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90 Sonntag, 14.06.2020

Wann ist es Sonntag geworden?

Die Arbeitsteilung im Kleingartenhäuschen ist klar: Die Mutter kocht, die Söhne essen auf. So hat eben jeder sein Talent. Der Hunger ihrer Söhne taktet der Mutter den Tag.

Jemand ist ein verlässlicher Altbrotverbraucher.

Meine Hobbies sind: Nasenbluten. (Ich bin ein routinierter Nasenbluterich.)

Die Coverversionen des Alleinunterhalters sind allesamt besser als das Original. Sommermusik, zu der man sich unglücklich verlieben will.

Sie war französisch schön – vielleicht kam das vom Rauchen –, und strahlte eine anziehende Verlorenheit aus. Ihre Stimme war behaglich schwarz. Er wiederum musste dringend zum Friseur und gab seine unterhaltsamsten Niederlagen zum Besten. Die beiden waren für einander bestimmt, jedenfalls während der schummrigen Bar. (Jemand sagt zu wem: Du küsst so gut, dass du rauchen darfst.)

Im Nachhinein kann ich dem Moment nicht mehr trauen. Irgendetwas hätte anders sein sollen.

Eine kurze Geschichte vom Glück
Zwei finden zusammen. Sie heiraten, gründen eine Familie. Es fehlt ihnen an nichts. Die Kinder wachsen wohlbehütet auf. Alle werden sie von Krankheiten verschont. Die Arbeit ist erfüllend, bald der Ruhestand erreicht. Ihre Kinder werden groß und ziehen aus, gründen wiederum eigene Familien. Die zwei haben es gut miteinander. Eines Tages – es könnte auch jeder andere Tag sein – packt sie ihre Sachen und verlässt das gemeinsame Leben.
Er: Du gehst?
Sie: Ja, ich muss.
Er: Wohin?
Sie schweigt für beide.
Er: Ist ja auch egal.
Sie: Es ist meine Natur.
Er: Ich wollte es nicht wahrhaben.
Sie lässt ihn mit sich allein.

Betrunken ist man verliebter. (Betrink dich! Sekt geht schnell.)

Der nebenbei eingestreute Hinweis
Es klingelt, er geht zur Sprechanlage, horcht. Ich bin es, sagt sie. Unangemeldet kommt sie bei ihm vorbei. Er kann nicht antworten, denn die Leitung ist seit jeher kaputt. Er macht ihr auf und wartet, bis der lahme Aufzug sie heraufgerumpelt hat. Sie kommt herein, schlüpft nachlässig aus den Schuhen. Er legt ihre Jacke behutsam der Länge nach auf die Vorzimmerbank. Wie etwas frisch Gestorbenes, denkt er. Sie gehen in die Küche, trinken Wasser, Wein ist aus. Sie plaudern ein bisschen über die Eltern, dann wird es ernst.
Er traut sich mehr als sonst, umklammert ihre Handgelenke, drückt sie lustvoll nieder. Sie bäumt sich an ihm auf. Stolz empfängt er ihre Kratzspuren, für einen Moment grinst er zufrieden. Sie passen nicht auf. Er weiß alles, dann nichts, dann wieder alles. Sie legen eine stumme Pause ein, später machen sie weiter. Er weiß nichts.
Als es vorbei ist, liegen sie dampfend im Tag. Es musste so sein. Das war er seinem früheren Ich schuldig, demjenigen, der sich etwas mit jemandem so sehr gewünscht hat. Sie geht aufs Klo, zieht sich an, geht. Er weiß, dass sie verschwindet, ohne wiederzukommen.
Eine halbe Stunde nach ihr verlässt auch er die Wohnung. Die Kratzspuren pochen nach. Mit großen Schritten stapft er in sein Leben. Er hat einiges vor.
(Verstörend wäre der nebenbei eingestreute Hinweis, dass es sich um Bruder und Schwester handelt.)

Jetzt, nachdem sie gedruckt und bezahlt und geliefert sind, kann ich hundert Visitenkarten lang nicht mehr umziehen.

Einmal las ich ein Buch von Misses Stein. (Durch Zufall war es am Weltfrauentag, was nichts zur Sache tut.) Das Buch bestand aus gesammelten Auszügen, und war fürchterlich. Sie macht keine Satzzeichen, sträubt sich gegen Lesbarkeit. Beistrichlose Schwafelei. Ich habe ehrlich gesucht, was andere an ihr finden. Die penible Übersetzung wäre eine zu billige Erklärung für mein Unbehagen. Es geht um nichts. Stein ist kryptisch, ohne ins Geheimnis einzuladen. Sie tritt beharrlich auf der Stelle, wie ein Kobold, der vorgibt, sich einiges zu trauen. Sie reitet auf etwas herum, das niemals da gewesen ist. Stein ist so kompliziert, dass sie sich selbst nicht versteht. Und dahinter wartet eine alles versprechende, nichts einlösende Leere. Ich bin vom Interesse an ihrem Werk restlos geheilt. Mein finaler Stein-Diss lautet: Eine Pose ist eine Pose ist eine Pose ist eine Pose.

Jemand erklärte mir, dass man Zimmerpflanzen ausschließlich mit abgestandenem Wasser gießen solle. Die Anwesenden stimmten tadelnd zu. Das sei immer schon so gewesen. Den Grund dafür kenne niemand.

Ein Camp, in dem Leute davon geheilt werden, Camps zu betreiben, in denen Leute von ihrer Homosexualität geheilt werden sollen.

Letzte Dinge
Ein Hecheln, mit dem sonst nur Hunde auf sich aufmerksam machen. Ein Gesicht, in das eigentlich eine Brille gehört. Ein Monat zwischen Dezember und Jänner. Eine Volltextsuche nach dem Wort vorsommerlich. Eine Melancholie wie nur am allein verbrachten Samstagabend. Plötzlich fällt mir ein, dass ich irgendwann Cowboyspiefel besitzen werde. Ich will sympathisch sein wie Leute, denen es peinlich ist, gelobt zu werden. Ein Mensch geht auf eine Art, die irgendwie unhöflich wirkt.
Eine Salami ist zu grob für sanften Hunger. Ein erlösender Biss ins Weichkäsebrot. Schau die Kiwi an, bis sie dir schmeckt. Eine Paprika wird entkorkt, die Innereien herausgesäubert, jede Hälfte ihr eigenes Paprikaschiff. Eine Küche ist nicht mehr als eine effiziente Produktionsstätte für dreckiges Geschirr. Verwirrung ist wie Fragen träumen. Vom Sitzen kracht ein Rücken. Ich hätte gern interessantere Ängste. Ein Sterben bis zur Hüfte, sonst nicht. Ein Schweigen verschafft sich Gehör. Ein Hund kam in die Küche. Ein Brasilien stirbt. Kaffeegestöber im Wetterbericht. Eine Sache ist egal, aber wen interessiert՚s. Es gibt hier nichts zu wundern – da könnte ja jeder kommen!
*
Ein schöner Mann, den alle wollen. Eine blonde Frau, die keiner haben kann. Ein Wimmerl in der linken Gesichtshäflte betont eine wohlige Asymmetrie (entzückende). Wie heißt die Maßeinheit für Zufall? Ein Küssen schmeckt nach heißem Salz. Unter der Handtuchdecke ein Petting am Steg. Er rührt den Teig an, stöbert nach der goldenen Perle. Eine ölige Nuss oder blutwarme Mandel, ein schlüpfriger Kirschkern oder lustfeuchtes Knötchen. Rundum viel Donau und Mensch, aber nachts. Polizei kontrolliert. Bäume sind auch nur Menschen. Eine Unersättlichkeit wird offenkundig, etwas bricht sich Bahn. Ein Zufallspaar zerschmilzt zu gegenseitigem Schweiß. Eine Lüge gelingt.
Ein Kind läuft nicht vors Auto. Ein Flugzeug stürzt – schon wieder! – nicht ab. Ein getuntes Protz-Bike ist im Vorbeibrettern enttäuschend leise. Eine hydraulische Vorrichtung, die vertrauensselige Kaugeräusche von sich gibt. Jemand schlurft seine Socken entlang, sie sind ungefähr neu. Vor leichtem Fieber ganz einverstanden mit allem, und zufrieden mit seinem Bauchweh. Jemand räuspert sich ein Jahrzehnt aus dem Hals. Ein Warten auf etwas, das niemals eintreffen wird. Ein Gefühl, das genauso gut Freude hätte sein können. Ich bin dagegen, dass es jemals Krieg gegeben hat. Müde im Kopf. Und die Nacht schläft dazu. Das ist der Stand der letzten Dinge.

Die Ewigen wachen über uns – wer es weiß, kann anderen reinen Herzens begegnen.

Wann habe ich noch gleich mein Gedächtnis verloren?

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89 Samstag, 13.06.2020

Richtung und Form
Alles braucht seine Form. Jeder Inhalt findet überhaupt erst zu sich selbst, wenn er die ihm entsprechende Einhegung bekommt. Formen, die man sich erschließt, sind immer auch den konkreten Lebensumständen geschuldet, Schlaflosigkeit und Konzentrationsschwierigkeiten streben zu jenen für kürzere Aufmerksamkeitsspannen. (In der Krise ist für alle Platz.) Ohne Gefäß, in das der Erzählstrom gelenkt wird, stochert er im Leeren und versiegt ohne Sinn. Alles braucht seine Richtung. Die Anstrengung verliert ihren Zweck, wenn nicht klar ist, wohin sie führt. Alles hat seine Zeit.
*
Das Narrativ strebt zu auf seine Form als in sich geschlossene Einheit. Das Formfinden als Übersetzung von Prozess in Struktur – So wird die Idee zur Sache, der Gedanke zum Ding. Die Hoffnung, das Narrativ dieser endgültigen, unwidersprochenen Form zuzuführen, ist der einzige Antrieb, es aufrechtzuerhalten, und der einzige Zustand, in dem sich daran weitererzählen lässt. Geht der Formglaube verloren, beginnt ein richtungsloses Taumeln ins Offene.
Im Möglichkeitsraum ist alles denkbar, aber nichts gedacht. So gibt es keine größere Angst, als zu schwach zu sein, dem Narrativ die ihm zustehende Vollendung zu schenken. Ich bereite mich vor auf schlaflose Nächte und richte mir eine schützende Deckenburg ein. So spaltet sich das Leben ab in ein gelebtes und ein ungelebtes, beide sind für sich genommen zu wenig.

Das meiste ist sinnlos. Und was es noch nicht ist, das kann es ja noch werden.

