Ich erinnere mich.
Ich erinnere mich an den Podcast der New York Times vom siebenundzwanzigsten Februar, in dem der Wissenschafts- und Gesundheitsreporter Donald G. McNeil Jr. sagte: I spend a lot of time thinking about whether I’m being too alarmist or whether I’m being not alarmist enough. And this is alarmist, but I think right now, it’s justified. This one reminds me of what I have read about the 1918 Spanish influenza.
Es war das erste Mal, dass ich stutzig wurde und mir die Möglichkeit einer globalen Pandemie ins Bewusstsein trat. Ich saß nachmittags in einem Innsbrucker Hotelzimmer und hörte einem erfahrenen und kompetenten Journalisten zu, der vorsichtige Parallelen zur Spanischen Grippe zog. Too alarmist oder not alarmist enough – zwischen diesen beiden Polen würden sich die kommenden Entscheidungen und Maßnahmen bewegen, genauso wie unsere Diskussionen. Zukunftsbilder bauten sich vor mir auf. Er wolle nun wirklich kein Alarmist sein, wiederholte McNeil mehrmals, doch er müsse der Sache ganz nüchtern einen gewissen Ernst attestieren, der manche vielleicht überraschen mag.
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Am späteren Abend, nach einer erfreulichen Veranstaltung, bei der noch weitgehend normal begrüßt und verabschiedet wurde, las ich mir den Eintrag zur Spanischen Grippe der Freien Enzyklopädie in voller Länge durch. Die gebündelten Informationen versetzten mich in einige Unruhe. In der Chatgruppe mit Anwalts-Freund und Arzt-Freund machte ich mich darüber lustig. (Die Gruppe trägt den Titel Geschmackssichere Witze, und ausschließlich dafür ist hier Platz, anders als in der Vorgängergruppe namens Geschmacklose Witze, in der wiederum ausschließlich dafür Platz gewesen ist.)
Ich erinnere mich, in Anlehnung an Donald G. McNeil Jr. ebenfalls launige Vergleiche mit der Spanischen Grippe gezogen zu haben, vor allem in Bezug auf die berüchtigte zweite Welle, mit der wir es im Herbst oder Winter zu tun haben könnten. Diese sei es dann, schrieb ich, die uns natzen werde. Auch deshalb, weil wir in Europa vorerst recht glimpflich davonkommen, und in weiterer Folge die Gefährlichkeit der Krankheit verhängnisvoll unterschätzen würden. Ich schickte meinen Freunden Screenshots von Statistik-Updates der Johns Hopkins University (viele sagen fälschlich John Hopkins, was naheliegender wäre), und machte mich gleichzeitig mit bissigem Sarkasmus lustig über die eigene Panikmache. In dieser Nacht schlief ich schlecht.
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Jetzt erleben wir das Abklingen eines Infektionsgeschehens, auf das wir längst keine Lust mehr haben. Eigentlich ist es das: Wir haben keine Lust mehr darauf. Es interessiert uns nicht mehr. Wir glauben, dass die Pandemie vorbei ist, weil sie hierzulande vorbei ist. Andere Weltteile scheinen so weit entfernt wie sie sind. Es interessiert uns nicht mehr, und wahrscheinlich haben wir Recht. Vielleicht ist uns alles viel egaler, als es uns geworden sein sollte. And this is alarmist, but I think right now, it’s justified.
Auch ich selbst habe keine Lust mehr, mich noch weiter mit dem Virus und seinen Auswirkungen auf unser Leben zu befassen. Corona hängt mir zum Hals heraus. Niemand soll mir mehr davon erzählen. Wer mich auf etwas hinweist, dem werfe ich es vor. Der Virus braucht keinen neuen Aspekt. Ich habe dazu nichts mehr zu sagen und werde die nächsten Tage damit verbringen, für das Narrativ einen würdigen Abschluss zu finden. Sollte es eine zweite Welle geben, wie von manchen prophezeiht, dann darf sie uns ruhig überrollen. Es interessiert mich nicht mehr.
