Im Parlament regiert die autokratische Versuchung.
Die Pressekonferenzen der Kabinettsmitglieder klingen wie der feierliche Abschied von etwas.
Ärzte haben zweierlei Schutzmasken: Beruflich die richtige für ihre Arbeit im Krankenhaus beim Behandeln der Patienten. Und privat die bunt gemusterte Schmähmaske oder Ziermaske aus Stoff beim Einkaufen im Supermarkt, um die Maskenpflicht der Regierung umzusetzen; aus einschichtigem, nicht zertifiziertem Material, das keinen Schutz vor Tröpfcheninfektion bietet.
Die Ärzte wissen, wie sinnlos und verschwenderisch die Maßnahme ist, wie kontraproduktiv sogar, da Kinder und Ahnungslose sich verstärkt ins Gesicht greifen, haben nun jedoch andere Sorgen, als ihre Fachmeinung in den Ring zu werfen gegen ein gefährliches Halbwissen, das um sich greift. (Außerdem schießen sie jetzt ja ohnehin aus dem Boden, die pseudowissenschaftlichen Studien zur positiven Wirkung einer maskierten Allgemeinbevölkerung. Mit einer Plötzlichkeit, die staunen macht. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. Unwidersprochen bleibt: Bei richtiger Anwendung ist die Maßnahme sinnvoll; diese wird gewährleistet durch Aufklärung und anhaltende Bewusstmachung. Ich selbst als Brillenschlange bin davon besonders überfordert.)
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Die Menschen tragen Masken wie Kinder ihr Spielzeug. Beim Aufsetzen werden sie am Vorderteil zurechtgezupft, beim Abnehmen wird sich munter an Nase und Mund gefasst. Die Menschen tragen ihre Masken zu locker oder um neunzig Grad verdreht. Ausgeteilt werden sie beim Eingang mit der groben Semmelzange. Beim Verlassen des Supermarkts werfen die Menschen die Einwegmasken achtlos zu Boden. (Der millionenfache Maskenverschleiß setzt einen originellen Kontrapunkt zum umweltschonenden Lahmlegen des globalen Flugverkehrs.)
Die Maske eines Supermarktangestellten geht nicht über die Nase; jene seines Vaters ebensowenig, mit dem er sich angeregt über Getränke und Brot unterhält. Überhaupt gehen Masken selten über die Nase, oder werden kurzerhand unters Kinn geschoben, um mit jemandem zu plaudern. Maskenpflicht ohne Kontrolle ist wie Gurtpflicht ohne Kontrolle: Wir wickeln uns die Schlaufe dreimal um den Bauch, und dürfen weiterfahren. Aber sind wir deshalb angeschnallt? Maskenpflicht mit Kontrolle wäre ja noch schöner. Schaut rings umher, wohin der Blick sich wendet: Es ist ein gutes Land!
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Die Masken sitzen allgemein schief. In der Schlange zum Vordermann lasse ich einigen Abstand. Eine junge Frau mit Rucksack schwindelt sich dazwischen und gibt vor, nicht bemerkt zu haben, dass ich der Nächstgereihte war. Wahrscheinlich, denke ich, macht sie das öfter, mogelt sich in diese neu entstandenen Zwischenbereiche. Ich verfluche sie, halte aber still. Habe ich nicht – haben wir alle nicht – andere Sorgen? Die Rucksackfrau ist stark tätowiert. An der Kassa nimmt sie einige Päckchen mit Blumensamen aus dem Drehständer. Blühen darf der Frühling ja. Ein Tattoo schlängelt sich verwegen um den Hals. Sie kommt an die Reihe. Vielleicht geschieht es ohne böse Absicht.
– Ich möchte bitte nicht in deinem depperten Notizbuch vorkommen.
– Okay.
– Versprichst du es mir?
– Mhm.
Die Post ist langsamer geworden. Was früher zwei oder drei Tage brauchte, ist jetzt mehr als eine Woche unterwegs. Doch man kann ihr vertrauen. Ich bin ein großer Freund der Post. Neulich beim unförmigen Buchbrief der Menschensammlerin klebte ein aufschlussreiches Pickerl am Kuvert:
Sehr geehrte Postkundin, sehr geehrter Postkunde!
Die Verpackung Ihrer Sendung wurde leider beim Transport
beschädigt oder verschmutzt, daher haben wir die Verpackung
ausgebessert. Dabei wurden keine Mängel an der Ware festgestellt.
Ihr Qualitätsmanagement der Post
Zum ersten Mal seit Langem wieder in der Filiale einer Bäckereikette. Ich bin der einzige Kunde. Hinter der Theke ist niemand zu sehen. Mein Auge fällt auf eine satt eingeringelte Zimtschnecke. Die Verkäuferin erscheint aus einem Hinterzimmer, legt das Exemplar einer Gratiszeitung weg.
