Lieber Diego,
ich schreibe dir, um mich zu verabschieden. Ehrlich gesagt wollte ich das schon viel früher machen, habe es dann aber immer weiter nach hinten verlegt. Vor zwei Wochen wollte ich mich daran machen, vor einer. Jetzt endlich ist es so weit. Entschuldige bitte, dass ich mir damit so lange Zeit gelassen habe. Du kannst dir vorstellen, dass hier auch schlechtes Gewissen im Spiel ist. Du wirst sterben, Diego. Aber dazu später mehr.
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Eine atemlose Dystopie, im Zuge einer unbenannten Katastrophe globalen Ausmaßes verschwindet die gesamte Menschheit vom Antlitz der Erde, kapitelweise wird heruntergezählt von sieben Milliarden auf null, ohne doppelten Boden oder Aufwachen aus einem Albtraum, ein Archivar bemüht sich, die Geschehnisse festzuhalten. Ein exemplarisches, traumartiges Fest. Sieben Menschen treffen sich in einem Praterhaus, um gegen etwas anzuschreiben, dabei entsteht eine Säule aus Licht, die in den Himmel schießt, Geburt des ersten Kindes im Weltall, eine Kreismaschine wird in Gang gesetzt, etwas bricht auf, von der Wirklichkeit spaltet sich eine Möglichkeit ab, die Menschen führen zwei Leben, eines als sie selbst, das andere als Kopie, eine Klartraumgeschichte, Propaganda für das Assoziat als literarische Mischform. Entwicklungsroman in der Großstadt, Künstlerwerdung und obskure Projekte, Japanreise in eine normierte Gesellschaft, die Umwege Wiens, das Glück des langen Blicks auf kleine Dinge. Ein Schreibender erwacht in einem sterilen Raum, alles ist bereit für einen langen Aufenthalt, ein Sessel und ein Tisch mit ausreichend Papier, er schreibt und erzählt, nach und nach wird er versetzt in weitere, immer offenere und lebenswertere Räume, Betreten einer Zeitschleife, Begegnung mit sich selbst. Autobiographisches Schreiben am Erinnerungsbuch, letztes Finden des Assoziats als Form, sich trauen, ich zu sagen, mit eigener Stimme und fragendem Ton. Ich habe die Welt meiner Bücher betreten. Es war immer klar, dass es ein Narrativ geben wird. Vielleicht gibt es den Virus ja nur, damit wir alle davon erzählen. Ich habe im Narrativ einen Frühling lang meine Bestimmung gefunden – und du hoffentlich auch.
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Tja, Diego, das war sie also, meine persönliche Absorbierung des lokalen Weltgeschehens, das wird sie bald gewesen sein. Bist du zufrieden? Ich auch nicht. Aber einen Versuch war es wert. Was können wir denn auch anderes tun, als gewissenhaft weiterzuscheitern? Eben. (Es gibt übrigens den Entwurf eines Briefes von dir an mich, um dich auch einmal zu Wort kommen zu lassen. Doch diesen Plan habe ich verworfen. Die strikte Regel der einseitigen Kommunikation wollte ich dann doch nicht brechen. So vieles im Leben ist lauwarm und schwammig, da tun ein paar kalte Gesetze ganz gut, die kann man sich notfalls ja selbst auferlegen. Es geht darum, aus der Not eine Tugend zu machen. Dass du mir nicht antwortest, hat für mich den Nachteil, von dir zur Weiterarbeit keine Impulse zu bekommen. Der Vorteil ist natürlich, dass ich nie auf Antwort warten muss. Das kann recht mühsam sein. Gibt es etwas Egozentrischeres, als Briefe an jemanden zu schreiben, den es nicht gibt? Wir sind verlorene Kinder. Man hat uns irgendwo vergessen an einer Ecke der Stadt, aus der wir nicht mehr alleine nach Hause finden.)
Hörst du es? Genau. Da ist nichts, nur Stille. Von ihr geht etwas aus. Sie scheint uns etwas vorauszuhaben, eine wichtige Sache zu wissen, die sie nur mit uns teilt, wenn wir aufmerksam zuhören. Das tun wir ein bisschen. Bleib einfach kurz stehen. Ach, Diego. Das Gute, wenn man verrückt ist – man kann es nicht mehr werden.