Ich erinnere mich an drei mögliche Katastrophenszenarien vom siebenundzwanzigsten Februar.
Erstens: Der Bus legt sich allzu sehr in die Kurve, und der Suppentopf kippt um. Man stelle sich vor, die ganze schöne Suppe ergießt sich über den Boden, die Leute treten mit ihren Schuhen hinein. Deshalb ist es wichtig, den Topf gut zu befestigen und ihn zusätzlich festzuhalten.
Zweitens: Beim Hochtragen des Topfes in den zehnten Stock rutscht man aus und fällt hin, der Inhalt ergießt sich über den Gang. Das wäre umso bedauerlicher, da man doch bereits am Ziel war, und den schweren Suppentopf mühsam bis ganz hinauf befördert hat an seinen eigentlichen Bestimmungsort.
Drittens: Die Suppe wird schlicht und einfach zu Hause vergessen. Man macht sich auf den Weg, fährt mit dem Bus – der sich nicht allzu sehr in die Kurve legt –, man stapft festen Schrittes bis hinauf in den zehnten Stock – wo man nicht ausrutscht –, bemerkt dann jedoch direkt nach seiner Ankunft, dass man den eigentlichen Grund seines Hierseins nicht mit sich trägt – die Suppe. Man steht mit leeren Händen da und guckt dumm aus der Wäsche. Wieder umzukehren und die vergessene Suppe zu holen, das zahlt sich kaum mehr aus. Es bleibt einem also nichts anderes übrig, als mit leeren Händen dazustehen und betreten den Kopf zu schütteln. Für Trost sorgen verständnisvolle Mitmenschen und das eine oder andere Bier. Man schämt sich für seine Vergesslichkeit. Eine absolute Horrorvorstellung, unbekümmert suppenlos im sanften Bus zu stehen.
Ich erinnere mich, dass glücklicherweise keines dieser drei möglichen Katastrophenszenarien eingetreten und die Suppe wohlbehalten im zehnten Stock angekommen ist. Sie hat gut geschmeckt.
Ich erinnere mich an eine Privataudienz im Innsbrucker Brenner-Archiv am achtundzwanzigsten Februar. Die wertvollsten Schätze lagerten in einem bulligen Safe. Die Briefe Wittgensteins waren überraschend lesbar. Trakl schrieb mit hauchzartem Bleistiftstrich, wie gedruckt. Welch schöne Handschriften die Leute damals hatten. In hundert Jahren wird es über unsere Generation einmal heißen: Schaut, damals haben die Leute manchmal noch mit der Hand geschrieben, wie niedlich! Rilke hat in seinen Briefen Gedichte verschickt. Da war Dichten noch etwas. Schwer lastet die Gegenwart von Karl Kraus in den hellen Räumen, der so streng schaut, dass man mithalten will.
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Die Archivarin griff das Papier mit bloßen Händen an, was mich sofort erschreckte. Schweißbildung auf Fingerkuppe, dachte ich. Doch dieser Umgang sei der aktuellste Stand der Forschung. Ihre berühmten weißen Stoffhandschuhe würden die Mitarbeiter nur überstreifen, wenn das Fernsehen da sei. Dann spiele man Archiv. Auf lange Sicht könne die Haut für das Material schonender sein. Ich würde mich niemals trauen, eines dieser kostbaren Papiere auch nur flüchtig mit halbem Finger zu berühren. Beigelegte Fotos waren ausschließlich in Papierhüllen verstaut, denn Plastikfolien würden gerade der Bleistiftschrift arg zusetzen. Wir befanden uns im zehnten Stock, damit sei alles absolut hochwassersicher. Und vor Feuer schütze der Safe. Auch diese Menschen haben gelebt, dachte ich, und auch sie haben geschrieben. Ich erinnere mich, dass auch sie gestorben sind.
