Auch das Rembrandtstraßenland ist ein Ungargassenland.
Die Verpeiltheit in Person
Ich kenne einen, der ist die Verpeiltheit in Person. Gibt es eine klare Ansage, wo genau sich ein Treffpunkt befindet und wann man sich dorthin zu begeben hat, so kann man sicher sein, dass die Verpeiltheit in Person sofort nach Ende der Erklärung Fragen stellen wird, die exakt auf die eben genannten Details abzielen. Wo sollen wir uns treffen?, wird die Verpeiltheit in Person fragen, und wann genau? Augenbrauen werden gehoben.
In der Gruppe gewöhnt man sich sehr schnell an das Gebaren der Verpeiltheit in Person. Zuerst denken manche, es sei nur eine Show, um ein Herausstellungsmerkmal zu kultivieren, dass also die Verpeiltheit in Person sich bewusst von den anderen unterscheiden, sich sogar abheben will, doch mit der Zeit begreifen alle, dass es der Verpeiltheit in Person nicht darum geht, sich krampfhaft interessant zu machen, sondern dass sie eben einfach so ist, wie sie ist: Die hängenden Schultern, die groß fragenden Augen, die ungebügelten Hemden, die vertrackten Haare, die Schlurfschritte ins Nichts sind echt, auch die kaugummikauenden Nuschelsätze, mit denen sie sich uns mitteilt.
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Die Verpeiltheit in Person macht es einem nicht leicht. Und wir schließen sie ins Herz. Mehr noch: Wir wechseln uns damit ab, auf sie achtzugeben. In der Gruppe herrscht das unausgesprochene Einverständnis, dass der Verpeiltheit in Person nichts zustoßen darf, bald ist sie sozusagen unser Maskottchen. Wir müssen sie verteidigen gegen die harten Fakten der Wirklichkeit. Rasch ist es unsere Verpeiltheit in Person, und keinem Außenstehenden wollen wir erlauben, über sie zu urteilen oder gar sich über sie lustigzumachen. Es darf nicht sein.
Plustert sich die Welt unschön auf vor der Verpeiltheit in Person, dann gehen wir dazwischen und sorgen dafür, dass wir die Ohrfeige abkriegen. Nichts und niemand darf unserer Verpeiltheit in Person auch nur ein Haar krümmen, denn wir empfinden eine verwandtschaftliche Nähe zu ihr, vielleicht weil wir uns zu gewissen Teilen in ihr erkennen. Schließlich sind wir in der Gruppe alle manchmal ein bisschen verpeilt – wer ist das nicht? Die einen sind es mehr, die anderen weniger, und oft sind wir es sehr viel öfter, als wir vor uns selbst oder vor den Menschen einzugestehen bereit sind.
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Anders als die Verpeiltheit in Person reißen wir uns zusammen, hören aufmerksam zu, wenn man uns etwas Wichtiges erzählt, wir notieren uns Telefonnummern und richten Leuten etwas aus, wir stecken den Einkaufszettel ein und begleichen rechtzeitig unsere Rechnungen. Wir organisieren unseren Alltag und führen mit Bleistift Kalender. Die Verpeiltheit in Person wiederum muss man ständig an alles erinnern, ihr Dinge nachtragen. Sie ist nicht in der Lage, für sich selbst Verantwortung zu übernehmen, geschweige denn für jemand anderes. Mir vorzustellen, dass die Verpeiltheit in Person womöglich einmal ein Kind haben wird, für das zu sorgen ihre Aufgabe wäre, lässt mich unbehaglich schmunzeln.
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Ich kenne also einen, der ist die Verpeiltheit in Person. Eine Unbekümmertheit geht von ihm aus, und jene Unschuld, die man partout in sich zu erhalten versucht, die aber – wenn man ehrlich ist – im Laufe der Jahre vertrocknet und verkümmert und sich verflüchtigt. Wir beneiden die Verpeiltheit in Person. Ach, denke ich, du mit deinem Gang und deinem Blick und deiner Haltung. Du, denke ich sanft und mit einer gewissen Wehmut, weil die Verpeiltheit in Person aus einer Zeit stammt, die es wohl nie gegeben hat. Er gähnt. Alles an ihm strahlt Verpeiltheit aus, immer ist er gerade erst aufgestanden. Wie spät ist es denn?, fragt mich die Verpeiltheit in Person. Und ich schaue auf die Uhr.
Kleinmädchenblues an der Supermarktkassa: Mami, ich hab Hunger, mir ist kalt und ich muss aufs Klo!
In Peking feierte man 70 Jahre Volksrepublik China mit einer imposanten Militärparade, bei der die teilnehmenden Soldaten Windeln tragen mussten, um auszuschließen, dass einer die Formation verlassen und seine Notdurft verrichten musste.