Fakten und Fiktionen
Das Leben ist banal. Es besteht aus Haushaltsversicherungen, Ablaufdaten und vergessenen Handykabeln; aus Nahrungsmittelunverträglichkeiten, Öffnungszeiten und Spam – schön banal. Es besteht aber auch aus Zuneigung, Güte und Herzlichkeit; aus Wissensdurst, Nachsicht und Reisen. Liebe ist, sich für einen anderen mutig in die unendlichen Weiten des Kundenservice zu stürzen. (Es sind schon Leute in Hotlines verhungert.) Nicht banal ist, davon zu erzählen.
*
Manche verwechseln das Notizbuch mit einem Tagebuch. Auch ich selbst. Dabei gibt es einen grundlegenden Unterschied: Ein Tagebuch wird geführt, ein Notizbuch befüllt – wenn auch täglich. Ein ungeordnetes Sammelsurium muss es dadurch nicht werden, im Gegenteil, oft folgt es einem groben Plan, folgt es einer inneren Logik mit Bezügen und Verzweigungen, die sich gekonnt ineinander verästeln. Dass es subtil geschieht und sein Geheimnis behält, ist Teil des Plans. Wer durch etwas hindurchgeht, erkennt von so nah kaum, ob es sich um einen großen Bogen handelt.
*
Corona als Meister der Dramaturgie. Einschläge der Krise passieren zeitlich versetzt. Der Virus zeigt nach China oder Norditalien und sagt, wie es weitergehen könnte. Dann zeigt er nach Großbritannien oder Brasilien und sagt, wie es hätte sein können. Dann zeigt er, wie es war, und sagt, wie es wird.
Das Narrativ ist kein Tagebuch über die seltsamen Zeiten, sondern ein Notizbuch während der seltsamen Zeiten. Es bildet das Entstehende ab, dokumentiert ein Miterleben der Krise, zählt sie bewusst nicht faktenweise auf. Deshalb finden virusfremde, keimfreie Passagen darin Eingang: weil sie entstehen im Verlauf als Zweitgeschehen im Inneren des Erlebenden. Skizzen und Geschichten blitzen finden statt – Betrachtungen, Beobachtungen, bezeichnende Träume. Erst mit Haupt- und Nebenschauplatz sind die Dinge auserzählt, wenn auch nur in der Möglichkeitsform. Zu mehr fehlt die Kraft. Auch schlaflose Nächte gehen vorbei.

Der Wahrheit zum Trotz erzählte ich weiter.

Sich im Bellen eines Hundes zu Hause fühlen.

Unerbittlicher Begriff: Kreuzreaktivität

Der Ober-Virologe sagt, Tränen seien die sauberste Körperflüssigkeit, wasserklar und ganz gut zu verarbeiten. Auch Wissenschaftler haben eine romantische Ader.

Unerbittlicher Begriff: Rezeptorbindungsdomäne

Hitzebrütende Kleingartennotiz: Geht man unvernünftigerweise barfuß durch den Klee, um in der Hängematte zu lesen, und transportiert man dabei eine Kaffeetasse mit bedrohlich schwappendem Inhalt, und ist man schon beinah am Ziel ohne auch nur einen Tropfen verschüttet zu haben, und ist man so stolz auf sich, dass man sich am liebsten selbst auf die Schulter klopfen möchte, hätte man nur eine dritte Hand, und ist man schon im Begriff, sich genüsslich hinzusetzen und einzuschaukeln und in Lesestimmung zu bringen, und macht man dann einen falschen Schritt und jault auf und lässt vor Schreck die Tasse fallen, und presst man sich kurz darauf eine halbe Zwiebel auf die Fußsohle, die schwillt und juckt und pocht, und verflucht man zwar in erster Linie sich selbst und sein achtloses Durch-den-Klee-Spazieren, und fragt man sich, ob man allergisch ist, da der Fuß so außerirdisch groß wird, etwas Rotes mit platzpraller Haut, und streichelt man sich unter wütenden Tränen den Schmerz aus dem Fuß, dann – und vielleicht nur dann – erscheint das heraufbeschworene Bienensterben seltsam verlockend.
*
Beim Lesen in der Hängematte landet ein zittriger Schmetterling auf meinem abgewinkelten Knie, er ist filigran wie Seidenpapier und leichter als Luft. Das adelt mich, denke ich, aber du irrst dich.

Ein Ordner mit Textentwürfen befindet sich auf meinem Desktop direkt neben dem Papierkorb. Selbstbewusst klicke ich den Ordner an, halte die Maustaste gedrückt, und verschiebe ihn ein paar Kacheln nach rechts. Oder ist das allzu optimistisch?

Umgekehrte Kleptomanie: Zwanghaft Wertgegenstände bei anderen zurücklassen.

Neulich bin ich in einem Sarg aufgewacht. (Ich bin schon so oft gestorben, dass es mich nicht mehr erschüttern kann.)

An Actionfilmen ist spannend, wie der Held nicht stirbt.

Bei Feindkontakt im Computerspiel kommt die gemeine Musik. (Die Redakteure der Computerspielzeitschrift müssen Spaß haben. Es ist ihr Beruf.)

Nach einiger Zeit geschah eine Rückkehr in den Normalschmerz, an den ich mich bereits gewöhnt, mit dem ich mich bereits angefreundet gehabt hatte. Er nahm Platz, der Sessel war noch warm.

Es gibt Literatur, die ohne Empathie auskommt – oder jedenfalls meint, ohne sie auskommen zu müssen, aus Sorge, andernfalls nicht erwachsen genug zu wirken. Es gibt empathische Literatur, die deshalb keineswegs kindisch oder naiv ausfällt, sondern bloß achtsam mitberücksichtigt, dass die Menschen besser sein könnten, als sie sind. Es gibt das Beschauliche und Betuliche, dem man misstrauen darf, nicht bloß in der Literatur. Es gibt einschläfernde, völlig zerdachte Germanistenprosa, der man ihre Gemachtheit ansieht. Es gibt die Buchwerdung einer Gedankenlandschaft. Zu einem Freund über ein Buch: Die Sprache macht vieles auf einmal, aber nichts ganz. Jemandes Idee ist ermüdend originell.

Ich bin derjenige, der nachts die Bremskabel von Fahrrädern durchschneidet. Im Namen der Allianz zur Durchsetzung von Fußgänger-Interessen. Die Zange ist ganz leicht und es zwackt immer so schön. Ein Geräusch wie Schwimmen ohne Haut.

Einmal, sagte einer, sei er Frosch gewesen. Doch dann sei – mit einer Plötzlichkeit! – aus dem launigen Frosch-Sein ein trauriges Frosch-gewesen-Sein geworden. Leider. Warum leider? Weil es schön gewesen sei als Frosch, und grün.

Damals, als alles möglich war. Weißt du noch?

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88 Freitag, 12.06.2020

Kaum steht ein Mensch mit Gehbehinderung neben mir an der Ampel, gleich fühle ich mich für ihn zuständig. (Wie schrecklich zuständig man sich oft für andere fühlt; anders als verantwortlich.)

Bei einem Essen mit Freunden geht eine Frage reihum, und zwar jene, weshalb zwei zusammen sind, die ich nur vom Hörensagen kenne. Es sei nicht zu verstehen, heißt es, denn er sei ein richtiger Hallodri, der nicht viel auf die Reihe kriege, sich eher treiben lasse, sie wiederum sei ehrgeizig und ganz solide unterwegs, mit konkreten Zielen, die sie energisch verfolge. Im Freundeskreis herrscht tiefe Ratlosigkeit, was ein solcher Erfolgsmensch mit einem solchen Minderleister anzufangen wisse, mittlerweile löse diese unverständliche Paarung bereits Misstrauen und Argwohn aus. Irgendetwas ist da faul. Auch ich habe dazu keine zündende Idee. Betreten nehmen wir Schlucke. Plötzlich merkt einer auf: Vielleicht so etwas wie Liebe? Der Kreis ist überfragt, davon hat noch nie wer gehört.

Jemand hält sich an seinen Haaren fest. (Wieso nicht am Kaffeehäferl?)

Trauma und Traum
Der Virus ist aus unserem Bewusstsein verschwunden. Man merkt es auch daran, dass beim Onlineauftritt des Österreichischen Rundfunks die eigens geschaffenen Kategorien COV AUSLAND und COV INLAND nicht mehr an oberster Stelle angesiedelt sind. Stillschweigend wurden sie unter die allgemeine Berichterstattung zu AUSLAND und INLAND gerückt. Andere Medienthemen treten in den Vordergrund: Die Bürgerrechtsproteste in den Vereinigten Staaten mit weltweiten Solidaritätsbekundungen, hierzulande ein Untersuchungsausschuss zu einem Polit-Skandal mit falscher Oligarchennichte und Korruptionsbereitschaft und versteckter Kamera und vermeintlicher Kokslinie am Villentisch.
Der Virus ist in den Hintergrund getreten, bleibt jedoch präsent und trägt zur allgemeinen Schwerkraft bei. Er bleibt im Hinterkopf und macht die Herzen träge. Wir sind vorerst glimpflich davongekommen und lernen jetzt, die Vorgänge als dauerhaften Störfaktor in unser Alltagsleben zu integrieren. Mit den Nachwehen dieser ersten überstandenen Welle werden wir lange beschäftigt sein, und anderswo sind die Zahlen noch längst nicht am Sinken, im Gegenteil. In manchen Weltgegenden ist man noch mitten im Ereigniskern. Für uns ist der Virus verflogen, herausgetrocknet aus den Straßen wie an einem Sommertag der Regen einer Nacht. Langer Ausklang eines langen Traums.
*
Wir alle haben diesen inneren Zyniker in uns, der sich fragt: War es das wert? Wofür diese Entbehrungen auf sich nehmen? Noch dazu für lange Zeit. Für Alte, Schwache, Kranke? Er fragt: Wenn jemand den Corona-Stempel trägt, wird er dann ausführlicher und verbissener behandelt, als trüge er ihn nicht? Hätte eine Neunzigjährige (neben weiteren Grundleiden) eine andere Infektionskrankheit – zum Beispiel eine saisonale Ausprägung der herkömmlichen Influenza –, würden die Spitalsärzte dann zu einem früheren Zeitpunkt sagen, dass es reicht, und sie ziehen lassen? Er fragt: Ist es immer auch darum gegangen, keinen weiteren Fall in der Statistik zu haben, musste jeder einzelne Verstorbene um jeden Preis verhindert werden, sodass er nicht in die Tabelle sickerte? Die Frage lautet: Sind sterbensbereite Corona-Patienten totbehandelt worden?
Der innere Zyniker sagt: Es wurde zu viel. Alles war zu viel und zu schnell, zu alles und zu jetzt, zu Flugreisen und zu Warenverkehr, zu Umweltverschmutzung und zu Konsum, zu Ausbeutung und zu Arbeitsbelastung. Er sagt: Das Immunsystem des Planeten hat angeschlagen, die Globalisierung ist mit ihren eigenen Mitteln in die Sackgasse gekracht (zusammengepfercht auf einem Kreuzfahrtschiff). Der innere Zyniker sagt: Wir kehren zu schnell zurück in altbekannte Muster, der Schrecken war zu klein, wir haben zu wenig aus all dem gelernt. Er sagt: Wir haben nichts verstanden. Die Antwort lautet: Es ist zynisch, das zu fragen.

Bevor ihr unglücklich wurdet, habt ihr so glücklich gewirkt.

