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20 Sonntag, 05.04.2020

Im Parlament regiert die autokratische Versuchung.

Die Pressekonferenzen der Kabinettsmitglieder klingen wie der feierliche Abschied von etwas.

Ärzte haben zweierlei Schutzmasken: Beruflich die richtige für ihre Arbeit im Krankenhaus beim Behandeln der Patienten. Und privat die bunt gemusterte Schmähmaske oder Ziermaske aus Stoff beim Einkaufen im Supermarkt, um die Maskenpflicht der Regierung umzusetzen; aus einschichtigem, nicht zertifiziertem Material, das keinen Schutz vor Tröpfcheninfektion bietet.
Die Ärzte wissen, wie sinnlos und verschwenderisch die Maßnahme ist, wie kontraproduktiv sogar, da Kinder und Ahnungslose sich verstärkt ins Gesicht greifen, haben nun jedoch andere Sorgen, als ihre Fachmeinung in den Ring zu werfen gegen ein gefährliches Halbwissen, das um sich greift. (Außerdem schießen sie jetzt ja ohnehin aus dem Boden, die pseudowissenschaftlichen Studien zur positiven Wirkung einer maskierten Allgemeinbevölkerung. Mit einer Plötzlichkeit, die staunen macht. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. Unwidersprochen bleibt: Bei richtiger Anwendung ist die Maßnahme sinnvoll; diese wird gewährleistet durch Aufklärung und anhaltende Bewusstmachung. Ich selbst als Brillenschlange bin davon besonders überfordert.)
*
Die Menschen tragen Masken wie Kinder ihr Spielzeug. Beim Aufsetzen werden sie am Vorderteil zurechtgezupft, beim Abnehmen wird sich munter an Nase und Mund gefasst. Die Menschen tragen ihre Masken zu locker oder um neunzig Grad verdreht. Ausgeteilt werden sie beim Eingang mit der groben Semmelzange. Beim Verlassen des Supermarkts werfen die Menschen die Einwegmasken achtlos zu Boden. (Der millionenfache Maskenverschleiß setzt einen originellen Kontrapunkt zum umweltschonenden Lahmlegen des globalen Flugverkehrs.)
Die Maske eines Supermarktangestellten geht nicht über die Nase; jene seines Vaters ebensowenig, mit dem er sich angeregt über Getränke und Brot unterhält. Überhaupt gehen Masken selten über die Nase, oder werden kurzerhand unters Kinn geschoben, um mit jemandem zu plaudern. Maskenpflicht ohne Kontrolle ist wie Gurtpflicht ohne Kontrolle: Wir wickeln uns die Schlaufe dreimal um den Bauch, und dürfen weiterfahren. Aber sind wir deshalb angeschnallt? Maskenpflicht mit Kontrolle wäre ja noch schöner. Schaut rings umher, wohin der Blick sich wendet: Es ist ein gutes Land!
*
Die Masken sitzen allgemein schief. In der Schlange zum Vordermann lasse ich einigen Abstand. Eine junge Frau mit Rucksack schwindelt sich dazwischen und gibt vor, nicht bemerkt zu haben, dass ich der Nächstgereihte war. Wahrscheinlich, denke ich, macht sie das öfter, mogelt sich in diese neu entstandenen Zwischenbereiche. Ich verfluche sie, halte aber still. Habe ich nicht – haben wir alle nicht – andere Sorgen? Die Rucksackfrau ist stark tätowiert. An der Kassa nimmt sie einige Päckchen mit Blumensamen aus dem Drehständer. Blühen darf der Frühling ja. Ein Tattoo schlängelt sich verwegen um den Hals. Sie kommt an die Reihe. Vielleicht geschieht es ohne böse Absicht.

– Ich möchte bitte nicht in deinem depperten Notizbuch vorkommen.
– Okay.
– Versprichst du es mir?
– Mhm.

Die Post ist langsamer geworden. Was früher zwei oder drei Tage brauchte, ist jetzt mehr als eine Woche unterwegs. Doch man kann ihr vertrauen. Ich bin ein großer Freund der Post. Neulich beim unförmigen Buchbrief der Menschensammlerin klebte ein aufschlussreiches Pickerl am Kuvert:
Sehr geehrte Postkundin, sehr geehrter Postkunde!
Die Verpackung Ihrer Sendung wurde leider beim Transport
beschädigt oder verschmutzt, daher haben wir die Verpackung
ausgebessert. Dabei wurden keine Mängel an der Ware festgestellt.
Ihr Qualitätsmanagement der Post

Zum ersten Mal seit Langem wieder in der Filiale einer Bäckereikette. Ich bin der einzige Kunde. Hinter der Theke ist niemand zu sehen. Mein Auge fällt auf eine satt eingeringelte Zimtschnecke. Die Verkäuferin erscheint aus einem Hinterzimmer, legt das Exemplar einer Gratiszeitung weg.
Ich: Nicht viel los heute, oder?
Verkäuferin: Nein, in letzter Zeit nicht.
Ich: Schon auch fad auf Dauer.
Verkäuferin: Naja, solange ich fürs Nichtstun bezahlt werde, passt es mir eh. Ich lese halt den ganzen Tag Zeitung oder – … (wahrscheinlich denkt sie daran, dass sie viel ins Handy starrt.)
Ich: Eine Zimtschnecke, bitte.
Verkäuferin: Einmal eine Zimtschnecke.
Ich: Und mit der Familie?
Verkäuferin: Die Tochter habe ich eh abgeben können.
In der Schule? Bei der Oma? Bei einer Bekannten? Ich spare mir die Nachfrage, denn das geht mich nun wirklich nichts an. Ich bezahle, nehme die verpackte Schnecke am Papierkragen und verabschiede mich. Die Verkäuferin kehrt in ihre Zeitung zurück.
*
Ihr Satz hallt in mir nach: Solange ich fürs Nichtstun bezahlt werde, passt es mir eh. Ja, denke ich, das kann ich mir schon vorstellen, dass es ihr passt, aber wenn sie noch länger fürs Nichtstun bezahlt wird, dann wird es sich nicht mehr lohnen, das Geschäft aufzusperren, und dann wird geschlossen und sie wird entlassen, aber ohne neumodisches Kurzarbeitsmodell, sondern klassisch, einfach so. Und dann wird sie weiterhin nichts tun, aber zu Hause, und auch nicht mehr dafür bezahlt werden. Wenn ich sie wäre, würde ich das Bimmelbammel des eintretenden Kunden herbeisehnen wie einen Schöpfer Wasser in der Wüste.
*
Es handelt sich um das altbekannte Kellner-Paradoxon – ich wundere mich, diesen Begriff nicht genau so in der ökonomischen Fachliteratur aufspüren zu können.
Möglichkeitsraum Alpha: Im Restaurant ist viel los. Der Kellner stöhnt unter der Arbeitsbelastung. Er wünscht sich, dass weniger los ist. Doch allzu fest sollte er es sich nicht wünschen, denn ist zu wenig los, dann wird er früher oder später hier nicht mehr beschäftigt sein.
Möglichkeitsraum Beta: Im Restaurant ist wenig los. Der Kellner freut sich über die geringe Arbeitsbelastung. Er hofft, dass es so bleibt. Doch allzu sehr sollte er es nicht hoffen, denn ist nicht mehr los, dann wird er früher oder später hier nicht mehr beschäftigt sein.
Paradox ist also, dass sich der Kellner über die hohe Arbeitsbelastung ein bisschen mehr freuen und unter der geringen Arbeitsbelastung ein bisschen mehr stöhnen sollte. (Mitberücksichtigt werden muss hier die finanzielle Motivation durch erhöhtes Trinkgeldaufkommen; sofern innerbetrieblich fair abgerechnet und transparent verteilt wird.)
Gut wäre – wo nicht? – die stimmige Balance, das gesunde Mittelmaß: Der Laden brummt, der Kellner wird gefordert und verdient gutes Geld; allerdings bleibt ihm Zeit, zu verschnaufen oder für eine Rauchpause zwischendurch. Ein Plausch mit Stammkunden muss ebenfalls möglich sein. Hochphasen der Betriebsamkeit schaffen nötige Puffer für unvermeidliche Tage der Flaute.
*
Man braucht bloß mit ein paar Menschen zu reden, mit einer Handvoll Individuen aus verschiedenen Berufsfeldern und sozialen Schichten (oh, wie viel Unbehagen bereitet mir die Verwendung dieses abfälligen Begriffs!) – ein vielbeschworener Querschnitt der Bevölkerung. Man braucht bloß mit offenen Augen und gespitzten Ohren durch die Gegend zu wandern, und den Leuten neugierig Fragen zu stellen, schon erhält man einen adäquaten Eindruck von gesellschaftlichen Vorgängen und sammelt bereichernde Kommentare aus ungewohnten Perspektiven. Was durch das konsequente Sichten und Einordnen subjektiver Schilderungen möglich wird, sind Hochrechnungen ganz anderer Art, nämlich die emotionale, psychologische, soziologische Hochrechnung. Ihr habe ich mich verschrieben; und beteilige mich so ebenfalls am ernsten Spiel der Kurventandler.
*
Im Schaufenster der Bäckerei saß immer eine alte Frau mit Krücken. Manchmal in Gesellschaft, aber meistens allein. Sie trank einen Kaffee und hatte Zeit. An meinen Arbeitstagen im Büro ging ich morgens vorbei. Wir tauschten einen ahnungslosen Blick. Sie sitzt dort jetzt nicht mehr.

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19 Samstag, 04.04.2020

Schimpfbank oder Bankschimpf – Ein Stadtpark-Monolog:

Entschuldigung, ich möchte ja nichts sagen, aber ich frage mich, ob Sie eigentlich verstehen, worum es hier geht. Warum wir das alles jetzt machen. Weil es doch nicht sein kann, dass Sie ihre Tochter da mit diesem Burschen. Ja, ich weiß, dass es nicht Ihre Schuld war, weil der liebe Herr dort nicht in der Lage ist, seinen Sohn bei sich zu halten. Aber dann liegt es an Ihnen, dass Sie Ihre Tochter da wegtun. Doch, natürlich habe ich das gesehen. Ich habe gesehen, wie dieser Bub dort von der Bank aufgestanden und zu Ihrer Tochter hingelaufen ist. Und Sie haben sie nicht weggezogen von dem Bub, sondern er hat sie angegriffen. Ja, ich weiß, dass das Kinder so machen, aber nicht jetzt. Weil jetzt müssen wir uns gemeinsam daran halten, sonst bringt das alles nichts.
*
Nein, mir ist klar, dass Sie Ihre Tochter nicht anbinden können, aber dann müssen Sie als Mutter in der Lage sein, darauf zu achten, dass sie bei ihnen bleibt. Und wenn Sie das nicht schaffen, dann müssen Sie daheim bleiben. Dann können Sie nicht hinaus. Ja, ich verstehe schon, dass das nicht geht. Aber so geht es auch nicht. Wie bitte? Wie bitte, was? Ich glaube, ich habe mich verhört, das ist unglaublich. Sie haben es einfach nicht verstanden. Natürlich kann Ihrer Tochter nichts passieren, weil sie jung ist und weil Kinder insgesamt nicht gefährdet sind. Aber darum geht es ja nicht. Es geht darum, warum wir alle das machen. Damit die Kette unterbrochen wird. Die Kette! Die Kette! Haben Sie keinen Fernseher und kein Radio und kein Internet? Es geht nicht darum, ob Ihre Tochter krank wird, sondern darum, dass sie es nicht merkt und dass sie es mit sich herumträgt und verbreitet. Und dann wandert es munter weiter, das Virus, der Virus. Wurscht.
*
Eigentlich ist dieser Mann Schuld. Mit seinem Bub. Der hat es auch nicht verstanden. Dass er entweder zu Hause bleiben muss oder dass er seinen Sohn festhält. Der hat ja, glaube ich, Englisch gesprochen, er ist nicht von hier. Aber das ist keine Entschuldigung. Er muss darauf achten, dass sein Sohn nicht zu wildfremden Kindern hinläuft und ihnen ins Gesicht patscht. Ja, wenn er nicht sofort weggegangen wäre, dann hätte ich auch ihm ordentlich die Meinung gesagt. Auf Englisch. Aber wenn es solche Leute gibt, die ihre Kinder frei herumlaufen lassen, dann müssen Sie das wissen und darauf reagieren, und dann müssen Sie Ihre Tochter zu sich herziehen und in Sicherheit bringen. Sozusagen in Sicherheit. Sie sind die Mutter und es ist Ihre Verantwortung. Ich habe Freunde, die sind am Limit. Ich kenne Ärzte. Es ist wichtig, wie wir uns verhalten. Man muss sich bei allem immer den Arzt vorstellen.
*
Sie haben es noch immer nicht verstanden. Genau wegen Leuten wie Ihnen wird das alles immer weitergehen und immer länger dauern. Das ist alles wegen Leuten wie Ihnen, die zu blöd sind und es einfach nicht verstehen. Ich könnte auszucken. Es ist zum Randalieren. Ich halte mich an alles. Ich mache alles mit. Ich bin allein zu Hause, nur jeden zweiten oder dritten Tag gehe ich hinaus. Ja, man darf auf einer Bank sitzen. Man muss Sonne tanken, sonst wird man verrückt. Nein, ich habe die Bank vorher nicht desinfiziert. Das geht doch nicht durch das Sakko. Machen Sie sich bitte nicht lustig über mich. Sie kennen sich einfach nicht aus. Wie oft noch? Es ist eben falsch, dass es Ihre Tochter nicht betrifft, weil sie jung ist. Das ist ja eben der Irrglaube. Das ist der fatale Irrglaube, der uns das Leben kosten wird. Sie verstehen es einfach nicht. Sind Sie so blöd oder tun Sie nur so? Das kann es doch nicht sein.
*
Die Alten und die Vorerkrankten haben einen schweren Verlauf und müssen ins Spital. Wissen Sie, wie viele Intensivbetten wir haben? Wie wenige das sind. Die Alten verstopfen das System. Und wissen Sie, was dann los ist? Wenn Ihrer lieben Tochter irgendetwas passiert, egal was, dann haben Sie ein Problem. Wenn Ihre Tochter in ein Auto läuft, wenn sie von einem Hund gebissen wird – es sind gerade genug unterwegs, ohne Beißkorb, ohne Leine manche auch – und Ihre Tochter greift ja eh zu allem hin, wie bei dem Bub. Wenn Ihre Tochter auf eine Scherbe steigt und dringend genäht werden muss, wenn sie wo dagegenläuft und eine Platzwunde hat, wenn sie irgendwie anders krank wird, Kinder in diesem Alter sind ja so anfällig auf alles. Dann können Sie nicht ins Spital. Dann haben die Krankenhäuser nicht mehr die Kapazitäten, um Ihrer Tochter zu helfen. Es gibt keine Rettung für Ihre Tochter. Haben Sie es dann endlich verstanden? Verstehen Sie es jetzt?
*
Entschuldigung. Das wollte ich nicht. Ich wollte Sie nicht zum Weinen. Ich habe mich nur gefragt, ob Sie es verstehen. Weil so viele Leute verstehen es so schwer. Natürlich wünsche ich mir nicht, dass Ihrer Tochter irgendetwas passiert. Ihr wird auch nichts passieren. Und Intensivbetten haben wir hier eh noch knapp ein Drittel frei. In absoluten Zahlen sind das – gestern war es in den Nachrichten. Vielleicht liegen bei uns allen die Nerven schon ein bisschen blank. Aber wir müssen das jetzt machen. Weil wenn es nicht alle machen, braucht es gar keiner zu machen, weil dann bringt es nichts, und dann geht es immer weiter und dann hört es niemals auf. Und dann sitzen wir noch in zwei Monaten daheim. Und dem Vater von dem Bub, wenn ich ihn sehe, werde ich das auch noch sagen. Damit er es versteht. Vielleicht finde ich ihn. Ich glaube, er ist dort hinten. Auf Englisch. Am besten mache ich es jetzt gleich sofort. Alles Gute. Auch Ihrer Tochter. Bitte. Bleiben Sie gesund.