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Ich habe geschrieben am offenen Patienten, forschte in die Erkrankung hinein. Das Narrativ als Zeitkapsel von mir an mich, vergraben im eigenen Kopf. Immer mehr Skizzen und Notizen und unterschiedlich weite Vorstufen des Geschriebenen habe ich abgearbeitet, und immer mehr sind es dabei geworden. Es war so viel zu erzählen. Das war ich mir schuldig. Und je richtungsloser und überbordender die Inhalte, desto strenger und konkreter muss die Form sein, in die man sie gießt. Das kennst du schon. Ich sage es so gern, weil es so wahr ist. Ich liebe es, die Formstrenge zu lieben. (Ein erbauliches Nachdenken, ausgelagert aus dem beschleunigten Fluss sozialer Netzwerke. Beharren auf Rechtschreibung und Beistrichsetzung und Strichpunktgebrauch und Doppelpunktanschluss, auch muss auf kompromisslose Vereinheitlichung der Schreibweisen geachtet werden. Es kann nicht zuerst von einem Arzt-Freund und später von einem Arztfreund die Rede sein; das schafft Inkonsequenz und stiftet Verwirrung – und das ist das Letzte, was wir jetzt brauchen.)
Es gibt einen Ort für unsere Ideen. Dieser Ort ist ruhig und mild. Hier sind wir ganz bei uns. Es ist ein reizvolles – und heilsames – Gedankenexperiment, sich vorzustellen, dass sich alles, wirklich alles nur in unerem Kopf abspielt. Ich sage ja: Man kann es nicht mehr werden.
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Du fragst dich sicher, wo jetzt alle sind. Ich möchte versuchen, es dir zu erzählen. Schriftsteller Alfred übersetzt. Kommunikationsdramaturg Erwin kuratiert. Die ferne Bekannte verkostet Wein. Lektorin Merle lektoriert. Der Tiroler Pirat weist auf Fehler hin. Die Mutter kocht. Der Kulturkoch ist auf Kur. Der Bruder liest Comics im Garten. Der Bundeskanzler regiert. Der Innenminister nuschelt. Der Gesundheitsminister hat einen grünen Daumen. Der Ober-Virologe wird zugeschaltet. Der Bundespräsident verplaudert sich am Wein. Die Menschensammlerin schweigt sich aus. Die Krückenfrau sitzt in der Bäckerei. Die Schnitzelfrau hat eine Tochter. Die chinesische Supermarktfrau legt eine Limette ins Sackerl. Die Dichterin kennt Wörter mit Vokalen. Der Postler grüßt. Der Mistkübler leuchtet orange. Der Lehrer-Freund schaut mit der Klasse Filme. Die Kuchenschmugglerin hat eine Fahrradbrille. Die steirische Schneiderin lernt. Die brasilianische Hackerin gibt es nicht. Der Anwalts-Freund verdient pro Stunde gut. Der Arzt-Freund ist müde von der Nachtschicht. Sie alle sind noch da. Und die anderen? Gibt es auch.
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Es wird ein sanfter Tod sein. Ich habe dich zur Welt gebracht, und ich werde dich töten. Du kannst mir glauben: Ich wollte niemals ein Gott sein. In manche Jobs rutscht man einfach so durch Zufall hinein. Mit dem Narrativ endet auch dein Auftrag, es zu konservieren. Von einem Moment auf den anderen wird es dich nicht mehr geben. Sei unbesorgt. Ich bin der sanfteste Mörder, den du jemals haben wirst. Es tut mir Leid.
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Die große Wanderlust ist ausgebrochen. Alle planen den Sommer, viele bleiben im Land. Alle steigen auf irgendeinen Berg oder kraxeln durch irgendwelche Täler. Munter geht es auf und ab. Sie wandern als Gruppen oder zu zweit als solides Paar, selten auch allein. Gerastet wird auf irgendwelchen Hütten mit Wind. Ich kann es ja verstehen. Die Menschen wollen zurück in die Natur, frische Luft atmen, in einen kalten Bergsee springen, weil das so erfrischt. Die Fotos werden schön sein, und die Menschen darauf schön. Dabei könnte man die Stunden des Marschierens über Wiesen auch mit dem Lesen von Büchern verbringen. Etwas anderes zu tun, muss gut begründet sein.
Ich möchte nicht wandern gehen. Natur ist fad. Die einzige Landschaft, die es wert ist, durchschritten zu werden, bleibt die Stadtlandschaft. Selbst am Sonntag, wenn die Geschäfte geschlossen sind, bleibt sie interessant. In den Auslagen kann man sich all die Dinge ansehen, die man nicht haben will und nicht braucht. Kaum zu glauben, wie viele Dinge es überall gibt. Als wäre die Welt nur da, um dafür Platz zu haben. Vielleicht sollte ich doch hinaus, wo gar nichts ist.