Die Ninfenmacherin
Die Ninfenmacherin stellt in ihrer Werkstatt Ninfen her. Rundum hält man sie für eine Hexe. Sie ist hässlich und riecht nach zerkochtem Gemüse. Die Nachbarskinder sind eingeschüchtert; sie verwenden Auszählreime, um festzulegen, wer den Ball holen muss, wenn er übern Zaun geht und auf ihrem Grundstück landet. Die Ninfenmacherin haust in einem zerbröselnden Anwesen mit verwunschenem Garten, wie es sie nur auf alten Fotos gibt. Ihre Existenz ist etwas Gewachsenes, ebenso das behagliche Chaos in ihrer Werkstatt.
Die Ninfenherstellung ist ein schwieriges Geschäft, verwendetete Materialien kommen von weit her. Eines Tages wird eine besondere Arbeit fertiggestellt. Die Frau schließt eine letzte Naht und sticht sich mit der Nadel in den Finger, dass Blut kommt. So etwas ist schon lang nicht mehr passiert. Es ist ein Zeichen für etwas.
Nachts erwacht die neue Ninfe zum Leben. Sie mogelt sich ins Bett ihrer Erschafferin, denn ihr ist bitterkalt. Die Ninfe darf unter die Decke schlüpfen. Von nun an finden Nachtgespräche statt, die sehr ins Dunkle gehen.
*
Die Ninfenmacherin weist ihre neue Gefährtin in den Haushalt ein, sie erklärt ihr detailreich die Funktionsweisen der unterschiedlichen Werkzeuge, predigt das Aufgehobensein in sinnstiftender Tätigkeit. Eines Tages, mahnt die Frau, werde die Ninfe wiederum selbst eine Ninfe bauen, die womöglich ebenfalls zum Leben erwache – es frage sich nur, woher das Blut kommen solle, das für einen solchen Zauber notwendig scheint. Die Ninfe erbebt in freudiger Erwartung. Was zwischen ihnen unter der Bettdecke geschieht, soll hier nur angedeutet werden. (Die Ninfe verfügt über keinerlei äußere Geschlechtsmerkmale, sie ist ein neutrales Etwas.)
Vor Besuchern muss die Ninfe sich totstellen, viele sind es ohnehin nicht, dann und wann ein Kunde, der eine Auftragsarbeit abholt. Öffnet sich bimmelnd die Tür, fällt die Ninfe hart ins sich zusammen. Niemand darf erfahren, was es mit ihr auf sich hat. Manchmal denkt die Ninfenmacherin, dass sie über die Erweckung weniger überrascht war, als sie hätte sein sollen. Ärgert sie sich über das magische Geschöpf, dann erfindet sie Wege, es subtil zu quälen.
Einmal lädt die Ninfenmacherin einen zwielichtigen Freund ein, mit dem sie sich am Werkstattboden vereinigt. Die Ninfe sieht aus tot starrenden Augen zu, darf sich nicht rühren, obwohl sie innerlich zerspringt vor heißem Hass. Der Freund findet die Gegenwart der Ninfe im Raum anfangs befremdlich und schlägt vor, eine Jacke darüber zu werfen, doch seine Gespielin verbietet es ihm. Das lässt du schön bleiben, sagt sie, wie soll denn Luft bekommen? Der Freund wird aus all dem nicht schlau, doch es pocht bereits in ihm vor dickem Blut. Er richtet sich so aus, dass er den Ninfenblick im Rücken weiß, was ihn anspornt zu einer gewagten Verrenkung. Nachdem alles vorbei ist, gesteht er lachend ein, das böse Starren der Ninfe habe ihn sogar ausdauernder und fordernder gemacht. Die Frau grinst fies, in diesen Momenten ist sie sehr eine Hexe.
*
Die Ninfe möchte einen Namen. Auf diesen Wunsch reagiert die Frau sehr ausweichend. Als die Ninfe nicht lockerlässt, erzählt die Frau ihr die Geschichte von Pinocchio, und schlägt sofort diesen Namen vor. Die Ninfe würde jedoch gern Geppetto heißen, wovon die Frau nichts hält. So verbleiben sie. Namenlos schleppt sich die Ninfe durch den Herbst.
Sie ist einsam und möchte einen gleichwertigen Gefährten. Die Ninfenmacherin erklärt sich bereit, ihr zu helfen, einen solchen zu fertigen. Es gelingt beim ersten Versuch. Der Blutstropfen stammt von der Frau, er haucht der gemeinschaftlichen Bastelei Leben ein. Nachts hört man es klackern in der Werkstatt – es ist das hölzerne Liebemachen der Ninfen. Sie schnitzen und hobeln und züchten sich Nachwuchs. Das Schicksal der Frau ist besiegelt. Sie werden mich töten, denkt sie zitternd unter der Decke, mich aufschlitzen mit einem Teppichmesser. Die Ninfenmacherin rechnet fest damit, im besten Fall von ihrem eigenen Grund vertrieben zu werden.
Doch es kommst anders: Die Ninfenfamilie bietet ihr an, weiterhin im Haus zu wohnen, dafür solle sie den neuen Eigentümern zu Diensten sein. Die Frau stimmt zu. Von nun an wird sie den Ninfen gehorchen. Vorerst, sagt das Oberhaupt der Ninfen, darfst du bleiben. Dieses vorerst ist der schmerzlichste Verrat. Du darfst uns zur Hand gehen, sagen die Ninfen, uns unterstützen. Plötzlich darf die Frau ganz viel. Sie fügt sich dem Willen. Aufträge werden keine mehr angenommen, um Besuche auszuschließen. Fliegt ein Ball über den Zaun, jagt man die Frau hinaus, eine biestige Hexe zu geben. Die Kinder schlägt ihr Auftritt in die Flucht.
*
Vielleicht darf die Ninfenmacherin das Haus anzünden, ein Streichholz genügt. Alles soll brennen, die Werkstatt samt Werkzeugen, der ganze grobe Plunder. Phantasie wird Wirklichkeit. Sie steht vor ihrer lodernden Rache. Aus dem Inneren des Gebäudes vernimmt man das Wehklagen der Holzkinder. Die Frau steht in der Nacht wie für immer. Ein herbeigeeilter Nachbar wirft eine Decke über sie. Ihm fällt ihr Grinsen auf, in dem ein tiefsitzender Wahnsinn liegt, und er rückt von ihr ab.
Die Ninfenmacherin hört es klacken aus dem angrenzenden Wald – Teile der Ninfenfamilie sind auf der Flucht. Auch ihr Geppetto? Es ist jetzt für alles zu spät. Man legt ihr Handschellen an, sie wird abgeführt. Die Nachbarsdecke landet im Dreck. Kinder stehen am Zaun und dichten einen neuen Hexenreim mit Weisheiten über gefährliche Feuer.

Kaum ist es heiß, riecht jedes Wasser nach Meer.

Neuerdings bin ich Zeitreisender. Mit einer Geschwindigkeit von sechzig Sekunden pro Minute oder umgerechnet sechzig Minuten pro Stunde bewege ich mich in die Zukunft. Langsam, aber gründlich. Schritt. Für. Schritt.

Lektorin Merle erzählt von Kindheitspferden: Die Pferde waren Haflingerdamen und hießen Dawina (die Bucklerin mit Ehrgeiz) und Cirrus (das schöne faule Aas).
Ich selbst bin lieber ein Buckler als schön faul oder nach einer Wolke benannt. Dawina musste den Pflug ziehen. Je tiefer er sich ins Erdreich grub, und je schwerer die Arbeit wurde, desto mehr strengte sie sich an, zog immer fester und fester, womit sie die Pflugspitze wohl nur noch tiefer hineintrieb. Wir sind Dawina.
*
Im Herbst erscheint ein Gedichtband namens Planeten. Der Abschnitt Im Stadtparkbüro enthält ein Stadtparkgedicht, in dem ein abraxashafter Rabe vorkommt. Aufs Cover des Bandes soll sich ein entsprechender Vogel verirren, ob Krähe oder Rabe ist mir egal – wer kennt den Unterschied? Auch Rabenkrähen gibt es, was mir nicht bewusst war. Ich klopfe alles in die Suchmaschine und lerne etwas dazu. Nach Rückfrage lautet meine professionelle Angabe für die Illustratorin: Ein Vogel halt. Das Ergebnis kann sich sehen lassen.

Die Lektorin ist eine Übersetzerin gleicher Sprache, die den Text ins Bessere übersetzt.

Ein dicht bevölkerter Spielplatz mit unerschrocken erklettertem Ritterburgturm. Dazu die Erwachsenen als stützender Blick. Das Leben lebt. Niemand kennt ein böses Wort oder freundet sich an. Einer gibt nebenbei auf den anderen Acht. Eltern als wohlgesinnte Fremde: So geht Frieden.

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87 Donnerstag, 11.06.2020

Heute ist Fronleichnam: Frohen Leichnam allerseits!

In der Trafik sagt jemand: Dreimal Feuer. Das weckt einen Ur-Instinkt. (Der Bindestrich verhindert das Herbeilesen eines missverständlichen Urin-Stinkt.)

Beobachtet man eine verhutzelt sich über die Straße duckende Greisin, korrigiert man unwillkürlich seine Haltung und richtet sich zu voller Körpergröße auf.

Konzertnotiz aus der Normalzeit: Die beiläufige Gewissenhaftigkeit des Kontrabassisten. Sein Bogen lugt bereit aus dem Köcher, ist sicher in Griffweite verstaut und kann wie zum Duell mit dem Song gezückt werden. Man sieht den Fingern ihre Hornhaut an und beobachtet zufrieden jeden Slap.

Man beginnt etwas zu pfeifen. Jemand steigt ungefragt mit ein und pfeift einem die Melodie weg.