(So oder so ähnlich aufgeschnappt.)

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18 Freitag, 03.04.2020

Vor Wochen habe ich mich für eine Reihe von hochkarätig besetzten Theaterworkshops beworben. Diese würden verteilt über zwei Jahre in zehn Einheiten stattfinden, bei denen man seine entstehenden Stücktexte mit Theaterarbeitern aus verschiedenen Sparten bespricht. Auch Austausch mit Kollegen wäre vorgesehen. Hätten stattfinden sollen, denke ich, wäre vorgesehen gewesen.
Jetzt frage ich mich, was mir lieber ist: Nicht angenommen werden und wissen, dass es ohnehin egal ist – egal gewesen wäre. Oder angenommen werden und wissen, dass es nicht – jedenfalls nicht in dieser Form – stattfinden wird. Wie interessant und lehrreich hätte es sein können, da teilnehmen zu dürfen: Einzelmonitoring, Stückentwicklungswochen mit Schauspielern und Regisseuren sowie Workshops in und um das szenische Schreiben sind Inhalte der angebotenen vier Semester.
Ich denke allzu negativ. Zwei Jahre – vier Semester –, natürlich wird es in abgewandelter Form stattfinden können. Lass dich nicht verrückt machen, sage ich mir. Und gleich nagt der Zweifel: Staaten, Grenzen, Reisefreiheit; New York, Neu Delhi, Abuja. Wie viel Welt bleibt?
*
Die Einreichung war sehr aufwendig und umfangreich, in meinem Fall über zwanzig Seiten. Eine besondere Schwierigkeit lag darin, eine sehr grundsätzliche Bestandsaufnahme der bisherigen sowie eine Positionsbestimmung der kommenden Arbeit vorzunehmen, was noch dazu in höchst komprimierter Weise zu geschehen hatte.
Die zweite Aufgabenstellung lautete: Stellen Sie in einem kurzen Text Ihren Weg zum Autor dar. Beschreiben Sie auch, was Ihr Schreiben bislang beeinflusst hat, auf welche Vorbilder Sie sich beziehen, was Sie an diesen beeindruckt.
Mein Versuch, diesen Weg als Werdegang mitsamt wichtiger Bezüge auf den vorgegebenen zwei Seiten abzubilden, dabei gleichermaßen persönlich wie literarisch zu bleiben, verlangte mir einiges ab. Sich selbst zusammenfassen auf zwei Seiten, dachte ich. Unmöglich, dachte ich, und legte los:

Die elterliche Bücherwand mit starkem Österreich-Bezug, als jugendlicher Computerspiel-Nerd zunächst eher zaghaftes, dann immer gewagteres Herauspicken erster prägender Autoren: Bernhard, Bachmann, Jelinek (der man nur in pubertärem Überschwang etwas abgewinnen kann), Handke, Rilke, Schnitzler, Zweig. Bald das Ausformen eines eigenen Lektüre-Sensoriums, Camus, Auster, Hesse (natürlich), Houellebecq mit seinem weltschmerzenden Männlichkeitspathos. Ein Lesehunger, eine Buchbesessenheit, die seitdem niemals länger als für ein paar erschöpfte Wochen abgeklungen ist.
Der Impuls – woher? – dem Gelesenen auf eine Weise zu antworten, mit den eigenen bescheidenen sprachlichen Mitteln. Das Bemerken eines Sinns, der darin liegt. Noch keine Vorstellung davon, ob es sich bei diesem gedankenverlorenen Tun denn um eine Tätigkeit handelt, geschweige denn um ein zulässiges Lebensmodell. Keine Künstler in der Familie, auch nicht in der erweiterten, kein Vorbild für ein anderes Leben, das auch möglich ist. (Bernhard sagt: Ich gehe den Alleingang. Von ihm die Konsequenz der Künstlerexistenz und die musikalische Sprache, den schwingenden Rhythmus, den augenzwinkernden Eigensinn.) Schulabbruch des einstigen Musterschülers – nicht als mutiger Akt der Rebellion, keine Entscheidung gegen etwas, sondern die bewusste und wohlüberlegte Entscheidung für etwas, in eine zielführende Richtung, ganz nüchtern und gemäßigt.
*
Intensivierung der Schreibtätigkeit (jetzt ist es das, wenn auch für Jahre nach außen hin schwer zu vermitteln). Erste Veröffentlichungen, ein kleiner Wettbewerb, Verlagskontakt. Heilsames Stürmen gegen Wände. Die Literatur als hermetische Welt, in die man als Außenstehender anmaßend Eintritt verlangt – man steht da wie der Ochs vorm Tor, wie ein kleiner Möchtegern-Franz vor dem Gesetz (Kafka hat mit seiner Türhüterparabel alles über das Leben gesagt – wie so oft.) Jeder Satz und jedes Wort ist Anmaßung: Etwas sagen ist die Behauptung, etwas zu sagen zu haben; etwas schreiben ist die Behauptung, etwas zu schreiben zu haben. Schließlich richtet es sich an andere Menschen, zielt auf ein Publikum ab. Das Teilen einer Selbstbefragung – als Selbstvergewisserung, Selbstvergegenwärtigung; wo es sein soll, auch als Selbstvergessenheit.
*
Ein erster Roman, eine selbstverliebt sprachverspielte Dystopie. Ein Erzählband im fahlen Nachtblau der Stadt. Ein umfangreicher Roman, postmodern und in Teilen geglückt (Orte als Figuren, Berlin bei einem Boxkampf gegen Wien), ein verwirrtes und verworrenes Ebenen- und Zeitenspiel, ein großer Versuch. Daneben über die Jahre verschiedene Nebenjobs – Kinderbetreuung, Crowd Management, Startnummern-Herstellung: schiere Notwendigkeit, liebgewonnen als heilsames Am-Boden-Bleiben, als erstrebenswerte Horizonterweiterung, als gesundes Kontakthalten mit dem vielzitierten echten Leben, um sich nicht zu verbunkern im Elfenbeinturm. (Handke, selbsternannter Bewohner desselben: Von ihm jene Beschreibungspotenz, die er seinen Geistern in Princeton voraus hat.) Dann doch lieber der Umweg übern Sisyphos-Hügel, mit selbstbewusstem Zweifel als solidem Fundament. Das andere Leben ist nicht nur möglich, sondern genauso gut oder schlecht, leicht oder schwierig wie bei allen. Diskrete Stetigkeit – so heißt Oswald Eggers Buch über Poesie und Mathematik (Von ihm bloß diesen Titel, denn das Buch selbst ist leider bis zur Unlesbarkeit verkopft). Beim künstlerischen Werdegang sich einer solchen diskreten Stetigkeit verschreiben: Lieber wachsen wie ein Mammutbaum, gemächlich und beharrlich, als verglühen wie ein Komet mit heißem Schweif. Welch halsbrecherische Zuversicht einen manchmal voranpeitscht.
*
Nach einer unfreiwilligen Veröffentlichungspause der nächste Roman, eine Beschreibungsgeschichte zwischen Wien und Tokyo. Und noch ein Roman, über Zeitreise und die Begegnung mit sich selbst, eine abstrakte Raum-in-Raum-Konstruktion. Dann das autobiographische Vaterbuch, bei dem der Ballast der Fiktion und des Verklausulierens abgeworfen wird. Man muss schon auch präzise fühlen, wenn man sich einbildet, seinen Weg zum Autor gehen zu müssen. (Vielleicht kann man Autor gar nicht sein, sondern nur gewesen sein – im Rückblick erhält alles seine Folgerichtigkeit.) Das Künstlerische als gelassen geschulterte Pflicht. Wie der Baron Münchhausen sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf gezogen hat, so kann man sich auch am eigenen Erzählen aus der Misere schreiben.
Stetes Erobern zusätzlicher literarischer Kontinente: Franzen, Knausgård, Joyce, Pessoa, Proust (Von ihm alles, vor allem die mäandernden Sätze, die schmerzhaft wahren Schilderungen unseres Innenlebens, der Verletzungen und Verwerfungen, die wir sammeln. Wie er jahrelang ein kränkelndes Bettleben führt, sich als Person ganz dem Entstehen seines Werks schenkt). Sich voranbuchstabieren im Alphabet der Ratlosigkeit – was bleibt einem denn auch anderes übrig, als heiter seine Niederlagen zu verwalten. (Anmerkung des Coronatikers der Jetzt-Zeit: Diese Phrase habe ich sehr egozentrisch in der dritten Notiz – Donnerstag, 19.03.2020 – zitiert; zwar kursiv gesetzt, jedoch ohne Quellenangabe. Die Wendung gefällt mir, ich bin stolz darauf. Postmoderne Selbstkommentierung: Der von Ihnen gelesene Satz hat sich selbst und das Lesen des Satzes zum Thema.)
*
Vorsichtiges Hineinspüren in die Theaterarbeit. Plötzlich selbst mitzumachen bei Projekten, versöhnt mich mit dem Theater, mit dem ich jahrelang nur als Leser (Beckett, Pinter, Kane), nicht aber als Zuschauer gute Erfahrungen gemacht habe. Die flüchtige Momentkunst Theater ist mir schleierhaft, ich verstehe sie nicht – sie bleibt mir magisch und nimmt mich doppelt ein. Sie zieht mich an, ich habe ihr etwas zu sagen. Schreiben heißt, etwas gern nicht verstehen. (Paul Nizon sagt: Am Schreiben gehen. Ich bin ein vehementer Bewohner der Republik Nizon. Von ihm die Unbedingtheit der Sprache und die Radikalität der Lebensführung; dass er sein Zürcher Redakteursleben aufgegeben hat, um in Paris Flaneur zu sein – wohlgemerkt auf Kosten der Familie).
Theater als Symbiose zwischen Verstand und Affekt, es entstehen Momente vorübergehender Ewigkeit. Es öffnet mir Räume, wirft neue Fragen auf. Es gilt, auch hier den eigenen Ton zu finden. Die Welt in sich hineinschaufeln, und so etwas aus sich selbst schöpfen, und das Entstandene auf den Weg schicken – zurück in die Welt, aus der es kommt. Gehe ich heute ins Theater, dann bemühe ich mich um einen Randplatz abseits, denn oft möchte ich währenddessen ins Notizbuch mitdichten an den Lippen der Schauspieler. Es ist schon auch die Arbeit des Detektivs, der mit offenen Augen durch die Gegend streunt und gegen Unbekannt ermittelt – aus vollen Zügen produktiv sich wundern.
Es gibt eine lebensbejahende Ratlosigkeit. Der Welt begegnen mit grenzenloser Zuversicht – womit denn sonst? Manchmal, im Lesen eines großen Buches oder im Schreiben eines kleinen Satzes der innere Ausruf: Das ist Literatur!
Vielleicht der Gedanke, dass jeder Moment – jetzt, jetzt und jetzt – der Moment sein könnte, dem man vertraut und an dem man etwas wagt. Ich bin und bleibe ratlos – und koste es mit wachen Sinnen aus.

