen wir in unserer Nähe brauchen. Festigung sozialer Kontakte, sinnstiftende Lebensführung. Blindes Konsumieren behält einen schalen Beigeschmack. Grundrechte wie Redefreiheit und Demonstrationsrecht werden nicht mehr als selbstverständlich angesehen und erfahren eine Aufwertung. In der Bevölkerung erwacht ein neues politisches Bewusstsein. Populisten haben sich selbst als unbrauchbar für Amtsgeschäfte entlarvt. Mündige Staatsbürger treiben die Wahlbeteiligung in die Höhe. Eine neue Liebe zur Demokratie ist entflammt. Der Kampf gegen den Virus ist gewonnen. Auftauchende Infektionscluster werden durch gezieltes Handeln im Keim erstickt. Der Virus wird einer von vielen. Er war der Weckruf, den es gebraucht hat, uns wieder zu uns selbst finden zu lassen. Kunst, die entsteht, hat Bestand. Utopie heißt Möglichkeit, Offenheit und Zuversicht.
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Wohin streben wir also? Irgendetwas muss es doch auf sich haben mit den seltsamen Zeiten. Aber ist das überhaupt die Frage? Müsste sie nicht eher lauten: Worin befinden wir uns? Der Blick in die Zukunft ist gar nicht nötig, denn die erklärt sich bekanntlich seit jeher aus der Gegenwart. Was jetzt also: Dystopie oder Utopie? Die Antwort lautet: Beides. Wir befinden uns weder im einen noch im anderen, genauso wie wir weder ins eine noch ins andere streben. Manchmal wird das eine mit dem anderen verwechselt. Die Zeiten waren immer seltsam. Besser seltsam oder schlechter seltsam? Anders seltsam. Wir befinden uns genau dort, wo wir hingehören, und niemand verbietet uns, woandershin zu streben. Es kann so schön sein, sich eine finstere Dystopie vorzustellen, und es macht oft so Angst, sich in eine strahlende Utopie zu versetzen. Und mit dem Aushalten einer Gleichzeitigkeit der Widersprüche geschieht der Eintritt in die Erwachsenenwelt. Wir halten es aus.

Der Sommer hat begonnen. Hat er das? (Zweifel nach zwei Tagen Regen.)