Auf dem Weg ins Büro hört man es rascheln und rumpeln. Ein Paketbote steht im Laderaum seines Kleintransporters. Er nimmt einzelne Packerl und wirft sie auf die Straße, wahrscheinlich, um sie für die Zustellung herzurichten. Dabei geht er mit großer Unbekümmertheit an den Tag. Ich sehe ihm eine Zeitlang zu. Bei jedem Packerl, das auf den Asphalt kracht, schmerzt man leicht mit.
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Mitschmerzen auch, als jemandem am Bahnsteig das Handy aus der Hand rutscht und hinunterfällt. Wir kennen dieses Geräusch nur zu gut und wissen sofort, um welchen Gegenstand es sich handelt. (Auch bei Münzen ist es so, reflexhaft drehen wir uns danach um und grasen den Umgebungsboden ab.) Der unverkennbare Sound eines herunterfallenden Smartphones gehört zum Kinosaal wie Popcornknuspern oder Schnarchen.
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Vor Wochen, gegen Anfang der seltsamen Zeiten, ist mir mein Handy einmal zu oft auf den Boden gefallen. Beim morgendlichen Weckergriff rutschte es vom Nachtkästchen und landete hart neben dem Teppich. Der Bildschirm war kaputt und ließ sich zu keiner Reaktion mehr bewegen. Schweißausbruch – und das gerade jetzt, wo die meisten Geschäfte zu sind! Herzrasen – alles futsch! Doch welche Daten waren tatsächlich unwiderbringlich verloren? Nicht sehr viele. Entweder etwas lässt sich aus einer anderen Quelle wiederherstellen oder es spielt doch nicht jene große Rolle, die wir ihm zumessen. Ein Tag ohne Handy als zusätzliches Element der Entschleunigung.
Nachmittags ging ich in den Handyshop, der nur von drei Kunden gleichzeitig betreten werden durfte. Das Hintergrundgeplätscher der Musik machte uns gefügig. Ich erneuerte meinen Vertrag und wechselte auf einen für mein Nutzungsverhalten besser ausgelegten Tarif. Als langjähriger Kunde mit Treuebonus durfte ich aus einer Reihe von Modellen wählen, wobei ich mich für das kompakteste entschied, welches gleichzeitig am ehesten meinem Vorgängerhandy entsprach, was die Umgewöhnungsphase möglichst kurz halten sollte. Die Angestellte war unkompliziert und kompetent, sie ermutigte mich außerdem zum Kauf einer schlichten Hülle, ohne sie mir jedoch aufzuschwatzen. Mit dem befriedigenden Gefühl, eine sinnvolle Entscheigung getroffen zu haben, verließ ich den Shop.
Ins Einkaufszentrum war bereits wieder ein wenig Leben zurückgekehrt. (Shoppingcenter als Freizeitgestaltung für triste Familien.) Beim Gedanken, vom unbefleckten Bildschirm eigenhändig die Schutzfolie abzulösen, empfand ich so etwas wie Vorfreude. Ein fabrikneues elektronisches Gerät auszupacken und einzurichten, gehört zu den Höhepunkten des modernen Alltags. Ich schlenderte zum Ausgang, das kaputte Handy war schon gar nicht mehr wahr. Die Menschen schienen gelangweilt vom Verzicht und blühten auf zu neuer Kauflust. Plötzlich explodierte keine Bombe. Das ist eigentlich alles.
*
Klonotiz Wien Mitte: Ein Mann geht – das Handy zwischen Ohr und Schulter geklemmt – telefonierend aufs Einkaufszentrumsklo. Er stellt sich ans Pissoir, öffnet Gürtel und Hosenstall, lässt Wasser. Dabei plaudert er seelenruhig weiter. Wahrscheinlich mit einem guten Freund, denke ich. Ob sein Gesprächspartner weiß, wo er sich befindet und was er gerade tut? Der Mann wäscht sich die Hände, sogar mit Seife, und setzt sein Gespräch dabei fort. Ich bin überrascht.

Zum Wetter, das sich schon den ganzen Tag über nicht entscheiden kann und jetzt aufs Neue meint, die Wolkenmuskeln spielen lassen zu müssen: Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder?

Auftritt der wilden Braut Corona. Sie zügelt ihr Haar. Der Blick ist vorwurfsvoll herausfordernd und sagt zweierlei. Einerseits: Was bildest du dir ein? Andererseits: Du willst es doch auch! Ein Kippbild ganz ohne Neigung des Kopfes, das allein an ihrem Kippblick liegt. Ein Zweigesicht, in das man sich verschaut.
Man sagt, die wilde Braut Corona habe einmal einen Bären überwältigt. Das ist sicher heillos übertrieben. Erwiesen scheint aber, dass sie eine ist, die gerne mit anderen ringt. Schillernde Gerüchte gibt es zuhauf. Wir verpassen einander blaue Flecken und Würgemale, kratzen und beißen und treten einander, bescheren einander kleine Verbrennungen mit dem Feuerzeug. Wir verraten keinem unser gefährliches Spiel. Es gehört nur uns. Und als sie flüstert, sich insgeheim danach zu sehnen, gefesselt zu werden, da ziehe ich lächelnd das Ende eines dünnen Seils unter der Matratze hervor, ein gut erhaltenes Relikt aus meiner Pfadfinderzeit. In ihrem Gesicht erregte Überraschung. Wir züchten feste Spuren.
Nach unserem interessanten Tag im Schlafzimmer am Fensterbrett, vorm Kasten auf der Yogamatte, im Wohnzimmer auf der Couch, im Bad vor dem Spiegel, in der Küche beim Heizkörper und klassisch am Bett, erfinde ich uns eine Mehrzahl von Durst. Wie vorausschauend – oder anmaßend? – von mir, am Nachtkästchen bereits ein Wasserglas bereitgestellt zu haben. (Sich mit jemandem in seinem Durst einig sein.) Die wilde Braut Corona ringt sich rot.

Vormittags gegen elf Uhr frühstückt ein Mann auf einer Bank ein Kebab. Sein Bart sieht aus wie ungewaschenes Gesicht. Er beißt genüsslich hinein, ins Kebab, das albtraumhaft sein buntes Maul aufreißt, mit Hunger auf Mensch. Dem Kebab-Maul fällt schon alles heraus. Der Mann gewinnt. Er trinkt dazu ein Saftpackerl dünnflüssiges Joghurt. Da sitzt er also auf seiner Bank, und isst und trinkt, und gut so. Das Kebab schmeckt. Wie man es auch schreibt, elf ist zu früh.

Es mag die zwei Torten-Omas in der Bücherei überraschen, aber das Nacherzählen ihrer Krankheitsverläufe samt ihrem Klagesermon über die Öffnungszeiten der Ärzte, ist gar nicht so interessant, wie sie offenkundig annehmen – jedenfalls der raumgreifenden Lautstärke ihrer Unterhaltung nach zu urteilen. Eine Bücherei ist kein Kaffeehaus, höre ich mich sie tadeln, in der zurechtweisenden Hüstelstimme des kauzigen Rechthabers. (Man könnte immer noch eine Spur toleranter sein.) Ich verkneife es mir.
*
In Gedanken zu einer Frau, deren Stoffbeutel mir einige Stationen lang sehr hart gegen die Beine schlackert: Entschuldigung, dass ich mit dem Knie immer gegen Ihr Sackerl haue! (So zurückhaltend bin ich selbst in meinen berechtigten Vorhaltungen.) Die stoffgedämpften Buch-Ecken tun weh.

Selige Stadtrandmelancholie: Jene Schwermut, die einen überkommt, sobald man aufs Land fährt. Um produktiv mit sich allein zu sein, braucht es die Möglichkeit zur Begegnung – allerdings nur die Möglichkeit, nicht aber die Begegnung selbst.

Letztes Jahr hat sich der ehemalige Studienkollege einer befreundeten Hackerin daheim in Brasilien erhängt. Es geschah nicht in Rio de Janeiro, wo er für die Ausbildung hingezogen war, sondern in jenem kleinen Ort, aus dem er stammte. Er besuchte seine Familie, die ihn tot im Zimmer fand. Der Selbstmörder hatte Veterinärmedizin studiert, nebenher Gedichte geschrieben und Musik gemacht. Da es ihm schon über Jahre hinweg nicht sonderlich gut gegangen war, zeigte sich meine Bekannte über die Tat nicht überrascht. Sie habe ihn aus den Augen verloren.
Heute lese ich von zehntausenden Neuinfektionen am Tag und lückenhaften Todeszahlen, deren Veröffentlichung das Oberste Gericht einfordern muss. Dem Land vergeht das Tanzen. Auch der Papst ruft schon zum dritten Mal an, um sich nach der Lage zu erkundigen. Die brasilianische Hackerin kennt welche, die gestorben sind und sorgt sich um ältere Familienmitglieder. Ein Onkel arbeitet im Gesundheitsbereich.

Sagen können: Ich habe es aufgegeben, enttäuscht zu sein. (Zum Beispiel der Anwalts-Freund neckisch zum Arzt-Freund. Sie verbringen das verlängerte Wochenende am blaugrünen Wörthersee, um sich von den Strapazen der Arbeitswelt zu erholen. Es sieht dort wie auf Bildern aus. Ich ziehe derweil brav im Wörtersee meine Runden, habe aber von Urlaub schon einmal gehört.)

Obacht: Wie man sich verlaufen kann, so kann man sich verschwimmen. (Zum Beispiel in einem Kärntner See.)

Er hielt im Zimmer still Audienz. Keiner wusste davon. Niemand kam.

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86 Mittwoch, 10.06.2020

Der Mittwoch ist der schlechteste Tag. Jeder weiß das, und er selbst weiß es auch. Er wünscht sich nichts sehnlicher als eine Beförderung zum Donnerstag oder wenigstens zum Montag, von einem Samstag oder Sonntag wagt er gar nicht erst zu träumen. So ein Donnerstag macht Hoffnung, und ein Freitag ist ohnehin nur reine Formalität, der Einkehrschwung ins Wochenende. Wie spannend muss das sein, mit Freizeit und Familienzwist. Am Montag nehmen Dinge ihren Anfang, und am Dienstag ist man noch gut bei Kräften, spielt sich erst warm. Der Mittwoch allerdings hängt verloren in der Mitte der Woche.
*
Er wartet an roten Ampeln und gerät in den Stau, er steht rechts auf der Rolltreppe und stellt sich lange vor der Post an. Sein Akku ist leer. Ihm fallen Sachen herunter. Am Mittwoch ist noch nichts in die Gänge gekommen, aber bereits wieder am Abflauen. Wenn er vor dir im Supermarkt etwas kauft, dann wirst du ihn dir nicht merken. Der Mittwoch hat ein Allerweltsgesicht. Er trägt normale Schuhe und eine einfärbige Hose, er trägt keine Brille und hat eine unscheinbare Frisur. Wahrscheinlich würde er sich nicht einmal selbst im Spiegel erkennen. Fragt man den Mittwoch, wie es mit ihm weitergehen soll, dann bleibt die Antwort mager. Ich weiß auch nicht, murmelt er und streicht sein fades Hemd glatt. Er stellt keine Fragen und öffnet keine Tür in einen neuen Raum. Er gähnt, so langweilig ist ihm von sich. Er bleibt, wo er war. Der Mittwoch vergeht.

Unerbittlicher Begriff: Rekombination

Einen Traum lang habe ich Ohren. Jemand rügt mich dafür. Ich zeige sie her, weil warum nicht. Außerdem ist es eine andere Sache.