Ich: Nicht viel los heute, oder?
Verkäuferin: Nein, in letzter Zeit nicht.
Ich: Schon auch fad auf Dauer.
Verkäuferin: Naja, solange ich fürs Nichtstun bezahlt werde, passt es mir eh. Ich lese halt den ganzen Tag Zeitung oder – … (wahrscheinlich denkt sie daran, dass sie viel ins Handy starrt.)
Ich: Eine Zimtschnecke, bitte.
Verkäuferin: Einmal eine Zimtschnecke.
Ich: Und mit der Familie?
Verkäuferin: Die Tochter habe ich eh abgeben können.
In der Schule? Bei der Oma? Bei einer Bekannten? Ich spare mir die Nachfrage, denn das geht mich nun wirklich nichts an. Ich bezahle, nehme die verpackte Schnecke am Papierkragen und verabschiede mich. Die Verkäuferin kehrt in ihre Zeitung zurück.
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Ihr Satz hallt in mir nach: Solange ich fürs Nichtstun bezahlt werde, passt es mir eh. Ja, denke ich, das kann ich mir schon vorstellen, dass es ihr passt, aber wenn sie noch länger fürs Nichtstun bezahlt wird, dann wird es sich nicht mehr lohnen, das Geschäft aufzusperren, und dann wird geschlossen und sie wird entlassen, aber ohne neumodisches Kurzarbeitsmodell, sondern klassisch, einfach so. Und dann wird sie weiterhin nichts tun, aber zu Hause, und auch nicht mehr dafür bezahlt werden. Wenn ich sie wäre, würde ich das Bimmelbammel des eintretenden Kunden herbeisehnen wie einen Schöpfer Wasser in der Wüste.
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Es handelt sich um das altbekannte Kellner-Paradoxon – ich wundere mich, diesen Begriff nicht genau so in der ökonomischen Fachliteratur aufspüren zu können.
Möglichkeitsraum Alpha: Im Restaurant ist viel los. Der Kellner stöhnt unter der Arbeitsbelastung. Er wünscht sich, dass weniger los ist. Doch allzu fest sollte er es sich nicht wünschen, denn ist zu wenig los, dann wird er früher oder später hier nicht mehr beschäftigt sein.
Möglichkeitsraum Beta: Im Restaurant ist wenig los. Der Kellner freut sich über die geringe Arbeitsbelastung. Er hofft, dass es so bleibt. Doch allzu sehr sollte er es nicht hoffen, denn ist nicht mehr los, dann wird er früher oder später hier nicht mehr beschäftigt sein.
Paradox ist also, dass sich der Kellner über die hohe Arbeitsbelastung ein bisschen mehr freuen und unter der geringen Arbeitsbelastung ein bisschen mehr stöhnen sollte. (Mitberücksichtigt werden muss hier die finanzielle Motivation durch erhöhtes Trinkgeldaufkommen; sofern innerbetrieblich fair abgerechnet und transparent verteilt wird.)
Gut wäre – wo nicht? – die stimmige Balance, das gesunde Mittelmaß: Der Laden brummt, der Kellner wird gefordert und verdient gutes Geld; allerdings bleibt ihm Zeit, zu verschnaufen oder für eine Rauchpause zwischendurch. Ein Plausch mit Stammkunden muss ebenfalls möglich sein. Hochphasen der Betriebsamkeit schaffen nötige Puffer für unvermeidliche Tage der Flaute.
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Man braucht bloß mit ein paar Menschen zu reden, mit einer Handvoll Individuen aus verschiedenen Berufsfeldern und sozialen Schichten (oh, wie viel Unbehagen bereitet mir die Verwendung dieses abfälligen Begriffs!) – ein vielbeschworener Querschnitt der Bevölkerung. Man braucht bloß mit offenen Augen und gespitzten Ohren durch die Gegend zu wandern, und den Leuten neugierig Fragen zu stellen, schon erhält man einen adäquaten Eindruck von gesellschaftlichen Vorgängen und sammelt bereichernde Kommentare aus ungewohnten Perspektiven. Was durch das konsequente Sichten und Einordnen subjektiver Schilderungen möglich wird, sind Hochrechnungen ganz anderer Art, nämlich die emotionale, psychologische, soziologische Hochrechnung. Ihr habe ich mich verschrieben; und beteilige mich so ebenfalls am ernsten Spiel der Kurventandler.
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Im Schaufenster der Bäckerei saß immer eine alte Frau mit Krücken. Manchmal in Gesellschaft, aber meistens allein. Sie trank einen Kaffee und hatte Zeit. An meinen Arbeitstagen im Büro ging ich morgens vorbei. Wir tauschten einen ahnungslosen Blick. Sie sitzt dort jetzt nicht mehr.