Die fünfte Aufgabenstellung lautete: Beschreiben Sie kurz drei Impulse, die für Sie zum Ausgangspunkt einer literarischen Arbeit werden könnten. Dafür war lediglich eine Seite veranschlagt. Ich zählte auf:

Begebenheit
Der Vatertod, das Auffinden der Leiche. Anblick und Geruch. Das Fensteröffnen, die Kälte. Die unwillkürliche Versprachlichung der Eindrücke. Die tausend inneren Stimmen, die auf einen einsprechen, die tausend aufblitzenden Bilder. Die Erinnerungen an vor zwanzig Jahren, an vor zehn Jahren, an vor einer Woche. Wann zum letzten Mal miteinander gesprochen? Was bei diesem letzten Mal zu einander gesagt? Die Erschütterung als Ruck, der etwas freisetzt und entfesselt.
*
Begegnung
Tatsachen des Herzens, harte Fakten des Gefühls. Die Zeit – die wenige Zeit – verbringen mit Menschen, bei denen man über sich selbst lachen kann. Das Sprechen über Bücher und Kopfgeburten genauso wie die ausgelassene Blödelei. Gemeinsam kochen, essen, trinken. Ein Spazierengehen, das jeder Jahreszeit etwas abgewinnen kann, der gute Schlaf im Beisein. Der Frieden, den gebrauchten Menschen in Sicherheit zu wissen. Vermissen, verwünschen, das auch. Die schlaflose Sehnsucht nach dem anderen, in dem wir uns erkennen. Geschichten, die vorbeigehen, ohne auserzählt zu sein. Die Nähe zu jemandem, der einen über sich selbst hinauswachsen lässt, bei dem man sich nicht verstellen muss. Jemandem Zuspruch und Halt geben dürfen. Die geteilte Euphorie.
*
Alles
Das Intellektuelle ebenso wie das Emotionale, pendeln zwischen den Polen, alles, eine nachhallende Lektüre-Erfahrung, das besorgte Lesen von Lolita, bei dem das gedankliche Umdichten des Stoffes zu einem Stück geschieht, aus Sicht der titelgebenden Kindfrau, als banales Missbrauchsopfer in einer Männerwelt, auch in literarischer Hinsicht, alles, ein amerikanischer Podcast über nach Afghanistan verschiffte Milizsoldaten, großteils mittelständische Familienväter, die überfordert sind und ins Gras beißen, aus dem ein Drehbuch-Entwurf wird, alles, die Folge einer Reality-Show mit einem britischen Fernsehkoch, die Reality TV als Genre auf den Punkt bringt, aus der die Idee einer akribischen, buchlangen Nacherzählung keimt, alles, das schlaflose Bezirkdurchstreunen in der Nacht, aus der man sich Gedichte pflückt, alles, das jahrelange Plasmaspenden gegen Geld, aus dem der Roman Plasma wird über die Studentin Kim, der nie das Licht der Welt erblickt, alles, wissen, wohin man gehört, und wenn man es nicht weiß, es tragen, alles, die Ereignisse und Aussagen in der Stadt-, Innen- und Weltpolitik, das unbedingte Festhalten an einer Integrität, die vehement eingefordert werden muss, alles, wie schade, dass wir nicht viele Leben führen können, eines für jeden Menschen, der wir sind, aber wie schön, dass wir immerhin dieses eine führen dürfen, aus dem man nie schlau werden soll – alles.

Hier endet der Einblick in meine Bewerbung. Viele unserer Hoffnungen und Ziele sind eine Reise in die Zukunft der Vergangenheit. Denn jene Zukunft, die sich von unserer Gegenwart ableitet, wird eine andere sein.

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17 Donnerstag, 02.04.2020

Heute ist der Flakturm wieder besonders groß.

Was kramt so stur im Busch? – Die astelnde Amsel.

Unerbittlicher Begriff: Spaziergehtourismus

Neues Schimpfwort, das sich durchsetzen wird: Heast, du Kitzloch!

Eine studierte klassische Philologin weist mich darauf hin, es heiße das Virus und nicht der Virus. Ich antworte der studierten klassischen Philologin, dass ich dieser Frage bereits nachgegangen sei und folgendes herausgefunden habe:
Als Fachbegriff habe besagter Krankheitserreger zunächst als das Virus Eingang in die deutsche Sprache gefunden. Das sei typisch für bildungssprachliche Entlehnungen: Sie behielten zunächst ihr ursprüngliches Geschlecht bei. Mediziner und Seuchenspezialisten hätten Virus also als Substantiv sächlichen Geschlechts verwendet und seien damit sehr nahe am lateinischen Ursprung geblieben: Mit dem sächlichen Hauptwort virus hätten die alten Römer Schleim, Saft oder Gift bezeichnet.
Doch wie ein Virus passe sich auch eine bildungssprachliche Entlehnung allmäglich an ihre neue Umgebung an. Je häufiger sie in der Alltagssprache verwendet würde, desto eher werde ihr Geschlecht dem angepasst, was gewohnt und üblich klinge. Da Substantive auf -us meist männlich wären, sei das Virus allmählich zu der Virus geworden. Heute würden in der Alltagssprache beide Formen nebeneinander existieren und beide als korrekt gelten. In der Fachsprache dagegen sei es bei der ursprünglich sächlichen Form geblieben: das Virus.
(Um den Inhalt des von mir verschickten Links wiederzugeben, habe ich hier schamlos Satz für Satz kopiert und beflissen in den Konjunktiv gesetzt.) Ich erkläre der studierten klassischen Philologin, dass bei der Zeitung, für die sie arbeite, natürlich die Fachsprache zur Anwendung komme; ich selbst jedoch sei ein Mann des Volkes. Die studierte klassische Philologin resümiert: das duden ist ein lügnerin. Hier endet meine Schlagfertigkeit.

Kurzgedichte auf einer ansonsten leeren Buchseite sind ansprechend einsam.

Und aus dem heimgetragenen Papiersackerl glotzt der Sellerieschopf – wie in einem amerikanischen Film als Versinnbildlichung des gediegenen Mittelstands mit Wohnsitz in der beschaulichen Vorstadtnachbarschaft.

Ich erhalte einen Buchbrief. Er kommt von der Menschensammlerin – die verbunden ist mit anderen vieler Länder. Sie knüpft an einem Menschengeflecht im guten Sinne, es entstehen starke Bande, die nun, da sie strapaziert werden, nur umso stärker werden. Sie ist da für andere, und manchmal für sich selbst.
Dem Brief sind zwei wichtige Bücher beigelegt. Sie kommen zu mir zurück und werden der lockeren Ordnung meines Regals einverleibt. Eines der zwei Bücher ist schön zerlesen, was mich freut; am Eck randet es aus, subtiler Wasserschaden. Die Menschensammlerin war davon angetan und hat es in Rucksack oder Handtasche mit sich spazieren geführt. Dass es ein Geschenk war, konnte sie nicht wissen. Ein drittes Buch ist dabei, über kreatives Bügeln und die Routine des Schreibens; mit orangefarbenem Lesebändchen. Das Bügelbuch ist hosentaschengroß. Es schmeichelt der Hand.
Der Brief selbst hat einen schwarzen Trauerrand – ein herrlich makaberes Detail, wenn auch etwas verfrüht. Das Geschriebene ist ehrlich und aufmunternd. Ein Frontbrief, denke ich.

Lektorin Merle berichtet von einer frisch verwitweten Nachbarin, die jetzt, direkt nach dem Verlust des Ehemannes, allein in ihrer Wohnung hockt – in doppelter Hinsicht auf sich zurückgeworfen. Der brave Enkel bringt regelmäßig Einkäufe vorbei. Richtig besuchen kann er sie nicht. Alleinsein ist eine Frage des Durchhaltens – und Durchhalten eine Frage des Alleinseins.

Mein Arzt-Freund sagt, er habe siebenunddreißig Stunden Hacke hinter sich; das Krankenanstalten-Arbeitszeitgesetz sei de facto orbanisiert. Später bekennt er, sich verschrieben zu haben und korrigiert: Es seien nur dreiunddreißig gewesen. Aber zach genug.

Kein Geld ausgeben ist eine valide Form der Freizeitgestaltung.

Duftende Fundsache am Badewannenrand:
blütenwasser
& PFLEGEKOMPLEX
HYDRO
PFLEGEDUSCHE
SHOWER GEL
MAGNOLIENBLÜTE
& MANDELMILCH
normale bis trockene Haut

Eines muss man sagen: Schrecklich interessant ist das alles ja schon.

Und wieder stimmt die Nacht.

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16 Mittwoch, 01.04.2020

Kafkas Fragment Der große Schwimmer handelt von einem Mann, der mit dem Auto in seine vermeintliche Heimatstadt zurückgebracht wird. Er landet an einem fremden Ort, wo er von ihm unbekannten Leuten für einen Weltrekord geehrt werden soll. Er lauscht einer Rede in einer ihm kaum verständlichen Sprache – gehalten von einem dicken Mann mit auffallend weißem Gesicht. Der Schwimmer gibt von sich aus zu bedenken, dass womöglich eine Verwechslung vorliege, geht dann jedoch achtlos darüber hinweg. (Es ist eine altbekannte Lebenswahrheit, dass wir uns irgendwann selbst für denjenigen halten, für den man uns hält.) Er bekennt, nicht schwimmen zu können, reklamiert den Rekord allerdings einverstanden für sich. Der Schwimmer wirkt unbekümmert ratlos.
*
Erinnert habe ich mich an die Geschichte anders, nämlich so: Ein Mann gewinnt landauf landab jedes Wettschwimmen. Er kam aus dem Nichts, und strampelt jedes Mal durchs Becken in einem wüsten, ungeschlachten Stil, wie man ihn noch nie gesehen hat. Es ist eine Sensation, die nach und nach stutzig macht. Eines Tages, bei der großen Siegerehrung, fragt ihn die aufgeregt versammelte Presse nach seinem Geheimnis. Der Mann sagt beschämt: Ich kann nicht schwimmen. Er strample einfach jedes Mal in Panik zur anderen Seite, um nicht zu ertrinken. Sein Trainer schmeiße ihn herzlos ins Wasser, als sei er ein Zirkustier, mit dem sich gut verdienen lasse. Vielleicht fleht er noch: Bitte helft mir. Rettet mich! Die Leute sind nur mäßig irritiert, ihrer Bewunderung tut dies keinen Abbruch.
*
Meine Version gefällt mir in ihrer Unerbittlichkeit wesentlich besser. Vielleicht habe ich sie geträumt. Es ist die beste Kafka-Geschichte, die nie geschrieben wurde. Ich hoffe, er macht sich möglichst bald an die Arbeit.
(Ich kann mir nicht vorstellen, dass diese eindringliche Analogie auf meinem Mist gewachsen sein soll; sie muss in einem Buch, einer Geschichte vorkommen und bei mir hängengeblieben sein. Sie bringt es einfach zu sehr auf den Punkt: Wir alle sind dieser große Schwimmer – im Arbeiten, im Lieben, in allem. Wir gewinnen um unser Leben.)

Wolfgang Herrndorfs Sterbensblog Arbeit und Struktur habe ich damals nur sporadisch gelesen.

Jemandem, mit dem man im sozialen Netzwerk nicht befreundet ist, für seinen Beitrag einen Fremdlike geben.

Überschrift eines dubiosen Online-Portals:
COVID-19-Patient: „Nicht atmen zu können, ist ein schreckliches Gefühl“
Man lernt nie aus.

Die vorvergilbten Plakate abgesagter Konzerte werben für eine ganz eigene Melancholie.

Selbst unter der Woche ist alles sonntagshaft entschleunigt.