Ich kenne einen reisefreudigen Wasserpfeifenliebhaber, der ausschließlich Lokale besucht, in denen er gemütlich eine Shisha blubbern darf. Seit letztem Oktober geht das leider nur noch draußen. (Zuweilen behilft man sich mit Konstruktionen im juristischen Graubereich und vergibt gegen Entrichtung eines symbolischen Mitgliedsbeitrags Ausweise für einen angeblichen Club.) Dem Zusammenschluss der Wasserpfeifenlokalbetreiber ist es nicht gelungen, ins neue Rauchergesetz eine Ausnahme hineinzureklamieren. Alles wartete also sehnsüchtig auf den Frühling, um die Aktivität ins Freie zu verlagern, doch dann kam Corona und eine mehrwöchige Schließung der Gastronomie. Als dann, nach etwa zwei Monaten, unter strengen Auflagen wieder geöffnet werden durfte, regnete es. (Ein trüber Freitag, glaube ich.) Als ich durch die Stadt spazierte und mich mit dem schlechten Wetter anzufreunden versuchte, musste ich an die Betreiber all der Shisha-Bars denken, denen das Schicksal besonders übel mitgespielt hatte. Erst das Ringen mit dem Staat und der Kampf um die Existenz – manche entschlossen sich zu neuen Konzepten verbunden mit teuren Umbauten –, dann ein verstolperter Saisonauftakt, und am Tag der Wiederauferstehung kein Lichtblick weit und breit, sondern beschissener Nieselregen. Sie taten mir aufrichtig Leid. Es würde mich nicht wundern, wenn an diesem Freitag ein paar von ihnen endgültig das Handtuch geworfen hätten, weil es ihnen endgültig gereicht hat. Nie wieder ein Lokal, hörte man sie in die Gasse fluchen. Die Gastronomie ist ein hartes Gewerbe.
*
Vergilbte Altnotiz: Der letzte Rauchertag. Ab Mitternacht tritt ein landesweites Verbot für Restaurants und Lokale in Kraft. Abends gehe ich in eine fragwürdige Kaschemme und bestelle mir ein großes Bier. Grobe Kerle sitzen eng beisammen und genießen stumm ihr letztes Packerl Tschick. Eine leise Melancholie hat sich in den Qualm gemischt. Die Gesichter sind blasser als sonst, es zeichnet sich darin eine Betrübtheit ab. Ich stimme ihr zu. Plötzlich überkommt mich eine Lust, zu rauchen, und ich schnorre mir eine Zigarette. Ich bin aufgenommen in den Kreis der stummen Sitzer und gehe in meiner neuen Rolle auf. Wir schimpfen auf das Verbot und ballen männlich die Fäuste. Aber es hilft nichts, morgen ist das Leben sinnlos geworden, und wir sind ausgestorben. Ich huste feierlich nach jedem Zug.
*
Im Frühling ist jeder Vorwand Recht, ein heißes Bad zu nehmen. Das Gewitter kommt da nur gelegen. Nicht bloß als solches, weil es nach mehreren schwülen Tagen die wohlverdiente Abkühlung bringt, sondern eben auch als Möglichkeit, in die Wanne zu steigen und ein Buch zu lesen. Das Gewitter hat sich angekündigt, man konnte den bauchigen Wolken richtig dabei zusehen, wie sie sich zusammentrauten und etwas ausbrüteten. Sanftes Grollen ließ den Hühnerhafen erbeben. Man hat gerochen, dass gleich etwas kommt.
Beim Umblättern kleben die Finger auf der Buchseite und hinterlassen feuchte Tapser oder ein Schweißtropfen rollt aus den Brauen und fällt von der Nase in den plot twist. Alles schöne Zeichen, Gebrauchsspuren für ein Lebewesen, mit dem man die Wohnung teilt. Während draußen ein bisschen die Welt untergeht, stellt sich drinnen eine Badewannenruhe ein, die wunschlose Vertrautheit mit sich selbst. Das Wasser ist am besten eine Spur zu heiß.
*
Einmal recherchierte ich für eine Bekannte sommertaugliche Party- Locations, da sie vorhatte, ihren runden Geburtstag groß zu feiern, jedoch nicht wusste, wo dies stattfinden solle. Also suchte ich herum und klickte mich durch Listen, machte mehrere Vorschläge, von denen ihr einer besonders zusagte; und auch ihrem guten Freund, der seinen runden Geburtstag mitfeiern würde, ihn kannte ich jedoch nur aus Erzählungen. Sie besichtigten gemeinsam das Gartenlokal und konnten schließlich einen Termin fixieren. Der Ort lag am Wasser und sah sehr idyllisch aus. Ich bekam Videoaufnahmen von der Besichtigung.
Meine Bekannte verfolgte eifrig die Wetterprognosen; wir scherzten, dass sie sich am besten direkt bei der Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik informieren solle. Ich gab ihr den nicht ganz ernst gemeinten Rat, doch sicherheitshalber ein paar Hagelflieger zu engagieren, die in der Lage wären, durch versprühte Chemikalien sich bedrohlich formierende Wolkengebilde aufzulösen. Sie stieg darauf ein und setzte die Idee ins Absurde fort. Wir hatten denselben Humor.
Der Tag ihrer Feier rückte immer näher, und es zeichnete sich ein großzügiges Schönwetterloch ab. Dann war es soweit, das Wetter hielt, und die doppelte Geburtstagsfeier wurde ein voller Erfolg. Auch ihr guter Freund muss zufrieden gewesen sein. Ich selbst wurde nicht eingeladen. Es war ihr Wetter, das gehalten hat. Ich hätte mir gewünscht, eingeladen worden zu sein, um absagen zu können – eine prägnantere Definition von Narzissmus kommt mir gerade nicht in den Sinn.
*
Einmal – in einem anderen Leben –, warf mir jemand vor, ich würde an einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung leiden, samt Link mit weiterführenden Informationen. Dass ich nicht in der Lage sein soll, Empathie zu empfinden, warf ein völlig neues Licht auf meine bisherigen Verbindungen zu Menschen und die künstlerische Arbeit, bei der es nicht zuletzt darum geht, sich in andere hineinzuversetzen und ihr Innenleben zu beschreiben. Ich bedankte mich für den Hinweis und versprach, dem nachzugehen. Damit endete unsere Kommunikation.
In der Bücherei stellte ich mich ehrfürchtig vor das dickste Psychologie-Lehrbuch, das ich finden konnte. Ich zog es aus dem Regal, schleppte es an einen Sitzplatz, schlug es an der richtigen Stelle auf und las darin über mich: Ich habe ein übertriebenes Gefühl meiner eigenen Bedeutung. Ich beschäftige mich hauptsächlich mit Erfolgs- und Machtphantasien, und habe ein starkes Bedürfnis nach Bewunderung. Menschen wie ich haben häufig Probleme mit Beziehungen. Wir nehmen vieles für uns selbst in Anspruch, ohne im Gegenzug Verpflichtungen nachzukommen, nutzen andere für unsere Zwecke aus und haben Schwierigkeiten damit, die Empfindungen anderer nachzuvollziehen. So muss es sein, dachte ich und beschloss, in Zukunft mein Bestes zu geben, diesem Bild zu entsprechen. Die klare Sprache der Wissenschaft gab mir dabei einen Halt, von dem ich heute noch nicht verstehe, wie es ihn geben kann. Wenn wir kentern, rettet jede Boje.
*
Setzt Regen ein, dann gibt es nur noch drei Arten von Menschen: Jene, die sich in einem Hauseingang oder an einem Gebäuderand unterstellen und abwarten, wie die Geschichte weitergeht; jene, die all ihren Mut zusammennehmen und nackt auf der Frontlinie tanzen, dabei irre lachen und trotzdem nass werden; zu guter Letzt jene, die mit einem Schirm bewaffnet – ganz Contenance und liebevolle Schadenfreude – unbehelligt ihren Tag fortsetzen, als wären Dinge möglich. Ihr seid verschwunden, die Straße gehört jetzt uns. Wir sind die Gewitterlinge.

Vielleicht sollte langsam ein Umdenken stattfinden: Brillenpflicht statt Maskenpflicht.

Ein in der Jackeninnentasche abgestumpfter Bleistift schreibt, dass es ihn gibt.

Eine Art Sommer.

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85 Dienstag, 09.06.2020

In der U-Bahn ruckt und rumpelt es mehr als sonst. Die Passagiere werden zu wild gestikulierenden Ausdruckstänzern, sie schnappen nach baumelnden Haltegriffen und klammern sich an Stangen, sie lehnen sich ins forsche Bremsen. Manchmal stolpert einer in den anderen, dann entschuldigt man sich sehr. Der Fahrer tobt sich an den Menschen aus, als hätten sie ihm etwas getan.

On se way
Jetzt sinds amal sieben Minuten
Ja das hoff ich doch
Auf jeden Fall
Ja ich meld mich noch amal
Wenn ich bei der Längenfeldgasse
Da werd ich den Richie noch amal treffen
Vielleicht verkaufma das Auto wieder zurück
Schauma mal
Ja bin ich ja
Ich werd jetzt dann amal im Internet schauen
Was ma finden
Bin on se way
Falls dir das was sagt
Naserl vorn und okay
I foar jetzt zu de Ruabn
Auch das müssen wir ändern
Jo
Wie wärs

Brillenbügel + Maskenbändchen = unübertroffene Erzfeinde

Im Schanigarten eines Donaulokals saß – ich schwöre – ein silberner Mann. Ihm gegenüber am Tisch hatte eine Frau Platz genommen, die normal aussah. Sie ließ sich nichts anmerken. Weder die anderen Gäste noch der flinke Kellner gafften in seine Richtung. Wahrscheinlich hatten sie sich an den ungewöhnlichen Anblick gewöhnt. Ich verlangsamte meinen Schritt wie das vorlaute Kind vor einer Hexennase mit behaarter Warze. Mein erster Gedanke: Dieser Mann hat ein seltenes Leiden. Es könnte sich um eine perfide Form der Lichtallergie handeln, die seinen Körper zu einer Immunreaktion treibt. Mein zweiter Gedanke: Vielleicht eine Hautkrankheit, die es ihm abnötigt, eine spezielle Tinktur aufzutragen, wenn er sich direkter Sonneneinstrahlung aussetzen will. Mein dritter und letzter Gedanke: Im Schanigarten sitzt eine melancholische Novelle namens Der silberne Mann, die jemand einmal schreibt. Sie spielt an der Donau.
(Später lese ich von Argyrie als irreversible, schiefergraue oder grau-bläuliche Verfärbung von Haut und Schleimhäuten, die durch Einnahme von Silber hervorgerufen und als Krankheit zu den Pigmentationsstörungen gezählt wird.)

Natur und Wissenschaft
Ein anderer Arzt-Freund, der auch Multiinstrumentalist ist und ohne weiteres eine Musikkarriere hätte einschlagen können, schickt mir die Links zu mehreren wissenschaftlichen Veröffentlichungen in Fachzeitschriften über den Zusammenhang zwischen Rezession und sinkender Sterblichkeit. In gewissen Bevölkerungsgruppen und unter bestimmten Umständen kann ein Wirtschaftseinbruch sich also positiv auf die Lebensbedingungen der Menschen auswirken. Dies habe auch meinen hochgebildeten Freund stutzig gemacht, doch eine historische Belegbarkeit scheint erwiesen. Die Ausführungen zu den gesundheitlich vorteilhaften Auswirkungen eines Konjunkturrückgangs hätten ihm diebische Freude beschert. (Wie dankbar wir sind, ehrlich überrascht zu werden; es kommt so selten vor.)
Ich tippe ins Blaue hinein, dass die Leute bei schlechter Wirtschaftslage vielleicht weniger Geld für Blödsinn ausgeben, was sich später, beim Lesen eines Artikels, als ein Teilaspekt des Phänomens herausstellt. Wer sehr sparsam haushalten muss, verzichtet zuweilen auf Alkohol und Zigaretten. (Andererseits werden jene, die ohnehin zu Suchtverhalten neigen, in der Krise erst Recht zur Flasche greifen oder Möglichkeiten ersehnen, das nächtliche Rattern der Sorgen zu betäuben.) Es sind komplexe Sachverhalte, die hier angerissen werden; vor allem geht es um die Fragestellung, wie der Staat mit einer Rezession umgeht, ob er in Arbeitswelt und Gesellschaft heilsame Veränderungen auf den Weg bringt. Wie robust ist das soziale Netz, das die Menschen auffängt? Wo es löchrig wird, da segeln sie im freien Fall ins Nichts.