Ich erinnere mich an das Radio-Interview des Gesundheitsministers am ersten März. Bei einem Frühstück plauderte er locker über Topfpflanzen und seinen grünen Daumen, auch über seinen lieben Hund, der sich gut mit der Katze vertrage. Sein psychischer Zusammenbruch wegen Überarbeitung einige Jahre zuvor wurde ebenfalls behandelt, und welche Schlüsse er für sich persönlich daraus gezogen habe. Es fiel das Wort Kraftort. (Dieses Wort sollte verboten worden. Wenn noch einmal jemand Kraftort sagt, gibt es Tote.) Der Virus kam am Rande vor. Wir sollten uns wappnen für den Ernstfall, der Minister sei jedoch zuversichtlich, dass es keine massiven Einschränkungen wie Geschäftsschließungen geben werde. Bald ging es im Interview wieder um Pflanzen und Tiere.
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Ich erinnere mich, in der Küche beim Abwasch gestanden zu sein und den Gesundheitsminister nicht gemocht zu haben. Wir befanden uns am Beginn der Pandemie. Ich erinnere mich, höchst irritiert darüber gewesen zu sein, nur Tage zuvor in einem amerikanischen Podcast ganz andere Einschätzungen gehört zu haben. Da wurden ganz andere Töne angeschlagen, nämlich ernstere. Die Frühstücksfrau interessierte sich mehr für softe Themen wie Sinn des Lebens, Glück in der Liebe und eben Kraftorte. Schwierige Dinge sind anstrengend. Ich erinnere mich, mir gedacht zu haben, dass wir den Amerikanern ein paar Tage hinterherhinken. Das ist halt die New York Times, dachte ich. Während sie dort erste Studien aus China analysieren, wird bei uns der grüne Daumen des zuständigen Ministers in den Mittelpunkt gestellt. Beides ur interessant.
Ich erinnere mich an den Sandler im Park neben der Kirche auf einer Bank in Wien. Es war der dritte März. Ich saß ein paar Bänke weiter. Der Sandler teilte sich eine Flasche mit seinem Kollegen. Immer wieder musste er unterbrechen, weil ihm ein Hustenanfall dazwischenkam. Der Sandler war stark übergewichtig und saß da mit hochrotem Kopf. Er hustete massiv. Ich erinnere mich, mir dieses Wort gedacht zu haben. Seinen Kopf nannte ich einen Luftballon kurz vorm Platzen. Er hustete immer weiter, und immer heftiger, dass er sich nicht mehr sinnvoll am Gespräch beteiligen konnte. Sein Kollege stand auf und entfernte sich, die Flasche nahm er mit. Anstatt sich zu verabschieden, nickte der hustende Sandler zum Abschied. Er holte keuchend Luft, dann ging es wieder los. Ein waschechter, ungustiöser, feucht schmatzender Hustenanfall, dachte ich und wärmte meine Bank.
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Langsam machte ich mir Sorgen. Es war kein Ende in Sicht, irgendwann würde der Kopf des Sandlers tatsächlich so rot werden, dass er platzte, oder er bekam keine Luft mehr, kippte von der Bank und brach auf dem Kirchenvorplatz zusammen. Irgendjemand würde dann herbeieilen und ihn beatmen müssen (Mund zu Mund), oder sogar wiederbeleben, sollte sich der Anfall in einen Herzinfarkt steigern. Das wollte ich mir ersparen. Mir grauste vor den schrundigen Lippen des Sandlers. Seine Alkoholfahne wehte bis zu mir in mein Gesicht. Bei meinem Ekel spielte nicht zuletzt die propagierte Ansteckungsgefahr eine Rolle.
Ich musste dringend Distanz herstellen, um nicht derjenige zu sein, der am wenigsten weit von ihm entfernt war, wenn der Moment des Zusammenbruchs kam. Er hustete. Ich sah ihn schon wie einen Sack Zement nach vorn kippen und regungslos am Kirchenvorplatz liegen. Er holte Luft. Ich nicht, dachte ich. Er hustete. Ich werde nicht derjenige sein, der deine Halspartie freimacht, meine Lippen deinen Lippen aufpfropft und dir rettenden Atem einstößt. Er holte Luft. Ich sicher nicht. Er hustete. Ich packte meine Sachen und spazierte weiter. Den Sandler ließ ich mit seinem Husten allein.