Im Arenbergpark sind die Eingangstore zum Spielplatz mit rot-weiß-rotem Signalband verhängt. Es ist schleißig befestigt, was nicht sehr professionell wirkt und wenig vertrauenerweckend ist. (Wer war hier zuständig, frage ich mich, etwa das Stadtgartenamt? Wohl eilig rekrutierte Hilfsarbeiter.) Die Spielgeräte sind umschmachtet von Kindern, die mit sehnsuchtsvollen Blicken patroullieren. Letzten Monat ging es noch – oder war es letzte Woche? Ach, was ist schon Zeit.
*
Ein Haubenbub läuft seinem Ball nach, den er erst beim Zaun einholen kann. Er stellt sich davor, umgreift die Gitterstäbe. Er ist noch ganz klein und kann seinen Frust kaum in Worte fassen. Ich weiß, sagt seine Mutter, das ist blöd. Hoffentlich macht der Spielplatz bald wieder auf.
Er hält die Stäbe fest in seiner Faust und quetscht sie ein bisschen vor Hass. Ein von seiner Freude ausgesperrtes Kind, denke ich. Beinah will ich sagen: Da ist etwas kaputt, das wird jetzt repariert. Vielleicht hilft das, zu verstehen. Doch ich lasse es sein.
Die Mutter schupft den Ball zurück ins Gras. Komm, sagt sie, spielen wir ein bisschen in die andere Richtung, da musst du dir nicht die ganze Zeit den traurigen Spielplatz anschauen. Der Haubenbub löst sich vom Zaun. Er ist fixiert auf den Ball und würde ihm überallhin blind folgen.
*
Die Menschen sind müde und still. Dabei sind sie ernst. Gerade Ältere verharren auf ihrer Bank wie Statuen, und lächeln die Sonne an. Sie lassen sich von ihr ausbrüten zu neuen Menschen. Selten habe ich jemanden etwas so genießen sehen. Man ist müde und rastet sich aus. Zu Hause geht man sich selbst auf die Nerven.
*
Wir gehen unsere Runden, setzen einen Schritt vor den nächsten und wählen jeden einzelnen mit großem Bedacht. Wir sind die Bewohner – Insassen? – eines Sanatoriums. Ja, denke ich, wir sind Patienten, erholen uns vom Ringen mit einer schleichenden Krankheit. Der langsame Verlauf sickert ein durch die Ritzen der Tage. Zwischen den Behandlungseinheiten und der Ruhezeit im Zimmer dürfen wir uns manchmal die Beine vertreten; unter gewissen Auflagen, versteht sich, und unter strenger Supervision des eigens hierfür speziell geschulten Personals. Frische Luft ist bekanntlich gesund; Geregeltes Beinevertreten kann den Heilungsprozess der Patientin um bis zu fünfundzwanzig Prozent beschleunigen.
*
Einzelne Eltern sind mit Kleinkind unterwegs. Es ist schwierig zu verstehen. Im Gras und auf den Bänken sind Nester mit jeweils zwei Menschen, immer das eingespielte Duo aus Erwachsenem und Kind. Unter normalen Umständen würde man sich austauschen, den Nachwuchs zum gemeinsamen Spielen animieren. Man hat sich viel Mühe gegeben, ihn zur vorurteilsfreien Begegnung zu erziehen und wünscht sich nun die – sorgsam ausgetriebene – Kontaktscheu zurück. Wie soll man auch verstehen, den anderen zu meiden, wo er doch so einladend allein ist und schaut.
*
Eine andere Mutter mit anderem Kind, einer Tochter. Sie kann gerade erst gehen, und dazu mit viel Spucke brabbeln. Sie ist ziemlich begeistert von diesem Gehen, das alle so stolz mit der Handykamera filmten; ihre neu erlangte Fertigkeit will nun gezielt und ausgiebig erprobt sein – zum Leidwesen der Mutter, die wirkt reichlich abgekämpft. Zu allem geht die Kleine hin, so wie sie vorher wohl alles in den Mund gesteckt hat. Ich studiere die Nuancen der Bewegung.
Sobald die Tochter eine Richtung einschlägt, stellt sich ihr die Mutter – frohlockend, denn es ist ein großes Spiel – unmerklich in den Weg. So lenkt sie die Pfade des Kindes. Ansatzweise ist es das Hampelmann-Wischen des gesamten Körper, wie bei Manndeckung – Fraudeckung – im Sport. Ihre moves kommen mir sehr vertraut vor. Vielleicht hat sie ja einmal Handball gespielt. Auch der Blick wird von der Mutter ebenso diskret wie akribisch gelenkt: die Kindesaugen sollen nicht zu lang auf Mitmenschen verweilen, vor allem nicht auf Gleichaltrigen. Irgendjemand könnte ja zu interessant sein. Die Tochter schafft am Baum eine Wurzel.
Es ist zur Mutterpflicht geworden, das eigene Kind vor der Welt zu schützen; und die Welt vor dem eigenen Kind.

Da liest wer einen Reiseführer – das ist die richtige Einstellung!

Ein Mann mit stattlichem Bauch sehr pointiert über die wirtschaftlich prekäre Lage von Blumengeschäften: Des könnens jetz alle wegschmeißen, den Schas.

Nachhilfe oder Klavierstunden geschehen über Videocall. Es funktioniert erstaunlich gut – bei entsprechender Verbindung, die nicht zwischendurch abreißt. Viele Schüler sind recht motiviert, denn all den Stubenhockern – vom Unterricht befreit und auf Echtfreundentzug –, ist zu Hause ja auch schon ur fad. Exzessives Videospielen trägt nur eine gewisse Zeit. So klimpern wir bemüht unseren Chopin, jonglieren mit echten oder unechten Brüchen und suchen einen gemeinsamen Nenner.

Unverändertes Originalzitat einer niederländischen Zypriotin:
Hast du dir eh schon eine Maske genäht? Ich hätte sonst eine ganz einfache Anleitung, basierend auf einer Unterhose. (Ein Satz, für den man noch vor wenigen Wochen ins Irrenhaus gekommen wäre.)

Erster Tag der nach und nach Einzug haltenden Maskenpflicht. Im Supermarkt ist weniger los als befürchtet. Beim Eingang stellt man sich für Masken an. Diese werden einem von einer Angestellten mit Zange aus einer offenen Schachtel gereicht. (Sterile Vorgehensweise?) Nun muss man die Einwegmaske – mit ungewaschenen Händen – anlegen, was ich ebenfalls für nicht ganz ausgereift halte. Die Austeilerin erinnert an eine Flugbegleiterin, die einem das heiße Tuch reicht, mit dem man sich zur Erfrischung das Gesicht betupft. Kurz bin ich verwirrt. Dann lege ich schafsbrav die Maske an. Beim Atmen beschlägt meine Brille. (An uns Brillenträger denkt bei all dem wieder niemand.)
*
Die meisten Menschen verfügen nicht über die kognitiven und motorischen Fähigkeiten, eine Mund-Nasen-Schutzmaske korrekt anzulegen, zu tragen oder zu entsorgen. Ich sehe verrutschte und verschobene Masken; Leute greifen sich direkt darauf oder ziehen sie hinunter, um ins Offene zu husten. Aufgeweckte Kinder sausen maskenlos durch die Gänge, und ich denke nach über Details der Regelung – die ich später in Erfahrung bringen möchte.
Die Weltgesundheitsorganisation sieht im allgemeinen Mundschutztragen der Bevölkerung keinerlei Nutzen für die Eindämmung von Pandemien; rät davon sogar ab, da viele ein falsches Sicherheitsgefühl bekommen und sich zu weniger vorsichtigem Alltagsverhalten hinreißen lassen könnten. Es existiert keine wissenschaftliche Studie, die den Beweis einer positiven Wirkung erbringt. Irgendwo lacht jemand, dass wir uns für nix zu blöd sind.
Die ausgedachte Maskenpflicht wirkt wie eine weitere Eskalationsstufe einer perfiden Beschäftigungstherapie; wir bekommen immer komplexere Aufgaben, dürfen regelmäßig neue Verhaltensweisen einstudieren und verinnerlichen. Und kaum fragen wir uns noch, wie uns geschieht – sind die seltsamen Zeiten auch schon wieder vorbei.
Vielleicht wissen die Politiker sehr genau, was sie tun.

Kafka selbst war ein Fragment, die vage Skizze einer Person seines Namens.

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15 Dienstag, 31.03.2020

Ich schließe die Augen.

Und ich sehe das Land in einer Woche und Europa in einem Monat und die Welt in einem Jahr, und ich sehe eine erschöpfte Alleinerzieherin, die sich heimlich am Klo einsperrt, zusammenbricht und heult, und ich sehe die mürbegeschuftete Ärzteschar in der Lombardei und die vielbeschworenen italienischen Verhältnisse, die unbedingt verhindert werden sollen, und ich sehe die Vereinzelten, die nicht einmal mehr abends allein die stummen Tresenlümmler geben, sondern die in Einsamkeit verenden, und ich sehe sie, die Währinger Buchhändlerin mit geschwollener Müdigkeit, wo einmal Augen waren, die über Nacht auf einen zuverlässigen Versandbuchhandel umgesattelt hat, die es gern tut, aber einfach nicht mehr kann, und ich sehe das Land in zwei Wochen und Europa in zwei Monaten und die Welt in zwei Jahren, und ich zähle sie auf, meine Schlaflosigkeiten, und ich schreibe, schreibe, schreibe, was ich weiß, und was ich nicht weiß, das schreib ich umso mehr, und ich sehe die Unverhältnismäßigkeit der Maßnahmen am Werk und die Errungenschaften der Zivilisation niedergerissen, und die Auswirkungen der Entscheidungen, und ich höre von verschwiegenen Selbstmorden, um keinen Effekt auszulösen und Nachahmer zu motivieren, und ich sehe sie aus dem Fenster springen, die Arbeitslosen und die Bankrotteure – unschuldig verschuldet –, und ich sehe die Notenbank Geld drucken, Geld erschaffen und erfinden, um etwas am Laufen zu halten, das nicht mehr brummt, und ich sehe das Land in drei Wochen und Europa in drei Monaten und die Welt in drei Jahren, und ich sehe die barbarische Vernunft, stattdessen Risikogruppen zu isolieren, nicht alle und alles, nur die Alten, Schwachen, Vorerkrankten, und ich sehe das gefasste Rentnerpaar aus Opferbereitschaft mit Schmerztabletten sanft entschlafen – für die Wirtschaft – und ich schmecke ihn, den giftigen Orangensaft, in den der Tod gerührt ist, den wir trinken und trinken wie schwarze Milch, ich habe ihn auf der Zunge und ich lecke mir die Lippen, und ich sehe die verschobene Perspektive derer, für die sich allzu viel ja nicht geändert hat, die Staatsdiener und Balkonkräutergärtner und Hochspezialisierten, wie sie sich zurückziehen in ihrem Brotback-Biedermeier, für das ich sie zum Teufel und an den Strick wünschen könnte, wie sie Germ hamsterkaufen, und ich sehe das gefälschte Dokument, in dem jemand als unabkömmlich für eine Firma ausgewiesen wird, das er vorzeigt bei einer Polizeikontrolle, um unbehelligt über die Bundeslandgrenze zu kommen, und ich sehe das Land in vier Wochen und Europa in vier Monaten und die Welt in vier Jahren, und ich zähle rasant, was den Schlaf torpediert, und ich lese Triage, immer wieder Triage, und ich sehe sie verzweifelt tagen – antagen gegen etwas, dem sie nicht gewachsen sind –, die Mitglieder des Ethikrats, und eloquent abwägen, ob man es tun darf, ob man den Achtzigjährigen am Beatmungsgerät extubieren darf, wenn eine Dreißigjährige eingeliefert wird und kein Intensivbett mehr frei ist, ob man ihm den Luftschlauch aus dem Rachen reißen darf, dass seine Lunge kollabiert, ob man sein Leben opfern darf, um jenes einer Jüngeren zu retten, und ich denke, ja, man darf es nicht nur tun, man muss, man muss, man muss, wer sind wir sonst?, dann wären wir keine Menschen, dessen Zweck darin besteht, den Fortbestand unserer Spezies zu sichern, und ich sehe die norditalienische Fließbandsegnung der Särge und weiß, dass ich mich irre, und mein Irrtum ist jener der entkräfteten Verweiler, und ich höre die Leute mit schwärmerischem Blick den Sommerurlaub planen, weil sie glauben, dass sie fliegen können werden, und ich kann es ihnen nicht sagen, und ich sehe die Leute ihre Pläne schmieden, die nicht weit genug in der Zukunft liegen, sondern noch viel zu sehr in der Gegenwart, die zur neuen Normalität geworden ist, und ich weiß von einem, der zieht im Herbst zurück nach New York, und ich frage mich, weiß er es denn nicht?, wieso sagt es ihm denn keiner?, und ich sehe das Land in fünf Wochen und Europa in fünf Monaten und die Welt in fünf Jahren, und ich sehe New York, immer wieder New York, die Stadt der Städte, untergehen mit hochgetrotzter Freiheitsfackel, und ich höre sie klagen, give me your tired, your poor, your huddled masses yearning to breathe free, gebt mir eure Müden, eure Armen, eure geknechteten Massen, die frei zu atmen begehren, und ich sehe sie, die hastig Intubierten, wie sie frei zu atmen begehren, aber nichts kommt, oh, gebt mir eure Alten, eure Schwachen, eure Diabetiker mit Immuninsuffizienz, und ich sehe die Dame Corona, wie sie in mächtiger Strenge uns zu sehen ermahnt, und in wütendem Eifer das Feuer der Erneuerung erhebt und niederbrennt, was wir als sicher wussten, und ich sehe die Menschen in den bewaffneten Widerstand gehen, und ich sehe die Politiker ihre Ausgaben für den Personenschutz erhöhen, und ich weiß, dass es unsere Ausgaben sind, was wir uns leisten müssen, um zu funktionieren, und ich sehe die tägliche Fanpost, die der medienerprobte Chefvirologe wäschekorbweise von begeisterten Mitbürgern erhält – Comeback handgeschriebener Briefe –, die sich bedanken für sein nüchternes Einschätzen der Kurven, das ihnen zur Routine, das ihnen zur taktgebenden Tagesration Verstand geworden ist, und ich sehe ihn, den Vielbefragten, zürnen ob der sinnentstellenden Verkürzungen seiner abwägenden Aussagen im Minenfeld des Hochgeschwindigkeits-Journalismus, und ich sehe das Land in sechs Wochen und Europa in sechs Monaten und die Welt in sechs Jahren, und ich sehe sie, die abgehängten Schüler aus sozial benachteiligten Familien, gestützt über das Hausaufgabenheft am Esstisch am Schreibtisch, mit altem Laptop als Schild vorm Gequengel der Schwester, oh, ich sehe sie hocken und brüten und rechnen im beengten Zimmer eines schwülen vierten Stocks, sich plagen mit dem Schulausfall und den Anschluss verlieren, und ich frage mich, wie viele Gewächse unentdeckt bleiben bei gestrichenen Vorsorgeuntersuchungen, und ich sehe sie bösartig wuchern, und ich frage mich, wie viele Zwillingsschwangerschaften durch verschobene Kontrolltermine in vermeidbare Katastrophen abzweigen, und ich sehe die Frage, aber stelle sie nicht, und ich kenne die Antwort, aber gebe sie nicht, und ich sehe Kreuzfahrtschiffe als schwimmende Petrischalen und feiere die Wendung, und ich sehe sie auf Irrfahrt und krank irgendwo stranden, doch nicht mehr einfahren als Zerstörer in Venedig, das sie dem Untergang weihten, und ich sehe das Meer als sein eigener Raum, und ich denke in Tagen und ich denke in Wochen und ich denke in Monaten und ich denke in Jahren, und ich halte mich fest und ich schnalle mich an, und ich sehe Afrika, immer wieder Afrika, und ich denke an Kairo und ich denke an Accra und ich denke an Abuja und Harare und Dakar, ich sehe sie und kenne ihren Schmerz, und ich sehe die Welt, wie sie war, und die Welt, wie sie ist, und die Welt, wie sie sein wird, was wir an ihr tun, und i saw die besten minds meiner beat generation von Wahnsinn destroyed, ich saw sie hungernd hysterical naked, und ich heule mit den Wölfen und ich wandle mich vor Nacht zum bösen Tier mit Silberfell, zum Wermenschen, der vollmondig als angelheaded hipster durch allenlangen Ginsbergginster bricht, um lykanthropisch zu verenden, wie es kommt, und ich gehe dir aus dem Platz an der Sonne als falsch überlieferte Diogenese zurück in den Traum im Traum im Traum, und ich sehe das Land in sieben Wochen und Europa in sieben Monaten und die Welt in sieben Jahren, und ab übermorgen Mittwoch werde ich beim Einkaufen im Supermarkt eine Schutzmaske tragen, wie der Bundeskanzler sagt, mit souveräner gelackter Geschlecktheit, und der militante Innenminister, der verbal aufrüstet und rhetorisch eine Wehrmachtsuniform trägt, der Angst macht, Angst Angst Angst, und der Gesundheitsminister, dem vor lauter Stress längst die Haare ausfallen, der sich bald wieder feig davonstiehlt ins Burnout wie es eben seine grüne Art ist, und ich sehe ja, wie unmenschlich und unfair ich bin – und ich sah, dass es gut war – aber immerhin bescheiden, und wenn schon nichts wissen, dann es wenigstens dichten, und wenn schon nichts glauben, dann wenigstens fest, und ich bin nie der geworden, wer ich hätte können sein, und ich sehe das Land in acht Wochen und Europa in acht Monaten und die Welt in acht Jahren, und ich sehe die Veränderungen im Berufsleben – auch die wahren, guten und schönen –, ich sehe neue Berufsbilder, Produktgruppen, Dienstleistungen, und jemand kann nicht mehr, aber nicht können, das kann er ja auch nicht, und man darf sich die Verzagtheit niemals anmerken lassen, weil es das Starksein für die anderen untergräbt, und nachtlang weiß ich manches, das der Schlaf wieder zerschläft (Selbstzitat), und was sich lüstern erhebt aus den Schwingen der Nacht (Fake-Zitat), aber die Nacht hat einen einzigen Namen (Fremdzitat), und jedes Buch braucht ein strömendes Canto-Kapitel, damit es bei sich ist, und ich sehe die Partnerschaften mit getrennten Wohnsitzen – Not-Comeback des Cybersex –, und zwei Menschen, die sich wie Verbrecher fühlen, wenn sie sich verstohlen treffen bei einem der beiden, wie sie sich unbeholfen zurechtlieben in ihrer misslichen Lage, und ich sehe den Rechtfertigungszwang, noch Bedürfnisse und Sehnsüchte zu haben, trotz allem, und die Feuchte unserer Körper muss verführen, und ich sehe, wie bei der Sündenbocksuche der Trend zum Karnevalsrückkehrer geht, und immer wieder nach Tirol, und ich sehe das Land in neun Wochen und Europa in neun Monaten und die Welt in neun Jahren, und ich sehe mich satt am Erzählstrom einer Zeit, die nicht mehr unsere ist, und ich wundere mich satt über eine Geschichte, die erzählt werden könnte gegenläufig zum Zeitstrom, die stattfinden darf an befriedeten Orten des Geschehens, und immer wieder Afrika, und wie alle, die ohnehin nichts haben, auch noch das verlieren sollen, und vielleicht wäre es angemessen, wenn jene, die alles haben, das ebenfalls verlieren, um ein mögliches Gleichgewicht herzustellen, den Versuch des Versuchs des Versuchs, und wenn wir uns ausklinken aus dem kommenden Erneuerungsprozess, dann findet er ohne uns und unser Mitreden statt, und ich sehe, wie der Staub sich legt, und ich sehe das Messer und sehe das Fleisch, und sehe die Wunde und sehe den Schnitt, und sehe den Eiter und sehe das Blut, und sehe das Pflaster und sehe den Schorf, und sehe das Wunder und sehe die Zeit, und sehe die Sorge und sehe den Sinn, und sehe das Warten und sehe den Schmerz, und sehe die Narbe und habe die Narbe gesehen, und ich sehe die Leere der Plätze und Straßen, und ich höre das nachtlange Hupen der Alarmanlagen liebeskranker Autos, das niemand mehr erhört, und ich finde plötzlich allem eine Form und lade ein zur wahrgeschriebenen Gegenwirklichkeit, und ich sehe, wie der Staub sich gelegt haben wird, und ich sehe die müde Buchhändlerin erstarken, und ich sehe den Tresenlümmler stumm einen heben, und New York und den Germ und Orangensaftgift, und die Angst und die Dame und give me your Geld für die Wirtschaft, und ich sehe uns erzählen, wie es war, und uns sagen, wo wir stehen, und ich sehe mich schlafen, und ich sehe das Land in zehn Wochen und Europa in zehn Monaten und die Welt in zehn Jahren.