Kürzestgeschichte: Die Frau im Kühlschrank klopft nicht mehr.

Untertagtraum im Nachmittagsschlaf: Ich habe meinen Rucksack verloren. Entweder habe ich ihn unterwegs wo liegengelassen oder gar nicht erst von zu Hause mitgenommen, was mir nicht ähnlich sieht. Entweder habe ich ihn verloren oder der Riese war Horst. Es macht mir nichts aus. Abends ist die Straße lang. Der Bruder meines Vater kommt mir mit Krücken entgegen. Er ist tot und hat Recht. Abendliche Stadtrandstraße, schreibe ich ins Notizbuch, das ich neuerdings auch träumend eingesteckt habe. Davon kriege ich Beine, habe aber schlechtes Gewissen. Der Bruder meines Vaters ist mein Onkel. Mein Onkel kann seinen Bruder nicht finden. Mein Onkel kann meinen Vater nicht finden. Logische Verkettung der Tatsachen. Dabei hat er geläutet im sechzehnten Bezirk. Ich dachte, Onkel kommen nicht nach Wien. Auch mein Vater ist tot. Vor schlechtem Gewissen muss ich den Rucksack holen.
Eine rothaarige Frau hat ihn umgeschnallt. An ihrer Schulter baumelt ein Stoffbeutel. Sie gibt mir detailliert Auskunft, was sich darin befindet, ich höre aufmerksam zu. Wir gehen ohne Maske in ein Kaffeehaus und setzen uns auf die Terrasse – bei der ich nie weiß, wie man sie schreibt. (So wie in einer Vornotiz Mitte April.) Ich erzähle, dass mein Ausweis in der Geldbörse ist, die im Rucksack ist. Nimm ihn halt, sagt die Rothaarige, und wirft ihn mir hin. (Möwen schnattern, aber das weht herüber aus einem anderen Traum oder aus einer Dokumentation über das geisterhaft leere Venedig. Alles kommt so gut ohne uns aus, gerade Orte, die wir erschaffen oder geprägt haben. Alles ist so friedlich und so tröstlich ohne uns, dass es uns doch gar nicht mehr zu geben braucht.)
Aus einem Grund sind wir auf einer Party. In der mit kaltem Wasser gefüllten Badewanne planschen die Getränke (Bierdosen und Weißweinflaschen). Jemand fragt, welche Sorte. Das Bier ist egal, sage ich. Über die Rothaarige sage ich mir, dass es keine reine Kopfliebe sein darf. Ich muss mich erinnern, dass es sie gibt. Einer darf mit dem anderen verschwinden. Wer ein Mensch ist, dessen Zweifel hat Gewicht. Die Partygäste bleiben vereinzelt. Es heißt, die Wände sprechen mit. Die Stimmung ist gedämpft. Etwas muss vorgefallen sein.

Männer und Frauen
Als die Welt stillstand, war endlich Zeit. Wir haben es uns gemütlich gemacht. Die Wohnung aufgeräumt, beschädigte oder doppelte Gegenstände ausgemistet. Wir haben überfällige Bücher zurückgeschickt. Wir haben eine glorreiche Ananas auf den Heizkörper gelegt, dass es eine Freude war. Wir haben gut die Obstschale gezeigt und alles insgesamt vorteilhaft beleuchtet. Das Nest ist ausstaffiert zum behaglichen Gefängnis. Es ist so ein gepolsterter Schmerz. Wir sind gesund.
Die Männer haben sich Frauenkleider angezogen, um schöner zu singen, und die Frauen haben sehr glatte Harre gehabt. Die Ernährung war ausgewogen. Wir sind zum Markt einkaufen gegangen und haben immer frisch gekocht. Wir sind mit dem Fahrrad gefahren. Die Frauen haben ihr weiches Spiel gespielt, und die Männer dazu beharrlich geschwiegen. Wir sind geträumt worden von bösen Kindern, und haben den Rest unseres Lebens gelebt. Es spielt im reinen Norden oder fahlen Westen. Nichts stört darin nach mehr. Jetzt setzt sich die Welt aufs Neue in Bewegung. Wir schmieden Pläne und holen Feste nach.

Eines Tages wird mich der exponierte Rückspiegel eines herannahenden Autobusses erschlagen. (Ich lese beim Warten an der Station, und die Spiegel ragen weit über die Gehsteigkante.)
*
Allgemein bekannt: Wenn man mit gezückter Handy-Uhr am Fahrplan nachsieht, wann der Bus hätte kommen sollen, dann kommt er schneller. (Das Anzünden einer Zigarette verstärkt diesen Effekt. Nichtraucher sind hier klar im Nachteil.) Bedenkt man dann den Fahrer selbstgerecht mit einem tadelnden Blick, wird er sich niemals wieder verspäten.

Ober-Virologe im Podcast des Norddeutschen Rundfunks, Folge siebenundvierzig: Sorry, ich sag mal grade nichts wegen diesem Bagger. Ich kuck mal grade, was die da machen.
Moderatorin: Mhm, okay.
Ober-Virologe: Also, es stellt sich raus, es is gar kein Bagger, sondern es is so n Straßenkehrer, der hier auf …
Moderatorin: Ah, okay.
Ober-Virologe: … mal kurz auf Vollgas läuft.
Moderatorin: Okay, der hat ja bald fertig gekehrt, dann irgendwann, ne.
Ober-Virologe: Anscheinend fährt er jetzt weg. Ja. So.
Moderatorin: Gut. (lacht)
Ober-Virologe: Wo waren wir jetzt?

Die Leute möchten wieder ins Ausland fahren, umgekehrt wünschen sich Tourismusbetriebe möglichst viele zahlungskräftige Besucher. Die Politik stellt Weichen, beschäftigt sich mit Details der Bewegungsfreiheit und mit den Bedingungen des Durchfahrtsrechts. Europa erinnert sich seiner Grenzen. Infektionszahlen pendeln sich ein auf niedrigem Niveau. Jetzt werden die Toten gezählt. Wir haben uns einen entspannten Sommer verdient, an dem wir wieder atmen und an gar nichts denken dürfen.
Reisen heißt interessante Probleme lösen und schwierige Fragen beantworten, wie zum Beispiel: Wo bin ich? Wohin möchte ich? Wie komme ich dorthin? Wird es mir gelingen? Wer kann mir dabei helfen? Welche Sprache spricht derjenige? Was, wenn es nicht klappt? Welches Essen sollte ich probieren? Wo stimmen Qualität und Preis? Wie lange kann ich bleiben? Will ich jemals zurück? Zug oder Flugzeug? Bahn oder Pferd? Floß oder Flossen? Die Antwort weht im Wind.
*
Mein Einbruchschutz, als ich einmal sommers für ein paar Tage verreiste: Ein Blatt Papier, streng in die Hälfte gefaltet, sodass es zum zeltförmigen Aufsteller wurde. Ich legte es auf die Kommode mit Schlüsselschale, direkt hinter der Tür. Bin einkaufen!, stand da in dickem Filzstiftstrich. Und darunter: Komme gleich. Es folgte ein keckes Lachgesicht. Dabei lebe ich allein.
Der Einbruchschutz hat gewirkt. Es war so: Ein Ganove verschaffte sich Zutritt, mit filigranem Diebeswerkzeug nestelte er meine Haustür auf und betrat leisen Schrittes die Wohnung. Dann erblickte er das Schild, las die Nachricht an meinen imaginären Mitbewohner. Er verstand und wollte es nicht darauf ankommen lassen, das Zeitfenster schien ihm zu klein. Also trat er zurück ins Stiegenhaus und zog behutsam die Tür ins Schloss. Er suchte das Weite – oder fand ein anderes Opfer. Er verschonte mich und hinterließ keine Spuren. Ich habe es niemals bemerkt. So muss es gewesen sein. (Diese Geschichte ist nicht erfunden.)

Der gemeine Teppichhai ist ein Lauerjäger. So wie ich. (Nachts werde ich zum Lauerer und strafe.)

Wären alle Menschen zur selben Zeit betrunken, und würden sie sich in einem Moment kollektiver Erkenntnis die Hände reichen, dann bräche plötzlich Frieden aus wie sonst nur Krieg.