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In Japan entschuldigte sich der Vorstand einer Zuggesellschaft für eine um fünfundzwanzig Sekunden verfrühte Abfahrt. (Das erschließt sich mir durchaus: seinen Zug knapp zu verpassen, ist wesentlich lästiger als mit Verspätung abzufahren.)
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Auch im privaten Bereich ist zu früh kommen bekanntlich viel schlimmer als zu spät kommen: Womöglich sitzt der Gastgeber noch seelenruhig am Klo. Nachdem alles erledigt ist – der Tisch gedeckt, der Wein gekühlt, die Sitzkissen flachgeklopft – gönnt sich der Arme ein paar Minuten des Innehaltens vor der angenehmen Aufregung eines stimmigen Empfangs. Lassen wir sie ihm doch.
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Wer eine Verspätung ankündigt, muss auf ihr beharren. (Die Ankündigung hat wohlgemerkt rechtzeitig zu erfolgen.) Angenommen, man hat ausgemacht, einen Bekannten um zwanzig Uhr abzuholen, bemerkt jedoch, dass es womöglich knapp werden könnte und verschiebt die Abholung höflichkeitshalber auf zwanzig Uhr fünfzehn – so lautet nun die neue ausgemachte Zeit. Angenommen, man beeilt sich und schafft es nun doch bereits um Punkt zwanzig Uhr vor die Haustür des Bekannten – man darf nicht läuten. Der Bekannte hat sich auf die Verspätung eingestellt. Vielleicht putzt er noch rasch die Zähne oder löffelt eine Schüssel Cornflakes – alles legitime Verrichtungen, die zu unterbrechen man kein Recht hat.
Wer entgegen aller Annahmen, sich selbst überholt und die angekündigte Verspätung abfängt, also im ursprünglich rechtzeitigen Moment auftaucht, muss warten und eine Runde um den Häuserblock drehen. Erst um zwanzig Uhr fünfzehn – keine Minute früher oder später – läutet er die Glocke des Bekannten. So ist mit einer angekündigten Verspätung zu verfahren. Wer dringend auf die Toilette muss, kann ja zur Sicherheit eine Windel anziehen wie ein braver chinesischer Soldat.
Wie rechthaberisch ich heute wieder bin – herrlich! (Wenn man Recht hat, ist nicht rechthaberisch sein halt schwer.)
Die Gesellschaftskritik
Sie würde es tun. Und wenn sie es getan hatte, dann würde es kein Zurück mehr geben für die Welt, dann wäre der Reset-Knopf gedrückt, konnte alles von Null beginnen. Ob die Menschen es ihr danken würden? Manche bestimmt. Jene nämlich, die nicht profitierten vom System, sondern die zwischen seine Räder geraten waren und keine Aussicht auf eine Veränderung hatten. Die Hackerin klopfte ein paar Codezeilen in die Tastatur. Ihre Form der Kritik bestand darin, etwas in die Luft zu sprengen.
Jahrelang hatte sie an ihrem Plan gefeilt, ihn ausgetüftelt bis ins letzte Detail. Alle Firewalls waren überklettert oder untertunnelt, alle Sicherheitslücken zur Gänze ausgenutzt. Unbemerkt von den teuren Experten hatte sie ihre Sprengkörper hinterlegt, sie wie Dominosteine aufgestellt, sodass mit einem Handstreich einer den anderen auslösen konnte. Die Welt war einen Tastendruck vom Neuanfang entfernt.
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Die Hackerin knackte mit den Fingern und stellte sich genüsslich eine Zukunft vor, in der es gerechter zuging als heute. Jede Geburt war mit Schmerzen verbunden. Das globale Finanzsystem würde zusammenbrechen, unser Bankenwesen zu existieren aufhören. Alle Schulden würden getilgt sein, Währungen zu haltlosen Behauptungen werden. Und was kam dann? Die Hackerin wusste es nicht. Und wie gut tat es, die eigene Geschichte selbst fortzusetzen.
Sie schaute hinaus in den späten Nachmittag eines müden Donnerstag. Kein Mensch war unterwegs. Ihr Mittelfinger ruhte auf der Enter-Taste. Schade fand sie nur, wie leicht man es ihr gemacht hatte. Ein bisschen herausfordernder hätte die Umsetzung ihres Plans schon ausfallen dürfen. Die Hackerin gefiel sich. Das war ihr Moment. Die Zeit blieb stehen. Danke, Welt – war schön mit dir. Enter. Reset.
Titel einer Rede zu einem gewichtigen Anlass: Vom Wagnis, man selbst zu sein.