Ich öffne die Augen.

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14 Montag, 30.03.2020

Zum ersten Mal seit Langem wieder in der U-Bahn. Die junge Frau an der Tür macht einen Schritt von mir weg, tiefer hinein in den Waggon. (Heute die Verlautbarung einer Maskenpflicht im Supermarkt. Rund zehntausend Anzeigen wegen Verstößen gegen die Maßnahmen soll es gegeben haben. Zehntausend.) Die junge Frau mustert mich und überlegt, wie viel Gefahr von mir ausgeht.
Die U-Bahn-Türen (der neuen Garnituren) öffnen automatisch, ohne dass jemand davor auf den Knopf drücken muss, um seinen Haltewunsch zu äußern.
Erstaunlich, wie man plötzlich jede Veränderung des Tagtäglichen – selbst die allerkleinste – registriert als große Irritation. Und es ist eine Menge an Veränderungen, die wir unentwegt erfahren, auf die wir reagieren, zu denen wir uns verhalten sollen. (Ermüdungserscheinung der Sinne.)
*
Ich studiere den amtierenden U-Bahn-Hund. (In Tiergesichtern liegen Dinge offen.) Was für einer? Ich kenne mich bei Rassen so schlecht aus. (Im Nachhinein recherchiere ich ihn mir zum Golden Retriever.) Sein Beißkorb ist verrutscht wie so manche Atemschutzmaske der Passanten. Er sitzt ganz fromm und blickt auf zu seinem Frauchen, ob sie ihn gutheißt. Er wirkt müde, richtiggehend erschöpft; dabei aber keineswegs verzagt, sondern zufrieden. Vielleicht ist er einfach nur alt und macht nicht mehr so leicht jede Aufgeregtheit mit. Die Augen wirken ein bisschen enttäuscht. Der Hund ist gutmütig schwach.

Die Luft anhalten, wenn man an einer suspekten Person vorbeigeht.

Lichtschalter auswärts mit dem Ellenbogen betätigen.

Erwin Uhrmann sieht teilweise mehr das System bedroht als die Menschen. (Sind wir davon zu trennen?)

Lektorin Merle sagt: Sich beobachten und sich beim Beobachten beobachten, und sich beim Beobachten der Beobachtung beobachten. (Wer bin ich, ihr zu widersprechen?)

Ein tagealtes Rückschaubild: Die Kuchenschmugglerin nimmt einen verbotenen Schluck aus jenem Flachmann, den ein ehemaliger Mitbewohner bei ihnen vergessen hat. Er ist zurück in England, und ich frage mich, ob bei ihm alles passt.

Gehen ökonomischer Kollaps und ökologische Gesundung des Planeten Hand in Hand? (Zu allem fällt mir das rechthaberische Wort Gesundschrumpfen ein; sicher auch dort, wo es nicht hingehört.)

Bei Videochats in der Gruppe werden die Menschen angeordnet zu übersichtlichen Kacheln. Damit sich Gesprächsbrocken nicht zu sehr überlappen, behelfen wir uns teilweise mit einer Art improvisierter Tauchersprache: Daumen nach oben als Bejahung, Daumen nach unten als Verneinung, Winken als Begrüßung und Verabschiedung, Halsabschneiden als Hinweis auf technische Probleme.
Leider wohl ein zukunftsträchtiges Unterfangen, sich in dieser Richtung konsequent weiterzubilden: Zahlen, Warnzeichen für Luftknappheit, Bitte um Wiederholung des Gesagten, Zeichen die Tauchtiefe betreffend, Notfälle, Hinweise auf Boote und bestimmte Unterwasser-Lebewesen. Ich lerne, dass es genormte und ungenormte Zeichen gibt. Jeder Freundeskreis könnte anfangen, einen intern gebräuchlichen Soziolekt herauszubilden. Der virtuelle Raum ist unser Meer.

Die Paketboten halten Abstand. Sie verharren im Stiegenhaus, nähern sich nur widerwillig und in Ausnahmefällen der betreffenden Haustür; stattdessen werfen sie einem die abzuliefernde Ware gegen die Brust. Im Vorteil ist, wer in seiner Jugend passabel Basketball gespielt hat.
Wird es demnächst einen statistisch nachweisbaren Anstieg von Platzwunden und anderen Kopfverletzungen geben? Nimmt das Sprungtalent der Vielbesteller zu?

Mein Arzt-Freund behauptet, Zivildiener würden neuerdings dazu eingesetzt, in ungelüfteten Hinterzimmern des Krankenhauses das vierlagige Klopapier Blatt für Blatt in einlagiges auseinanderzufalten, um so eine Vervierfachung des Klopapierbestands zu gewährleisten, was vom Krankenanstaltenverbund als ressourcenschonende Maßnahme eingeführt worden ist. (Wundersame Fischvermehrung in Zeiten des heraufdämmernden Gesundheitsnotstands.)
Ich verliere das Vertrauen in meinen Arzt-Freund. Was ist noch Blödelei, was bereits von der Wirklichkeit eingeholt? Die Grenzen bleiben fließend. (Als Satire markieren.)

Entwicklungspolitische Siuation, habe ich wo in Krakelschrift notiert. Beim Wiederlesen mancher Zeilen werde ich aus meinen Fetzen nicht schlau; es sind Schübe, denke ich. Das Notizbuch ist zerfleddert (und beinah voll), bei den Bleistiften komme ich mit dem Spitzen kaum nach. Was soll das überhaupt heißen, frage ich mich, gibt es diese Wendung denn als gebräuchlichen Allerweltsbegriff – oder eben als Fachterminus? Das ist der Fall, und ich muss es irgendwo aufgeschnappt haben, ohne dessen tiefere Bedeutung zu verinnerlichen.

Manches deutet hin auf den Sturm vor dem Sturm vor dem Sturm. Atemlos zwar, aber sich dessen bewusst sein – denke, sage, schreibe ich.

Weltzugewandte Einsiedelei – weitschweifige Subenhockerei.

Jene, die vorher schon verrückt waren, sind jetzt klar im Vorteil.

Jemanden vermissen – und sich darin selbst vermissen.

Your quarantine nickname is how you feel right now and the last thing you ate. In meinem Fall:
Tired Spaghetti (Ungefähr so heißen doch wohl alle.)
Weitere Beispiele:
Stressed Leftovers

Depressed Cookie
Anxious Cracker (Doppelfund)
Horny Apple
Enraged Bolognese
Bored Banana Bread

Eine ferne Bekannte nutzt die frei gewordene Zeit für längst überfällige Aufräum- und Ordnungsarbeiten. Dabei schießt sie – wie sie selbst reumütig eingesteht – etwas übers Ziel hinaus, nämlich als sie dazu übergeht, eine Liste anzulegen, wie viele Bücher aus welchen Verlagen sie jeweils besitzt. Darauf muss man erst einmal kommen, denke ich.
Regelmäßig isst sie mit der – einzigen – Stockwerknachbarin zu Abend. Dazu stellt jede einen Sessel in die offene Tür, und so sitzen sie sich gemütlich gegenüber mit einigen Metern Abstand. (Auf dem Foto, das ich zum Beweis kriege, schätze ich ihn auf sieben bis zehn.)
In der Mitte steht ein Topf mit von der Nachbarin gekochtem Essen. Angerichtet wird streng nacheinander, der Deckel wird gelüpft mit einem Tuch. Neben dem Topf steht eine Flasche Wein, aus der sich jede abwechselnd einschenken darf. (Ich bilde mir ein, dass ich erzählt bekommen habe, wie manchmal jede ihre eigene Flasche neben sich stehen hat.) So wird feierlich getrennt zusammen gespeist.
*
Wie viele dieser schrulligen Einfälle – die entstehen, um aus der Not eine Tugend zu machen – werden später beibehalten, werden sich als nützlich oder launig etablieren, werden den Sprung schaffen aus der Extremsituation in die friedvolle Geläufigkeit des Postcoronarismus.

Wie schön wäre es, endlich nichts mehr verstehen zu wollen.

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13 Sonntag, 29.03.2020

Es ist zwei Uhr früh, und ich erinnere mich daran, dass mein Vater – würde er noch leben – uns daran erinnert hätte, die Uhr eine Stunde vor zu stellen, von Winterzeit auf Sommerzeit. (Eine Stunde weniger nicht schlafen.)