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84 Montag, 08.06.2020

Routen und Routinen

Manchmal fallen Doughnut-Tag und Schnitzelmontag zusammen. Einen ungesunden Abend braucht es da dann gar nicht mehr. (Morgens in der U-Bahn fällt mir auf, dass Doughnut streng übersetzt Teignuss heißt, womit Form oder Konsistenz des Gebildes nur unzureichend beschrieben sind. Sinniger wäre so etwas wie Lochkrapfen. Vielleicht habe ich das einmal wo gelesen, vage Erinnerungsbilder eines nach Zimt duftenden Christkindlmarkts träumen einen Tunnel lang übers Fenster. Nein, denke ich, das Wort ist eine unzulässige Verwandlung.) In die Arbeit und zurück, in den Stadtpark oder die Bücherei – es sind die immergleichen Routen, die wir gehen. Mehr haben wir nicht.
*
In der Einkaufspassage gibt es einen chinesischen Supermarkt, dort hole ich mir regelmäßig Sojasauce, Reisnudeln, Jasminreis, Fertig-Misosuppe (Tofu), kleines Flaschenbier oder Zutaten fürs Hühnercurry: Sojakeimlinge, Kokosmilch, Currypaste (rot, gelb, grün), frische Chilischoten, Koriander. (Fleisch gibt es hier nicht.) Die Besitzerin lächelt mit zuvorkommender, beinah unterwürfiger Zurückgenommenheit und tritt zur Seite, wo man gar nicht vorbei will. Als ich komme, portioniert sie gerade Sojakeimlinge aus einem großen Sack in mehrere kleine, die mit einem handelsüblichen Klebestreifen verschlossen werden.
Ich erinnere mich, am Anfang der Quarantänezeit einmal keine Maske getragen zu haben, weil es noch nicht verpflichtend war. Da sah sie mich erschrocken an, trug sie doch bereits eine, seitdem der Virus in den Medien präsent zu werden begann. Ich bemerkte, wie unangenehm es ihr sein musste, meinem Atem schutzlos ausgeliefert zu sein und brachte entschuldigend vor, dass ich gelesen hätte, Masken würden nicht wirklich etwas bringen, und wenn, dann nicht bei uns Normalsterblichen. Trotzdem beschloss ich, beim nächsten Mal eine zu tragen, allein für den Seelenfrieden der chinesischen Supermarktfrau. (Sie und die Schnitzelfrau sind – gleich nach meiner Mutter und der Chefbuchhalterin – jene Frauen, denen ich am öftesten begegne.)
Wir haben es uns zur Gewohnheit gemacht, einander in unserer Höflichkeit überbieten zu wollen. Beim Bezahlen runde ich stets auf, nicke und sage: Das passt so. Sie jedoch will diese lächerliche Großzügigkeit nicht auf sich sitzen lassen und legt mir zur Antwort kommentarlos eine Limette ins Stoffsackerl. Beim nächsten Mal versuche ich, es wieder auszugleichen. Das ist unser Spiel, nah am harmlosen Flirt. Langsam schaukeln wir uns auf, werde ich im Runden immer waghalsiger und fordere heraus, dass sie mir bald zwei Limetten ins Sackerl legen muss. Ein Wettrüsten der Großzügigkeit – auch das ist Völkerverständigung.
*
Die Umgebung, in der wir uns aufhalten, spiegelt unsere inneren Vorgänge wieder. Anhäufen von Material, geistiges ebenso wie physisches, die Unordnung wächst, behält jedoch eine gewisse Struktur, die sich dem Außenstehenden erst bei näherer Betrachtung erschließt. Erreicht sie ihren Höhepunkt, wird die Idee in Form gegossen, im Projekt ein Etappensieg errungen. Tabula rasa, leeres Blatt. Dann geht das Spiel von vorne los. Es ist dieses Hin und Her zwischen Ordnung und (vermeintlichem) Chaos, das uns durch die Tage trägt, Ebbe und Flut schöpferischer Gegenwart. So besteht die Routine eher in der Regelmäßigkeit des Wechsels.
*
Es wird schwer sein, aufzuhören. So wie Politiker ihre Macht genießen, sich breitschultrig sonnen im Scheinwerferlicht, so genieße auch ich meinen Umgang mit der Krise, meine Möglichkeit, sie wortreich zu befragen. Während der letzten Wochen stand niemand von uns vor dem Problem, nichts zu erzählen zu haben. Im Gegenteil fanden wir uns eher mit der Herausforderung konfrontiert, dass sich unsere Geschichten nur sehr wenig von einander unterschieden.
Ich werde jemanden brauchen – einen Menschen vielleicht –, der mir sagt: Es reicht. Es ist jetzt genug. Lass es gut sein. Schlaf. Komm zur Ruhe. Bitte, schlaf. Wahrscheinlich ist es viel zu spät, sich um so jemanden zu kümmern, wen dafür einzuschulen, sich meinem winselnden Trotz entgegenzustellen.
Wir alle brauchen jemanden, der ehrlich zu uns ist, einen ersten Offizier, mit dem wir abends nach dem Dienst väterlich einen Scotch oder Earl Grey trinken und in vertrauenswürdigem Ton die Lage besprechen können. Ich bin der Kapitän eines Atom-U-Boots, verrückt geworden im Einsatz unter Wasser. Ich sehe Torpedos, wo keine sind, als Tinnitus hallt mir der gedämpfte Suchton des Sonars im Ohr. Ich bin dabei, vollends den Verstand zu verlieren, und einen Krieg anzuzetteln. Man wird mich meines Kommandos entheben müssen. Ich werde mich wehren. Captain, sagt jemand, ich tue das nur sehr ungern, doch es bleibt mir nichts anderes übrig. Ping.
In luziden Momenten schaffe ich es, mir das Offensichtliche einzugestehen. Da fühle ich mich geborgen in den seltsamen Zeiten, weil sie es einem erleichtern, gewichtige Eindrücke zu sammeln. Die fallen uns brutal in den Schoß. Ist man es ohnehin gewohnt, jedweden Eindruck – solange er einem ausreichend überlebensfähig vorkommt – sprachlich festzuhalten, dann sind Krisen wie ein üppiges Buffet, an dem man sich bedient. Ich muss aufpassen, mich nicht zu überfressen, mich nicht zu verlieben in den Ausnahmezustand als Normalzustand, den man ehrgeizig bewältigt. (Oder ist es längst geschehen? Haben wir der Nacht erzählt, was wir einander sind?)
Das Manövrieren durch unwegsames Gelände, verschafft eine Orientierung, die man in der Alltagswelt oft schmerzlich vermisst. So manche Innenstadt ist als vertracktes Labyrinth angelegt.
*
Einmal hantierte beim Volkstheater ein bärtiger Mann mit dem Stadtplan. Ich hatte Mitleid und fragte ihn spontan, ob ich ihm helfen könne. Er wolle zum Parlament und wisse nicht, wie er dorthin gelange. Ich wusste es auch nicht, dachte laut nach, schaute links und rechts den Ring entlang, zückte schließlich das Handy und öffnete die Karte. Der Fremde neben mir wurde ungeduldig. Von allen Menschen, die ihm hätten helfen können, habe genau ich mich ihm aufdrängen müssen. Verzweifelt zoomte ich näher heran und wieder zurück, richtete die elektronische Karte nach unterschiedlichen Himmelsrichtungen aus, nordete uns mal da und mal dort ein. Schließlich äußerte ich meine Vermutung, die jedoch wenig selbstbewusst klang. Ich fuchtelte ihm vor, wohin er zu gehen habe. Abwägend trat der Mann von einem Bein aufs andere. Dann prüfte ich meine Aussage noch einmal nach und wiederholte sie vehement. Jetzt ging er los. Bestimmt fragt er jemanden nach dem Weg, dachte ich.
*
Vielleicht ist Schlaf die einzige Routine, die uns wirklich gehört.

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83 Sonntag, 07.06.2020

Gestern – gestern? – gestern! –, gestern also erreichte uns die Nachricht, dass die Weltgesundheitsorganisation unter bestimmten Umständen den Massengebrauch von Masken empfehle, wobei sie davor warnt, dass der Bevölkerung womöglich ein falsches Gefühl der Sicherheit vermittelt werde. Wenn Menschen sie mit schmutzigen Händen berühren und so kontaminieren würden, könne sich das Erkrankungsrisiko sogar erhöhen. (Gut zu wissen, dass gesundheitspolitische Entscheidungen wie hierzulande die Maskenpflicht auf wissenschaftlich fundierten Analysen basieren; diese herrscht bei uns seit mehreren Wochen in öffentlichen Verkehrsmitteln, Geschäften, Amtsgebäuden, Arztpraxen und Apotheken, teilweise in der Gastronomie oder auch bei bestimmten Veranstaltungen.)
*
Die Weltgesundheitsorganisation führt weiter aus, das Nähen von Masken versetze Menschen in die Lage, aktiv etwas gegen den Virus zu tun, gleichzeitig stelle es eine mögliche Einkommensquelle dar. Sie erkennt darin also eine Maßnahme zur kurzzeitigen Arbeitsplatzbeschaffung sowie eine nette Beschäftigungstherapie für das einfache Volk.
Der aktuelle Leiter der Weltgesundheitsorganisation heißt Tedros Adhanom Ghebreyesus. Die Namen einiger seiner Vorgänger lauten Brock Chisholm, Marcolino Gomes Candau, Halfdan Theodor Mahler, Hiroshi Nakajima oder Gro Harlem Brundtland. Um der Organisation vorzustehen, muss man also heißen wie eine exotische Romanfigur. Besonders erfunden klingen Ghebreyesus und Candau.

Mädchensang im Praterbus:
Ich sing dir das vor
Alle meine Pferde immen auf dem See
Immen auf dem See
Und in der Erde (reimt sich auf Pferde)
Ich mag das, etwas versingen

Am Bahnsteig telefoniert eine Jungrussin, harte Fakten ins Gesicht geschminkt. Sie legt auf und wirkt herzzerreißend liebesmüde, ihr schmaler Körper bebt vor ratloser Tapferkeit. Es braut sich in ihr etwas zusammen, das bald ein Ventil finden will. Unrühmlicher Gedankenblitz: Und wenn ihr jetzt noch einer sagt, dass sie hässlich ist, wirft sie sich vor den Zug.

Wer mit der lilafarbenen U-Bahn-Linie über den Rand der Welt fährt, kommt in die Seestadt, ein ordentlich hingeplantes Wohnviertel für gärtnernde Jungfamilien, dessen rechte Winkel langweilig korrekt sind. Es glaubt, etwas zu sein, aber ortelt nur herum. Ein Musikvideodreh führte mich letzten Winter dort hinaus, bitterkalte Aufnahmen mit Halsweh und Wiederholung. Passanten blieben neugierig stehen oder trotteten bescheiden durch den Hintergrund. Im Siedlungszentrum – Hauptplatz klänge zu amtlich – gibt es eine Bäckerei, in der ein paar Sitzgelegenheiten zum Verweilen einladen. Hier wärmten wir uns dankbar auf.
Die Betreiberin trug einen altmodischen Arbeitskittel, am rechten Oberarm hatte sie blaue Flecken, die mir wie die Griffpunkte von wütenden Händen erschienen. Häusliche Gewalt, dachte ich.
An einem der Kaffeehaustische saß ein alter Mann, der Genügsamkeit ausstrahlte, leer und endgültig lächelte er ins Nichts. Vor ihm befand sich ein beachtlicher Stapel Papierservietten. Er befeuchtete jeweils seine Fingerspitzen, nahm eine davon, faltete sie in die Hälfte, legte sie zu den anderen. Es wirkte wie ein routinierter Vorgang, was ich als alarmierend empfand. (Selbst nach ursprünglichen, präcoronalen Hygienestandards wurden hier eindeutig Grenzen überschritten.) Tochtervater, dachte ich.
*
Als der alte Mann fertig war, trug er die Servietten hinter die Theke. Am Rückweg kam er an der steril brummenden Kühlvitrine vorbei, aus der er sich eine Flasche Orangensaft angelte. Schatzi, sagte er zur Tochter, ich habe mir eines genommen. Er setzte sich wieder hin, schraubte den Deckel ab und nahm einen tiefen, betretenen Schluck. Jede einzelne Serviette wird vom Vater der geprügelten Bäckereibetreiberin abgeschleckt, dachte ich.
Jetzt setzen Rechenspiele ein: Vor wie vielen Jahren wurde der Betrieb eröffnet? An wie vielen Tagen der Woche sitzt der Vater an seinem Tisch? Wie viele Servietten faltet er täglich in die Hälfte? Wie viele Drinks aus der Truhe genehmigt er sich? Wie viele Keime werden mit jeder Fingerspitze durch Spucke übertragen?
Ich werde aus dem unappetitlichen Vorgang nicht schlau. Was spricht dagegen, beim Anrichten eines Gebäcks einfach mit flüchtigem Handgriff eine Serviette zu falten und adrett aufs Tellerchen zu legen? Wahrscheinlich ist es der Tochter ein Anliegen, ihren Vater beschäftigt zu halten. Es ist ihre Liebe, denke ich. Die muss keiner verstehen.

Eine Business-Bekannte: Heute geht’s mir ungewöhnlich gut, ich war den ganzen Tag wandern, und hab einen unglaublichen Moment gehabt wo ich im Gras gelegen bin und nur der Natur zugehört hab. (Die Wendung ungewöhnlich gut versetzt mir einen Stich.)