Ich erinnere mich an das letzte unbeschwerte Wochenende vor dem großen Lockdown im Burgenland vom sechsten bis zum achten März, eine Literaturveranstaltung mit mir bisher unbekannten Kollegen, deren Werke mich allesamt fesselten und überzeugten. Corona war bereits angekommen, im letzten verbleibenden Bundesland genauso wie in unseren Köpfen. Wir scherzten darüber und gaben uns die Hand. Auf der Hinfahrt notierte ich: Sich verteilen in einer spärlichen Landschaft, die rein aus Vergangenem besteht.
Bissige Altnotiz aus dem Burgenlandbus (mit der Überheblichkeit des flammenden Städters): Wenn jetzt plötzlich der Virus ausbricht und die Hälfte der Bevölkerung ausstirbt, dann wäre es hier auch nicht ausgestorbener als davor.
Der Bus rumpelte mich voran. Bei den jeweiligen Stationen wurde nur dann stehengeblieben, wenn man rechtzeitig den Halteknopf drückte, jedoch gab es weder Durchsagen noch eine Anzeige, nicht einmal einen vergilbten Aushang mit veralteten Zeiten. Diese Abwesenheit von Hilfestellungen legte einem nahe, Kontakt zu den einheimischen Passagieren zu knüpfen oder jedenfalls einen kleinen Plausch mit dem Fahrer zu starten; sie forderte einen heraus, den Blick aus dem Smartphone in die Landschaft zu heben, und weiterzulenken ins Innere des Busses, um sich einen ungefähren Eindruck der anderen und ihrer Hilfsbereitschaft zu machen. So kam man ins Reden. Ich fragte einen Mann um Rat, und er half mir. Nach dem Aussteigen wartete ein Fußmarsch von ein paar Kilometern auf mich. Den Rollkoffer im Schlepptau bewegte ich mich zielsicher voran.
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Bereits ein paar hundert Meter von der Erlebnistherme hörte man das feierliche Jauchzen der Kinder, wie sie die angeblich längste Virtual Reality Wasserrutsche der Welt hinunterprasselten. Eine zelebrierte Ausgelassenheit, die man von Erwachsenen im nüchternen Zustand gar nicht kennt.
Ich checkte ein, versorgte meine Sachen und wunderte mich zum ersten Mal überhaupt, dass Hotelzimmer gleich neben der Eingangstür einen (oft mit Aufkleber auch explizit so bezeichneten) Hauptschalter zum Aktivieren des Stromkreises haben. Wie in einer Fertigungshalle, dachte ich.
Die Lesungen und musikalischen Beiträge waren von hervorragender Qualität, auch die Verpflegung. Die Gastfreundschaft der Gastgeber suchte ihresgleichen. Nach dichtem Programm stellte sich im Seminarraum des burgenländischen Thermenhotels eine wohlige Nachmittagsmüdigkeit ein, die nur von mehreren Tassen starken Kaffees halbwegs in Schach gehalten werden konnte. Die überschlagenen Beine waren längst eingeschlafen. Ich erinnere mich, niemals ein besseres Gefühl gekannt zu haben.
Ich erinnere mich – ist es nicht der älteste Trick des Schreibenden, einen Satz mit ich erinnere mich anzufangen? Irgendetwas wird daraus schon entstehen, an irgendetwas wird man sich ja wohl erinnern, ob man will oder nicht. Und irgendetwas wird darauf folgen, womöglich eine andere Erinnerung. Irgendjemand wird darin zum Vorschein kommen, dessen Stimme man noch im Ohr hat. Irgendein Bild wird auftauchen und wieder verschwinden. Ein Erinnerungsbuch mit Abschnitten, die jeweils mit genau dieser Eingangsphrase beginnen, gibt es sicher längst. Das könnte ewig gehen. Ich erinnere mich, dass ich mir alles merken wollte, um mich später daran erinnern zu können. Manches ist noch da, anderes verschwunden.
Ich habe mich erinnert.