Zufällig treffe ich meinen Bruder, und zufällig hat er ein bisschen Zeit, und zufällig gehen wir eine Runde spazieren. Wir vertreten uns die Beine in einem erst kürzlich errichteten Park mit künstlichen Hügeln zwischen den Spielgeräten. Die Bodenfläche ist rau und gibt einen starken Reibungswiderstand, sodass man selbst mit glatten Sohlen nicht so leicht abrutschen kann. Wir wandern von Hügel zu Hügel, besprechen dabei das Weltgeschehen, seine Darstellung in den Medien, die Pressekonferenzen, die Statistiken und Kurven, erzählen von uns. Dann wechseln wir in die Ebene.
Es gibt ein kleines Sonnenfeld, wir gehen auf und ab. Wie ein Hofgang im Gefängnis, sage ich. Mein Bruder trägt dazu passend einen labberigen Jogginganzug, denn später will er noch laufen im Prater. Wir achten darauf, uns nicht zu nahe zu kommen, halten streng die zwei, drei Meter ein. Wir gehen von Zaun zu Mauer, von Mauer zu Zaun. Echt wie beim Hofgang, sage ich, die eine Stunde Bewegung in der Woche. Mein Bruder lacht zustimmend.
*
Wir reden über die abgesagte Fußball-Europameisterschaft und fragen uns, ob es nicht amüsant wäre, wenn irgendein Sender (wer hat sich denn unlängst mit wie vielen Millionen die Rechte gesichert?) die letzte Europameisterschaft von vor zwei Jahren in voller Länge als Wiederholung ausstrahlt; und zwar komplett, von der Auslosung der Gruppen bis zum Finale. Und alle geben vor, als sähen sie es zum ersten Mal und tun bei jedem Tor ganz überrascht. Das wäre doch etwas! Wäre das nichts? Also irgendetwas wäre das doch!
Mein Bruder sagt, es gibt ein paar Dinge, die jetzt unfreiwillig zurechtgestutzt werden. Der überhitzte Transfermarkt im Profifußball gehöre sicher dazu, oder das gegenseitige Überbieten der Billigflugfirmen mit wahnwitzigen Sonderangeboten. Vielleicht konnte es so nicht mehr weitergehen. Vielleicht wird irgendwann einfach alles zu viel – und dann ist es genug.
*
Wir spazieren zufällig weiter zum Donaukanal, das trübe Wasser hat eine sehr beruhigende Wirkung auf mich. Ich frage meinen Bruder, was er so koche. Das Übliche, sagt er, Hühnergeschnetzeltes mit Reis, Kaiserschmarrn, Riebel – mit echtem Vorarlberger Riebelmais –, demnächst vielleicht wieder eine Lasagne. Genau das mache er doch immer, sage ich, dabei wäre doch jetzt die perfekte Gelegenheit, etwas Neues auszuprobieren, sich ein unbekanntes Rezept vorzunehmen. Du hast Zeit, und wo essen gehen kannst du auch nicht. Ich schlage ihm vor, sein Repertoire zu erweitern. Nein, sagt er, wichtiger scheine ihm jetzt, das Repertoire zu erhalten.
Wir klettern über Steine als brüderliche Seilschaft ohne Seil. Das Wasser flüstert ruhig. Unterwegs entdecke ich eine Behausung aus Stecken, mit der sich jemand sehr viel Mühe gegeben hat. Ein filigranes, doch stabiles Flussrandhaus, sehr super für Actionfiguren, die man dort hineingehen lassen kann. Baumeister war ein geduldiges Kind – bewacht von nicht minder geduldigen Erziehungsberechtigten. Da waren wieder die Donaubiber am Werk, sage ich. Dieses minutenlange Steineklettern mit dem Bruder werde ich behalten.
*
An einer Straßenecke mit Mistkübeln verabschieden wir uns. Ich verbeuge mich und sage Namasté. Dann machen wir den Gruß der Vulkanier aus Star Trek, jeder spreizt seine Finger zum Schlitz in der Hand. Wenn das alles vorbei ist, schauen wir wieder gemeinsam eine Folge The Next Generation. Zufällig wird das bald sein. Denn mein Bruder und ich, wir sind Meister des Zufalls. Live long and prosper, sagen wir. Ich gehe einkaufen. Und mein Bruder geht joggen in den Prater.

Der Gedanke, das Gefühl, die Ahnung, die Sorge, die Gewissheit – nicht zum Arzt gehen zu können. (Am Tag, da ich mir böse drei Zehen anhaue und sich die eine burgunderrot verfärbt.)

Im Ungargassenland kommt mir eine Lächlerin entgegen, sie trägt einen Hosenanzug und hat einen adretten, teerschwarzen Bubikopf. (Wer lächelt, wirkt; oder, zugeneigter gesagt: wer lächelt, setzt Vertrauen in die Welt.)

Die letzten Tage der Menschheit
Die seltsamen Zeiten der Menschheit

Im ersten Bezirk hängt an der Kirche Maria am Gestade folgendes Banner:
Nur Mut,
Gott lenkt
alles
Es baut mich auf.

Ich mach es wie der Messenger – bin derzeit nicht aktiv.

Schwindel des zu schnellen Aufstehens – taumelnde Sekunden.

Es verliert einfach nie an Komik, dass einen an der Busstation eine sachliche Frauenstimme über Lautsprecher dazu auffordert, sich bitte die Hände zu waschen sowie in Ellenbeuge oder Taschentuch zu husten und zu niesen.

Arzt-Freund nach einer zehrenden Nachtschicht: Es ist nicht so, dass wir gar nichts haben; aber das, was wir haben, ist wenig. (Die Einweg-Schutzmasken werden jetzt wiederverwendet.) Der Arzt-Freund ist ein Philosoph. Ob er es weiß?

Ein ausgangsbeschränkter Spaziergang wird zum gelungenen, wenn auch kurzen Stadtparktag.
Etwa eine Stunde verbringe ich dort. Dabei habe ich immer das Notizbuch gezückt, um alles einzufangen. Ich werde – hoffentlich – niemals wieder die vertrauten Orte meiner Stadt in einer solch eigenartigen Stimmung erleben. Es liegt an mir, sie einzufangen und für mich zu konservieren.
*
Die Menschen tanken Sonne. Sie verbringen den Tag mit Abstandhalten und Anstandwahren.
Dort balanciert ein Mädchen über Holz, dort wirft ein Bursch einsam Körbe, dort liest eine Teenagerin hustend im Gras, dort treten zwei Geschwister in die Pedale und drehen lustig ihre Runden. Dort frohlockt ein angeschnalltes Baby aus seinem Kinderwagen, es jauchzt auf, dass die Mutter stehenbleibt und sich daran erfreut. Na, fragt die Mutter das Kind, hast du es fein? Dort küssen sich welche und werden nicht satt. Dort geht eine Mutige im Schaukeln aufs Ganze. Dort tapst ein Zwerg den bangen Satz. Dort schiebt sich ein Knirps einen Zopf in den Mund. Dort wartet eine alte Frau auf etwas, das nicht kommt. Dort sind zwei beisammen und dort ist wer ganz bei sich. Ich weiß es, denn ich habe es gesehen.
*
Drei Polizisten kontrollieren schlendernd das Einhalten der Bestimmungen. Sie wirken entspannt und haben nichts zu beanstanden; nirgendwo sehen sie den Ansatz einer Gruppenbildung oder Menschen, die anderen zu nahe kommen. Unter der Uniform sind sie Onkel, Mütter und Nichten, Bandkollegen und Schachpartner. Dort gehen Polizist und Polizistin wie verliebt.
*
Ein unsichtbarer Klarinettist spielt O sole mio, und er spielt damit den Frühling, und verspielt sich nicht einmal. Ich finde ihn am Einschwenk zur Brücke. Er spielt uns. Ich streue ihm ein paar Münzen in den Hut, zwei abwartende Mädchen tun es auch. Mir ist bewusst, dass wir Bargeld derzeit eher vermeiden sollten.
O sole mio ist das, was man zu singen beginnt, wenn man sich über Oper lustigmachen will, über die Künstlichkeit des Gesangs. Dann schmettert man es vor lauter Bruststimme tief aus sich heraus und gibt den Pavarotti mit Bart und Bauch und Zähnen. Nie habe ich mich gefragt, worum es in dem Lied eigentlich geht. Erst zurück daheim suche ich nach einer Übersetzung.
O sole mio – neapolitanisch für Meine Sonne:
Wie schön ist ein sonniger Tag
Die klare Luft nach einem Sturm
Die frische Luft wirkt wie ein Fest
Wie schön ist ein sonniger Tag
Ich lehne mich gegen die Mauer und höre ein bisschen zu. Dann bemerke ich, dass ich mich gegen die Mauer lehne und gehe weiter. Es gibt hier viel Taubendreck, doch er ist eindringlich weiß und sieht sauber aus.
*
Ein Blondschopf tut, als ob er lernt; ich hoffe, dass er sich auf seine Prüfung halbwegs gut vorbereiten kann. Japanische Eltern ermuntern den Sohn, auf dem Foto zu lächeln. Eine Frau sitzt neben ihrem abgestallten Fahrrad und hat eine tiefliegende Sorge im Blick, die niemand ihr nehmen kann. Ein magerer Hippie meditiert mit freiem Oberkörper auf der Wiese; die Sonne meint ihn, wenn sie scheint. Eine gepflegte Dame hält sich den Schal vors Gesicht. Ein Kind fragt, was hier eigentlich los ist. Ein junges Paar liegt stumm und denkt an nichts.
*
Mein Blick ist geeicht auf den Meterabstand, den wir einhalten sollen. Wir sind verboten. Ich frage mich, wie lang es dauern wird, bis wir einander nicht mehr aus dem Weg gehen, bis wir einander nicht mehr argwöhnisch beäugen als vermeintliche Gefahr, wann wir ihn uns wieder abgewöhnt haben werden – den höflich ausweichenden Schritt.
Wir sehen einander an wie etwas, das uns nicht mehr gehört.
*
Banknachbarn – Fremde – beginnen ohne Scheu ein Gespräch. Sie erzählen einander ihren Tag oder ihr Leben. Es geht allen gleich, wir sitzen alle im selben Boot. Manchmal wissen wir es. Der Stadtpark wird müde, bleibt aber wach. Das hier, denke ich, ist keine Idylle, sondern etwas anderes, das nicht weniger ist: Artgenossenschaft als Widerstand. Wenn wir sie uns merken, haben wir viel gelernt.
Wie schön ist ein sonniger Tag. Dort hören sie gern Musik. Dort streichelt einer wen. Dort ärgert sich wer, lässt es dann aber bleiben. Die klare Luft nach einem Sturm. Dort jammert eine, ob das Eisgeschäft öffnet. Dort stolpert einer harmlos übers offene Schuhband. Dort flattert einer grob das weite Kleid. Die frische Luft wirkt wie ein Fest. Dort nickt der Polizist wem zu in freundlichem Ernst. Dort gibt es was zu lachen. Dort bleiben wir anders, dort leben wir neu. Wie schön ist ein sonniger Tag.
Plötzlich wird mir klar, wie alles endet. Ich sehe, dass die Menschen eine komplizierte, einfallsreiche, unschuldige, liebenswerte Spezies sind. Und wäre ich ein Gott, ich würde ihnen verzeihen.

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12 Samstag, 28.03.2020

Nachts treffe ich die Kuchenschmugglerin. Noch im Hingehen erfinde ich den Refrain eines Liedes – Text und Melodie –, das ich zunächst einmal probeweise vor mich hin summe, um es anschließend sofort in den Voice Recorder des Smartphones zu singen:
Dann treffma uns halt illegal am Stephansplatz
Obwohl von uns ja keiner was verbrochen hat
Das Lied ist im Dreivierteltakt und passt zu meiner raunzigen Walzerseligkeit. Auf den gesungenen Refrain folgt eine eingängige Melodielinie, die mich seitdem hartnäckig als Ohrwurm begleitet. Während des Hinwegs wiederhole ich mein Lied ein paar Mal laut. Es ist mir nicht peinlich. Ich singe es gern.
*
Die Kuchenschmugglerin wartet am vereinbarten Treffpunkt. Wir bleiben auf Abstand. Legen Sie es hin, sage ich. Sie nimmt etwas aus dem Stoffbeutel, es schimmert matt. Sie legt es auf eine Steinbank vor dem Kircheneingang. Dann tritt sie einige Schritte zurück. Ich nähere mich mit der abgeklärten Vorsicht des Bombenentschärfers. Das abgelegte Objekt ist mit Alufolie umwickelt, auf die jemand mit Filzstift einen rudimentären Smiley getupft hat, der einen spöttisch mustert.
Meine Mitbewohnerin hat einen Zitronenkuchen gebacken, sagt die Schmugglerin.
Danke, sage ich, das ist sehr nett.
Die Mitbewohnerin arbeite in einer Bäckerei in der Innenstadt und wisse, wie man etwas so verpacke, dass man es nicht berührt.
Am nächsten Tag – frühmorgens – schlinge ich beide Stücke mit dem ersten Arbeitskaffee herunter. Der Zitronenkuchen schmeckt vorzüglich, er ist saftig und nicht zu süß.
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Das nächste Mal treffe ich die Kuchenschmugglerin bei Wien Mitte. Die Übergabe geschieht sinnigerweise vor einer (geschlossenen) Konditorei. Es handelt sich um ein großzügig bemessenes Stück Patzerlgugelhupf, in dem köstliche Nester aus Powidl, Mohn, Topfen und Haselnussgatsch eingelagert sind; die knusprige Oberseite ist mit Staubzucker bestreut. Die Bombe wiegt schwer im Beutel, den ich zum Heimtragen an mich nehmen durfte. Die Kuchenschmugglerin hat den Gugelhupf selbst gebacken.
Zurück in der Wohnung koste ich direkt aus der Alufolie. Der Germteig ist gut spröde und die Füllungen ein miteinander ringender Genuss. Den Rest hebe ich mir für später auf.