Ich werde mich bemühen, langsamer zu sein. Von jetzt an möchte ich alles in Zeitlupe machen. Am besten wäre es, ein Stein zu sein, der in einem Fluss liegt, oder in einem Bach, dessen Wasser fröhlich auf mich einplätschert. Ein Stein ist die zu Ende gedachte Langsamkeit, ein unbelebtes Objekt, die endgültig feste und beständige Form. Niemand spricht einen an, was gut ist, denn man könnte ja auch gar nicht antworten. So ähnlich wie du. Also, von jetzt an, zehn Mal langsamer als sonst.
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(Zeit vergeht.)
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Seitdem ich mich der neuen Langsamkeit verschrieben habe, komme ich zu viel mehr. Je langsamer ich durch die Stadt spaziere, desto interessanter wird jeder Mensch, dem ich unterwegs begegne. Zu jedem einzelnen fallen mir tausend Geschichten ein, und alle wären es wert, erzählt zu werden. Jetzt, da ich so viel mehr Zeit habe, komme ich sicher dazu. Ein Stein bin ich zwar noch nicht geworden, aber werfen können mich die anderen versuchsweise ja. Ein komisches Gefühl.
Das Gefühl geht so: Nichts haben, aber auch nichts brauchen. Oder als würde es alles geben und alles fehlt. Es ist zwar interessant, aber nicht mehr so wichtig. Es wäre schön, mit jemandem Zeit zu verbringen, doch es hängt nicht mehr das Leben davon ab. Vielleicht ist es das, was Leute meinen, die Glück beschreiben als Abwesenheit von Unglück. Das scheint mir aber schon zu hoch gegriffen. Eigentlich heißt es nur, dass man am Fenster sitzt und Zeit vergeht. Mehr kann man sich nicht wünschen. Vielleicht probiere ich das mit dem Wandern doch einmal aus. So ein Sommer geschieht ja nicht von selbst.
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Ich habe jetzt schon ungefähr ein Prozent des Lebens verstanden, hoffe aber, dass es demnächst noch mehr sein wird. Man sollte sich trauen, viel langsamer zu sein, hundertmal oder tausendmal langsamer, es so weit treiben, dass man eine negative Geschwindigkeit erreicht, um rückwärts in der Zeit zu reisen und Dinge geschehen zu lassen oder ungeschehen zu machen. Auch das eine Unmöglichkeit.
Wir führen zwei Leben. Ein pragmatisches, alltägliches und ein besonderes, mögliches. Beide sind wichtig, um bei Sinnen zu bleiben. Manchmal wachen wir aus dem einen ins andere auf, und umgekehrt. Das kann verwirrend sein. Jemand wacht auf und denkt, er befindet sich im einen Leben, dabei ist es das andere. Er braucht dann ein paar Sekunden, den Blick scharf zu stellen und sich einzugestehen, wo er sich befindet. Diese Lücke, die entsteht, füllt man zum Beispiel mit Gedichten oder ähnlichen Hervorbringungen. Es gibt auch andere Arten der Freizeitgestaltung.
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(Zeit vergeht.)
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Es gibt keine wichtigere Fähigkeit, als in Würde loszulassen. Im Kern ist das Narrativ unsere Geschichte. In Wahrheit bist du es, der alles erzählt. Ich schreibe nur mit. Du bist der Körper, und ich bin der Bot. Man kann es nicht mehr werden. Zeit vergeht. Im Wald plätschert ein Stein. Ganz sanft. Ich werde da sein, wenn es so weit ist.
Für jede Sache, die klappt, gibt es neun, die nicht klappen. Das scheint wahnsinnig entmutigend. Eigentlich besteht überhaupt kein Grund, irgendetwas zu versuchen. Die Chancen stehen gut, dass man sich daran die Zähne ausbeißt. Aber alle neun Sachen, die nicht klappen, gibt es diese eine Sache, die klappt. Manchmal, Diego, gibt es überhaupt keine Möglichkeit mehr. Und weißt du, was es dann immer noch gibt: Die Möglichkeit für eine Möglichkeit. Und das ist doch besser als nichts. Gestern hat es geregnet. Irgendwo spielt jemand Klavier. Hörst du es?
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