Idee für ein Kunstprojekt: Capture Corona (Arbeitstitel).
Eine Sammlung von Screenshots unserer Videochats. Natürlich gab es diese schon vorher, auch das Teilen sehr privater Momente in Fernbeziehungen oder bei Zusammenkünften von Familienmitgliedern, die in unterschiedlichen Ländern wohnen und keine Besuchsmöglichkeit haben. (Ich denke an Großeltern, die den ersten Blick aufs frisch geschlüpfte Enkelkind über den Bildschirm werfen.) Doch die seltsamen Zeiten sind anders.
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Wir treffen uns mit Menschen auf einen Kaffee, wobei jeder daheim in der Küche sitzt; Menschen in derselben Stadt, denen wir unter anderen Umständen regelmäßig begegnen würden. Abends gehen wir auf ein Bier mit guten Freunden. (Für heute hat sich bereits der fix und fertige Arzt-Freund angekündigt; der Anwalts-Freund hat Sorge um das samstägliche Mehrgangmenü und lässt sich sehr bitten.) Auch Videokonferenzen gab es in der Berufswelt; plötzlich aber halten sie auch dort Einkehr, wo sie zuvor undenkbar waren.
Im Privaten etablieren sich Gruppenchats – neulich waren wir zu acht und hatten vier Fenster gleichzeitig offen, haben in die Kamera angestoßen mit unseren Gläsern und Flaschen. Diese Erfahrung ist fremd und neu und höchst absonderlich; und unter den gegebenen Umständen sehr beglückend als bester Versuch der Geselligkeit. (Bildschirme als Wahrheitsbehaupter.) Diese Beweise unserer zukünftigen Vergangenheit, diese Stichwortgeber unserer Erinnerung, muss man in großer Zahl abspeichern und festhalten und fixieren. (Der Sammelvorgang als soziale Plastik.)
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Der Titel Capture Corona hat eine Doppel-, nein, sogar eine Dreifachbedeutung, die einen angenehm kitzelt an einer Stelle im Kopf. Capture meint den technischen Vorgang des Einfangens, also das Herstellen des Screenshots. Capture meint auch das Infiziertwerden mit dem Virus, vor dem wir uns und andere durch unser Verhalten bewahren wollen. Und zu guter Letzt meint Capture auch das Einfangen der Ereignisse, des Phänomens Corona als historisches, weltumspannendes Ereignis.
Von den – abzuwendenden – Verheerungen, den Kranken und Toten, den Benachteiligten und Abgehängten soll – und muss – und wird – die Rede sein. Capture Corona wiederum soll einen positiven Aspekt der seltsamen Zeiten abbilden: die Möglichkeit des virtuellen Zusammenrückens bei physischem Abstand, das Aufrechterhalten und Erneuern starker freundschaftlicher Bande in virtuos getanzter Parallelbewegung zum social distancing.
Konkret denke ich an eine simple Plattform (betrieben von einem Museum?), auf der User anonym die Screenshots ihrer Chats hochladen; mit oder ohne Registrierung und Profilerstellung, unbedingt jedoch mit Einverständniserklärung zur Weiterverwendung des Materials für künstlerische Zwecke. (Das Einhalten der Datenschutzgrundverordnung muss gewährleistet sein.)
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Das Projekt kann einerseits im virtuellen Raum stattfinden, als stetig wachsendes Bild-Archiv, das durchforstet oder als Environment in der virtual reality aktiv betreten und durchstreunt werden kann. Andererseits jedoch soll es den Sprung zurück schaffen in die echte, die physische Welt; so erlauben wir dem Virtuellen als Notlösung das Eintreten in die greifbare Wirklichkeit, zu der es strebt.
Ich sehe eine klassische, betretbare Ausstellung. Digitale Screenshots werden auf Leinwand gedruckt und gehängt. Capture Corona erlöst so die eingefrorenen Gesichter – das beduselte Kichern, den neutralen Meeting-Mund – der Chatlinge wie die spukenden Geister von Toten, die noch etwas Unerledigtes im Reich der Lebenden hält. Dann suchen uns die Bilder nicht mehr heim.
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Ich möchte das Projekt samt Arbeitstitel und Konzept-Skizze verschenken, und selbst darin nicht mehr involviert sein. (Obwohl mir noch so manche Idee ausbrütenswert erscheint, muss ich aufpassen, kein peinlicher Corona-Gschaftlhuber zu werden. Oder bin ich es schon?)
Capture Corona steht zur freien Verfügung.

Idee für ein Fotoprojekt: Ablichten der menschenleeren Straßen und Plätze.
Möglicher Titel: Die Welt ohne uns
Oder: Wir ohne uns
Wird sicher bereits überall umgesetzt. Hier geht es darum, schneller, besser, umfangreicher – unbedingter – als die anderen zu sein. Ich wundere mich über jeden Fotografen, der nicht draußen unterwegs ist und die seltsamen Zeiten einfängt. (Sogar über jeden Menschen, der eine Kamera besitzt, ein bisschen Zeit hat und halbwegs bei Sinnen ist.)

Idee insgesamt: Vielleicht für einen Tag einmal gar keine Idee haben, sondern im Kopf die Goschn halten. Nur einen kühlen Sonnensamstag lang.

Ein virtueller Kaffeeplausch mit dem Schriftsteller Erwin Uhrmann. Von Bücherwand zu Küchenblick. (Er hat ein hintergründiges Lächeln, dem man das stille Denken mit messerscharfem Verstand ansieht; sein akkurater Vollbart ist gepflegt und irgendwie gesund.) Wir treffen uns nicht oft – vielleicht alle paar Monate einmal –, doch jedes Mal führen wir ein erhellendes Gespräch, das für einige Zeit in mir nachwirkt. (Gute Gesprächspartner erkennt man nicht zuletzt daran, dass man selbst zum besseren Gesprächspartner wird, man sich im Antworten und gemeinsamen lauten Nachdenken über die Dinge plötzlich Sätze sagen hört, die klüger sind als man selbst.)
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Ich erzähle ihm von meiner Idee zu Capture Corona. Er hört es sich geduldig an, nickt langsam. Allerdings schlägt er vor, dass ein Künstler diese Screenshots dann auf Leinwand malen sollte.
Stimmt, denke ich, so gelänge eine noch tiefere und vollständigere Rückführung des Virtuellen in die Wirklichkeit; die sterile Kälte einer Bildschirmspiegelung erhält so die Haptik und Oberflächenstruktur einer Farbschicht. Durch den Akt des Malens eignet sich der Mensch sein eigenes Bild wieder an, das er sich von der Maschine (freiwillig) hat wegnehmen lassen. Diebstahl oder Geschenk wird so durch Menschenhand entschärft zu offenem Borgen.
Mit einem Bein lebt und arbeitet Erwin in der Kunstwelt. Gemäldewerdung von Videokonferenzen oder Chat-Portraits mag es früher schon in ähnlicher Form gegeben haben, doch alles ist Kontext – das weiß er besser als ich. (Neben dem eigenen Schreiben kuratiert er eine Lyrikreihe; daneben wirkt er als Kommunikationsdramaturg – geheimnisvolle Berufsbezeichnung, die ich mir nie merken kann.)
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Erwin sagt: Was wir derzeit erleben, das sind die Auswirkungen der Normalität auf die Krise, aber bald, in ein paar Monaten vielleicht, wird es umgekehrt sein, und wir erleben die Auswirkungen der Krise auf die Normalität. (Bist du deppert, denke ich, das ist deep.)

Der Postler stellt vor meiner Haustür einen riesigen Karton ab, der mit vergnügtem Klebeband umwickelt ist. Sodala, brummt er, da kommt das Spielzeug. Ich weise ihn darauf hin, dass ich nichts bestellt habe. Wir kontrollieren die Anschrift: Haus- und Türnummer stimmen zwar, doch Name und Straße sind falsch. Der Postler entschuldigt sich: Mein Fehler. Er nimmt den Karton wieder mit. Ich hätte den Mund halten und das Spielzeug entgegennehmen sollen.

Nach zwei Wochen pendelt sich alles ein auf einen erträglichen Normalstress.

Jede Krise ist eine Frage; und jede Antwort sind wir selbst.

Angeblich wurde in Frankreich bei Intensivbetten ein Alterslimit von fünfundsiebzig Jahren eingeführt. Ich traue mich nicht, zu recherchieren, ob es stimmt.

Hätten wir uns jemals träumen lassen, dass es zum subversiven Akt werden könnte, sich zu umarmen?

Musikvideos sind Kurzfilme mit viel Soundtrack.

Der Arzt-Freund schickt mir das Bild einer Tafel, die vorm asiatischen Supermarkt aufgestellt wurde:
ACHTUNG (in empörtem Rot)
VOR DEM
BETRETEN
BITTE
DESINFIZIEREN
DANKE
Dazu der Verschicker: Wenn du reingehst kommt wirklich ein Chinese mit der Sprühflasche Desinfektionsmittel daher! (Ich weise ihn sanft darauf hin, dass ich Beistrichsetzung in Zitaten grundsätzlich nicht korrigiere.)

Später leitet der Arzt-Freund ein von einem Kollegen weitergeleitetes Zitat unbekannter Herkunft weiter: Uganda has more government ministers than intensive-care beds.

Am Geschäftseingang ein Zettel mit windschiefer Kugelschreiberschrift:
Lieber Postmann,
Bitte klopfen Sie die Tür
Bei Bedarf
Vielen Dank
(Das Notieren und Kopieren und Archivieren und Dokumentieren der Zettelfunde wäre ein eigenes Projekt, eine eigene Disziplin, die ich mir nur am Rande aufhalsen darf.)

Ich bin gerade irgendwo anders, auf eine gute Art; und genau dort, wo ich hingehöre.

Einander begegnen in verzweifelter Erregung.

Unerbittlicher Begriff: Hygienestandard

Wenn ich Tirol wäre, dann würde ich ebenfalls um meinen Ruf bangen.

Gelungener Verleser bei der Bildunterschrift einer privaten Winterszene. Ich trotze der Kälte draußen – wird zu: Ich strotze vor Kälte draußen.

Erst die Arbeit und dann die Arbeit. (Und man täte gut daran, wenn es gleichzeitig das Vergnügen ist.)

Wer archiviert das Jetzt?

Wir alle werden uns später die Frage gefallen lassen müssen, ob wir uns brav zurückgelehnt und Brot gebacken haben oder von Anfang an – bereits in der Kernzeit der Krise, der Phase reiner Schadensbegrenzung – alle zusätzlich vorhandene Energie investierten, einen dringend notwendigen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Wandel herbeizuführen.

Frage: Wie geht es dir?
Antwort: Auf meine Weise gut.

Mit leuchtenden Augen: Was das für ein Schauspiel sein wird, da sich die Welt danach wieder erhebt.

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11 Freitag, 27.03.2020

Beim nächsten sogenannten Zukunftsforscher, der im Ton herablassender Selbstaufgeilung die banalsten Offensichtlichkeiten absondert, schmeiß ich mich durch den Bildschirm und spring ihm an die Gurgel. (Der deutsche Obertrottel schickt jetzt auch seinen Klon-Sohn auf den Medienstrich; fürs österreichische Fernsehen ist sich der Schmied natürlich wieder zu blöd und setzt den Schmiedl hin.) Ich tausche alles, was die zwei Trendgurus im Laufe ihres ertragreichen Arbeitslebens noch von sich geben werden, gegen einen einzigen Satz meines Postlers – da lerne ich mehr.

Ich ekle mich vor Geld, vor Münzen mehr als vor Scheinen. Dieser Geldekel, denke ich, muss in gewisser Weise auch ein Selbstekel sein, denn wir sind es, die es ständig mit uns herumtragen und einander in die ungewaschenen Hände legen. Das auf dem Geld, vor dem ich mich ekle, das bin eigentlich ich und das sind die anderen mit ihrer übertragbaren Verschwitztheit. Geldekel ist Menschenekel.

Steigen auch Sie ein ins hektische Business der Domain-Broker. Das Prinzip ist einfach: Voraussehen, welche Internetadresse in Zukunft Bedarf finden könnte, diese erwerben, und sie schließlich zu einem späteren Zeitpunkt mit deftigem Aufschlag weiterverkaufen. So weit, so banal. Nun herrscht (wie in so vielen Branchen) Goldgräberstimmung.
Wir befinden uns am Beginn eines historischen Ereignisses, womöglich sogar am Anbruch einer neuen Epoche. In vielerlei Hinsicht wird der Reset-Knopf gedrückt, werden die Karten neu gemischt. Wer jetzt in der Lage ist, gleichermaßen rasch wie hochkonzentriert zu handeln, verschafft sich einen Startvorteil in der neuen Normalität.
Jedwedes existierende Produkt und jedwede bereits vorhandene Dienstleistung kann potentiell in den Corona-Kontext gesetzt werden. Wir empfehlen das frühzeitige Sichern diverser Internetadressen; diese sollten einerseits spezifisch genug sein, um eine konkrete business opportunity abzubilden, andererseits jedoch so pauschal gehalten werden, dass sie eine gewisse Allgemeingültigkeit beibehalten. Lassen Sie Ihrer Phantasie freien Lauf!
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Als besonders zukunftsträchtig erachten wir das Sichern von Adressen, die im Zusammenhang stehen mit psychologischer Betreuung, Therapie von Angststörungen, Selbstfindungstrips, Meditation, Coaching oder Lebensberatung. (Im ersten Zeitfenster für die Betreuung von Akutfällen; als mittel- und langfristige business vision zur Linderung von Panikreaktionen und Stress-Symptomen während der kommenden Jahre.) Ein paar Beispiele:
http://www.corona-detox.com
http://www.coronahelp.com
http://www.coronacoach.com
Ebenfalls sinnvoll erscheinen uns diverse Wortspiele und naheliegende Verballhornungen wie:
http://www.mycorona.com
http://www.coronarrativ.com
http://www.corona-türlich.de
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Desweiteren empfehlen wir das Erspüren von kommenden Produkten und neuartigen Dienstleistungen in bekanntem Zusammenhang (Professionelle Desinfizierung von Räumen und Gegenständen, Gütesiegel für Keimfreiheit, Standardisierung von Nahrungsmittelerzeugung.) Auch hier sind der Phantasie keine Grenzen gesetzt.
(Achten Sie auf das zeitgleiche Sichern von lokalen und internationalen Endungen, stets verbunden mit der jeweils abgeänderten Schreibweise. Globale Probleme erfordern globale Lösungen. Identifizieren Sie dringend mögliche Abwandlungen oder Zusätze wie Bindestriche – der Bindestrich gilt nicht ohne Grund als die Nemesis des unachtsamen Domain-Brokers.)
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Sichern Sie sich die Adressen für Internetauftritte von zu erwartenden Buchprojekten, Ausstellungen, Filmen (Dokumentationen ebenso wie fiction) und Fernsehserien. Zur Inspiration:
http://www.corona-zombies.com
http://www.coronapocalypse.com
http://www.coronacatastrophe.com
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Achtung – Universalfaustregel: Auch banale Flüchtigkeitsfehler und auf die Rechtschreibschwäche der User zurückzuführende Falscheingaben sollten Sie klug vorwegnehmen:
http://www.meicorona.com
http://www.koronatif.com
http://www.corronokalüps.org
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Das Antizipieren von medizinischen oder pharmazeutischen Beratungsseiten versteht sich von selbst. Nicht unter den Tisch fallen sollten dabei lokal spezifische Angebote, also Orts-, Städte- und Landesnamen verbunden mit einem sinnvollen Corona-Kontext. (Dankbarer und spendierfreudiger Abnehmer könnte hier die jeweilige Regierung oder ein Ministerium sein.) Merke: Regional denken, global kassieren.
Der Domain-Broker blickt in die Zukunft, und zwar weiter als der Normalsterbliche. Malen Sie sich realistische Szenarien aus, und bei den abwegigen gambeln Sie munter drauflos, schließlich soll das Ganze ja auch ein bisschen Spaß machen. Werfen Sie im launigen Domain-Freestyle Ihre Adress-Angel sehr weit hinaus – und seien Sie nicht enttäuscht, sollte sich erst in ein paar Jahren der gewünschte Erfolg einstellen. Vertrauen Sie uns: Langer Atem zahlt sich aus. Wir empfehlen intensive Recherche und gemäßigte Spekulation in den folgenden Bereichen:
Armutsbekämpfung
Organhandel
Impfgegner
Verschwörungstheorien (Laborentwicklung, Weltbevölkerungsreduktion, Seuchenerfinder)
Überwachung
Digitalfaschismus
Nicht selten sind wir mit dem Vorwurf konfrontiert, in unserem Bestreben der Gewinnmaximierung etwas pietätlos, ja, sogar zynisch zu sein. Nun, da sagen wir: Carpe diem. Und: Abducet praedam, qui occurit prior. Und vor allem: Lieber ein satter Zyniker als ein hungernder Moralapostel!
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Vergessen Sie niemals das oberste Prinzip der Domain-Broker: Don’t do it yourself! So mancher Adressen-Verscherbler erliegt der Versuchung, ein herbeiphantasiertes business model selbst umzusetzen. Auch Sie mögen jetzt vielleicht denken: Also, das mit dem Corona Detox, das ist doch eine wunderbare Sache; ich miete mir irgendein Gelände, auf das ich ein paar windschiefe Indianerzelte setze, oder ich erstehe günstig ein Seminarhotel mit Thermen-Anbindung irgendwo im Salzkammergut, engagiere ein paar unseriöse Esoteriker und erlöse die urbanen Besucher von ihrer Corona-Überforderung, ich lasse sie den ganzen Stress-Ballast herauskotzen und die ganze Herzscheiße wegtanzen. Da rasselt die Kassa. Vorsicht.
Wir sagen: Tun Sie das nicht! Denn: Sie können es nicht! Glauben Sie uns, Sie können es einfach nicht. (Schuster, bleib bei deinem Leisten.) Kaufen Sie einfach die Domain – und verkaufen Sie die Domain an den Meistbietenden. Die Einrichtung selbst muss ein anderer aufziehen, jemand vom Fach oder ein geschäftstüchtiger Opportunist. Vergessen Sie nie: Ein business kann scheitern, doch bis dahin ist die Adresse längst verkauft. Für Sie gilt: Geringes Risiko, großer Ertrag.

Heute ist wieder viel Sprache in dem, was zu schreibst. (Ein bisschen zu viel.)

Die Begriffe der Unerbittlichkeit:
Übertragungsrate
Basisreproduktionszahl
Gesundheitszeugnis
Infektionsgeschehen
Haftungsrahmen
Notverstaatlichung
Intensivbett
Schulterschluss
Lastwagenstau
Epidemiegesetz

Selbstübersetzung einer Gedankensprache in erfundenen Wortschatz; dabei entstehen beglückende Fremdklänge. Sich in einer Feinwahrnehmung schulen; niemals sich ganz über den Weg trauen.

ZEIT-Leser in Sorge: Ist mein Abo sicher? (Jetzt, wo die ganzen schönen Kreuzfahrten ausfallen.)

Zu einem tatterigen Spazierer auf der Straße: Hallo, Mister Risikogruppe!

Welche Jahreszeit hätten wir jetzt eigentlich?

Ein Arzt ohne ausreichende Mittel kann lediglich den Tod verwalten. (Und wird daran verrückt.)

Solidarität ist Eigennutz. Erlässt der Hauseigentümer dem kleinen Friseursalon im Erdgeschoss für einen oder zwei Monate die Miete, sodass dieser nicht bankrottgehen und alle Mitarbeiter entlassen muss, wird es nur zu seinem Vorteil sein. Verschwindet der Salon, fallen auch in Zukunft die Mieteinnahmen weg. Verzichtet der Hauseigentümer (sofern er es sich leisten kann; und meistens kann er es) vorübergehend auf Einnahmen, sichert er das Überleben des Betriebs – und auf lange Sicht den Geldfluss in die eigene Tasche. Mit der Dankbarkeit und Verlässlichkeit des Unterstützten kann er ebenfalls rechnen. (Marx für Arme?)
Auch die Wirtschaft braucht Konsumenten, die über ausreichend Mittel verfügen, einzukaufen. Es ist im Interesse der Firmen, Armut massiv zu bekämpfen; so bleibt der Kreislauf stimuliert.
*
Shareholder führen gern ein komfortables, genussreiches Leben. Sie lieben es, durch Städte wie Paris und New York zu flanieren, oder mit dem Cabrio einen Abstecher ins kleine (authentische!) italienische Bergdorf zu machen, wo sie beim herzlichen Fabrizio einen kleinen Happen essen und eine Flasche Hauswein bestellen. Es wäre ja ganz nett, wenn diese Orte nicht zu einem Moloch aus Krankheit und Kriminalität werden, sondern über eine stimmungsvolle Atmosphäre mit halbwegs zufriedenen Bewohnern verfügen.
Auch Topmanager haben Töchter, die frühmorgens durch den Central Park joggen, und sie schätzen es womöglich, wenn diese nicht überfallen werden. Auch Hollywoodstars reisen hoffnungsfroh nach Indien als anonyme Rucksacktoursiten, um eine ayurvedische Entschlackungskur zu machen oder zu sich selbst zu finden, und könnten auf den Gestank von klaustrophobischen Latrinen gern verzichten. Auch Multimillionäre und Multimilliardäre profitieren von einer Welt als kollektivem Möglichkeitsraum, in dem die Schwächsten nicht durch den Rost fallen, sondern die Teil sind einer kooperativen Verflechtung. Wir alle profitieren von der Förderung des benachteiligten Jugendlichen, der später das eine Lied singt, den einen Film dreht oder die eine Erfindung macht.
Für jene, denen Mitmenschlichkeit allein noch nicht reicht als stichhaltiges Argument, die ungern hinterfragen, inwiefern das eigene Verhalten den Bedürfnissen anderer zugutekommt, die es nur pragmatisch und faktenbasiert verstehen: Zahlen lügen nicht – Solidarität ist Eigennutz.

Immer wieder die Vorstellung, meinen Altersgenossen, den Bundeskanzler, am Ohrwaschl zu nehmen; ein bisschen ermunternd, ein bisschen ermahnend – aber sehr zärtlich.

Alle Aspekte des Corona-Phänomens zweigen ab in ihre jeweiligen Teilaspekte, die sich wiederum verjüngen in filigranste Verästelungen, denen man mit den Mitteln höchster, langanhaltender Konzentration hinterherdenken muss. Es stellen sich alle Fragen, gleichzeitig und laut; allesamt Gretchenfragen.
Jene der Medizin (Virologie, Wirkstoffstudien, Triage) und jene der Politik (Grenzen der Demokratie, Wiedererstarken des Lokalpatriotismus, Krisenmanagement, Verwaltungsapparat, Aushebelung des Rechtsstaats, Redefreiheit, Versammlungsrecht, Überwachung als Kinderstube des Totalitarismus) und jene der Justiz (Verhandlungen, Besuchsrecht, Vollzugslockerung, Freigang) und jene der Ethik (Schüren des Generationenkonflikts, gezielte Infizierung junger Ärzte als immunisierte Reserve, Herstellung einer Herdenimmunität) und jene der Ökonomie (Verteilungsgerechtigkeit, Wirtschaftseinbruch, Arbeitslosigkeit, Wandel der Arbeitswelt, Sackgassen der Globalisierung, Etablierung neuer Modelle, Technologieschub, Neoliberalismus, Home-Office) und jene der Ökologie (Klimawandel, Infrastruktur, Flugscham) und jene der Soziologie (Gruppendynamik, Hierarchisierung der Gesellschaft, Vereinzelungseffekte, Teambuilding, Schulschließung, Didaktik) und jene der Psychologie (Stressreaktion, Depression, Empathiepotenzial, Resilienz, soziale Intelligenz) und jene der Komparatistik (Spielwiese der Kreativität, Einordnung und Analyse der maßgeblichen künstlerischen Hervorbringungen) und jene der Publizistik (Rolle des Journalismus, Meinungs- und Panikmache, Dokumentation der Berichterstattung) und jene der Linguistik (Kriegsrhetorik, Begriffsdiktatur) und alle sonst.
Eines geht dabei fließend ins andere über. Es gibt keine Disziplin, die nicht befragt, kein Feld, das nicht beackert wird. Und ausnahmslos sind es lohnenswerte Untersuchungsobjekte.
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Früher oder später wird es nötig sein, einen eigenen Wissenschaftszweig herauszubilden (ähnlich wie in Stanislaw Lems Science-Fiction-Roman Solaris die Solaristik um den wundersamen Ursuppen-Planeten), der sich ganz der Erforschung des Phänomens und all seiner Teilaspekte verpflichtet. Dies ist die Geburtsstunde der Corona-Wissenschaft oder Coronaristik. (Domain-Broker aufgepasst!)
*
Das Benennen und Herausbilden der Coronaristik geschieht zunächst nur im Kopf. Hier gilt es, Räume zu schaffen – Denkräume. Sterile Orte mit ausreichend Fläche. Das kreative Chaos verzettelter Schreibtische wird es neben leergefegten Seziertischen ebenfalls geben. Etwaige Umbaumaßnahmen können in Gang gesetzt werden; so manche Wand muss durchbrochen, so mancher Schwellenunterschied eingeebnet werden, um die Coronaristik so ernsthaft wie wagemutig zu betreiben. Es sich bequem machen im geistigen Großraumlabor. Schafft Platz in den Bibliotheken.

Wie erbarmungslos und präzise einen Minimal Techno voranpeitschen kann.

In der Nacht gewesen. Geweint. (Wie ein Ersatz-Kafka im Kino. Als bedrohlich geschwenkte Waffe in der Hand die leergetrunkene Weinflasche mit Whiskey – bitterer Zaubertrank für unterwegs. Weinen nicht vor Unglück oder Glück, sondern als erschöpftes Einsehen, wie poetisch alles ist. Poetisch heißt nicht leicht oder klar oder schön. Auch Celans Todesfuge ist poetisch, oder Adornos begeistert missverstandenes Bonmont, nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, sei barbarisch. Vielleicht heißt poetisch ja nur, dass wir nicht wissen, wie es weitergeht, und dass wir dieser Tatsache anstatt mit Angst oder Flucht mit Würde und Erhabenheit begegnen. Wir sind poetisch.)

Wenn dann alles vorbei ist – was heißt alles und wann ist es vorbei?