Als Ersatzmaske oder Wechselmaske kaufe ich mir eine aus weißem Stoff mit aufgedruckten Notenlinien und Noten. Befestigt wird sie mit recht engen Gummibändern, die beim Tragen die Ohren vorausklappen. Besonders ohrenfreundlich ist sie also nicht. Man kann nur hoffen, dass die Bändchen im fortgesetzten Gebrauch etwas ausleiern und weniger unangenehm sind. Immerhin sitzt sie fest und kann nur minimal verrutschen. Ein bisschen kämpft sie dabei mit der Brille.
Als ich mich im U-Bahn-Fenster spiegle, habe ich so abstehende Ohren wie der etwa gleichaltrige Bundeskanzler; für die seinen ist er europaweit bekannt, sie sind untertassenhaft ausgewalkt, lausbubenhafte Brotscheibenohren. Meine wiederum sind klein wie meine kleinen Hände, sehr unmännlich. Ich stelle mir vor, dass die Maskenpflicht wohl auch deshalb aufrecht bleibt, damit unser Bundeskanzler mit seinen abstehenden Ohren nicht so allein ist. Die abgedruckten Noten ergeben die Behauptung einer Melodie. Luftiger Jazz schwebt mir um den Mund.
*
Vor wenigen Tagen hörte ich zum ersten Mal am Bahnsteig die Durchsage, wonach sich das Gebot zum Tragen von Masken nicht bloß auf den Waggon beschränke, sondern auf den gesamten Stationsbereich ausgeweitet sei. Das war mir nicht bewusst. Selbst als aufmerksamer Nachrichtenkonsument ist diese Information an mir vorbeigegangen. Tatsächlich habe ich mich öfter gewundert, weshalb nicht viel mehr Leute direkt nach dem Aussteigen die Maske herunterreißen. Schade, dass ich die Durchsage nicht überhört habe und weiterhin guten Gewissens behaupten kann, ahnungslos zu sein. So lebte es sich leichter.

Erdbeeren übersetzen Sonne in Geschmack.

Am Donaukanal sitzen alle aufgefädelt und machen sich bereit zur Ernte. Füße mit Schuhen und Socken baumeln über den Rand. Einigermaßen waghalsig schwingt man zum Wind. Es gräbt sich der Fluss stumm voran. In Wien ist jedes Wasser interessant dreckig. Die schönen Menschen rotten sich zusammen, weil es stimmt. Daneben wachsen Flascheninseln, Wein und Bier, ausgetrunken klingt es hell. Eine Boombox dröhnt. Unter der Brücke probiert man den Hall, ein spontaner Rave, ein Dancen in the Dark. Polizeikräfte maskieren sich für den Einsatz, weisen schuldbewusst auf Abstandsregeln hin. Wie vertraut uns der Anblick dieser Patrouillen geworden ist. Schirch. Polizisten kommen auch aus Familien, haben Wünsche und Hunger und Tage, gehen aufs Klo. Nachtlang sind alle wie aufgehoben. Schön warten.
(Oft habe ich mir überlegt, ein Bierwagerlfahrer zu werden, auf der Donauinsel oder am Donaukanal, das muss ein lukrativer Sommerjob sein. Vielleicht ab Juli, da habe ich wenig zu tun. Je nach Wetter und Trinkfreudigkeit kann man so ein stattliches Taschengeld einstreichen, auch stelle ich es mir nett vor, eine Abendschicht lang nichtssagende Plauschereien mit Kunden zu sammeln.)
*
Jetzt wird sauber geerntet. Da geht einer her und lupft welche ins Wasser. Die jauchzen schrill vor Glück. Manche haben vorsorglich ihr Handy aus der Hosentasche genommen und einem Sitznachbarn zugesteckt, doch das zählt irgendwie nicht. Ohne Handy ist es nur der halbe Spaß. Die Leute tropfen in den Fluss, schrecken in die Kälte, tauchen kurz unter, tauchen gleich wieder auf und holen Luft. Yes, rufen sie, bist du deppat. Oder: Schock zum Quadrat. Oder: Smooth. Ein paar Dutzend werden so auf ihr neues Wesen getauft. Flussabwärts fischt sie einer heraus und trocknet sie grob mit Jacken ab. Er hüllt sie in rupfige Feuerwehrdecken, in denen noch das eine oder andere Blut aufblinkt. Wer will, wer mag, wer hat noch nicht? Lüsterne Angeblichkeit.

Außerdem ist Licht ja auch nur etwas, das es gibt.

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82 Samstag, 06.06.2020

Im Bus verwackeln die Sätze zur unleserlichen Runzelschrift. Besonders arg wird es in der Schüttelstraße auf dem Weg zum erholsamen Nachbarplaneten namens Prater.

Nimmt der Präsident der Vereinigten Staaten – dessen Name ich hier unerwähnt lassen möchte, um das Geschriebene nicht zu kontaminieren –, nimmt er also noch weiter zu, wird es später eng in der Hölle, denn unter seinesgleichen ist ihm längst ein warmes Platzerl reserviert. Da kann er dann saunieren und mit den anderen streiten, wer der erfolgreichste Menschenfeind der Weltgeschichte gewesen ist. Ich werde die Notizen mit seinem Namen nicht verunreinigen.

Ein billiger Anblick: Diese falschen Brüste waren im Sonderangebot.

Im Hipster-Kaffeehaus spielt es sich ab. Ich besetze den letzten freien Stuhl. Am Nebentisch ein Model-Paar, das eloquent posiert vor den anderen Gästen. Sie mit beleidigter Schnute und weltvergessenem Blick, er ganz mager im kaputten Shirt, aus dem haarlose Arme zögern. Die beiden sitzen am Fenster und haben ein Schachbrett vor sich, auf dem die Figuren ihren sinnlosen Krieg führen. Es sind zwei Deutsche, und sie tauschen sich über das Regelwerk aus; er ist ihr geduldiger Lehrmeister, sie seine lernwillige Schülerin.
Beim Betreten hat mich niemand begrüßt. Auch das dreckige Geschirr meiner Vorgänger wird nicht abgeräumt. Die Kaffeeränder und aufgefädelten Wasserperlen ekeln mich, am meisten aber die zerknüllten Servietten, in die sich Fremde den Mund abgewischt haben. Lauernder Keim.
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Hier gibt es Selbstbedienung, man bestellt unkompliziert am Tresen. Zwei junge Kerle schupfen den Laden, für Höflichkeit oder Aufmerksamkeit sind sie zu cool. Ich beobachte ihre Handgriffe wie der Wilderer sein Tier: abschätzig und gierig auf den Schuss. Sie lassen sich sehr Zeit und scherzen langweilig miteinander. Alle um mich wirken ausgeruht und offen für den neuen Tag, doch es ist nur ein Wirken, ein keckes Spiel vor Publikum, ein Agieren im Wissen des Blicks. Alle hier sind etwas vor den anderen. Ein Ort, an dem man nicht bei sich sein kann.
Die deutschen Models gehen auf in ihrer Rolle, das Sonnenlicht kitzelt ihnen in der Nase. Er bringt gekonnt ihre Dame zu Fall, wofür sie ihn anhimmelt. Die zwei strahlen unbekümmerte Verliebtheit aus. Das Geschirr wurde immer noch nicht abgeräumt. Erst als eine Kollegin das Team verstärkt, kommt Bewegung in die Sache, werden die Abläufe rund. Man merkt, dass sie den Laden schupft und sich mit faulen Drückebergern herumschlägt. Kaffeegeduld. Schachmatt.

In einem Samstag ist für alle Platz.

Schön und verwirrend. In Wien gehen fünfzigtausend Menschen gegen Rassismus und Polizeigewalt auf die Straße, ein Beispiel nehmen sie sich bei vergleichbaren Kundgebungen in den Vereinigten Staaten. Bei uns geschieht kein Umschwung zu Gewalt, in keiner Silbe und keiner Geste. Die ungetrübte Gewissheit, friedlich für die gute Sache einzustehen. Hier ist eine Demonstrationslust am Werk, gerade junge Leute sind froh, sich wieder an der frischen Luft in Gruppen zusammenfinden zu können, was eigentlich nach gewissen Vorgaben ablaufen sollte. Nicht zuletzt wetterbedingt übersteigt die Beteiligung das erwartete Ausmaß.
Die Forderungen nach Toleranz und einer vorurteilsfreien Gesellschaft, nach einer Gleichbehandlung unabhängig von Herkunft und Hautfarbe, kann man ohne Einwand unterschreiben. Trotzdem bin ich verwirrt, dass eine Großkundgebung dieser Art inmitten einer abklingenden Pandemie stattfinden kann, obwohl noch immer strenge Abstandsregeln in Kraft sind. Die wochenlange Seuchenangst ist über Nacht verflogen. Während man in vielen Bereichen einen unwürdigen Affentanz um Auflagen vollführt, sich mit Teilnehmerbegrenzung und Plexiglasbarrieren herumschlagen muss, wird die Wiener Innenstadt bedenkenlos zur politisch aufgeladenen Partymeile erklärt. Weltverbesserung ist immun gegen Kritik.
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Die Polizei schreitet auch deshalb nicht ein, um sich den Vorwurf der Fremdenfeindlichkeit zu ersparen. Selbst Aufrufe zum Abstandhalten wären klischeehaft als rassistischer Übergriff verurteilt worden. Nach überschießenden Verwaltungsstrafen für Spaziergänger und Ausflügler besteht die Imagekorrektur der Behörden nun darin, gegenüber den Veranstaltern von weltanschaulich begrüßenswerten Kundgebungen keinerlei Ansprüche zu stellen. Man darf sagen, dass man etwas nicht versteht.
Ideologische Blindheit hieße, weder vorauseilend zu befürworten noch zu verdammen, Form und Inhalt klar zu trennen, es hieße, im Gestalten und Ermöglichen gesellschaftlicher Teilhabe mehr oder weniger einheitlich zu sein. (Man stelle sich vor, fünfzigtausend Demonstrierende wären bei einem Freiheitsmarsch gegen den postulierten Corona-Wahnsinn mit Schaum vor dem Mund durch die Straßen gezogen. Linksgerichtete Medien hätten standardmäßig den österreichischen Weltuntergang heraufbeschworen und einen gesundheitspolitischen Skandal gefaltert. Vielleicht mit jedem Recht. Man höre die geifernden Rücktrittsaufrufe. Man messe nicht mit zweierlei Maß.)
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Die Amerikaner haben uns gezeigt, wie man cool demonstriert. Hochgehaltene Plakate wirken mit englischsprachigen Slogans gleich viel professioneller, auch skandierte Slogans flutschen besser. Da zieht man mit seinen Klassenkollegen aus der Oberstufe vom Getreidemarkt zum Museumsplatz, aber es fühlt sich an, als wäre man ein Checker in der Bronx. Auch Seattle und Atlanta sind relativ cool. Als brennende Autowracks haben wir die Reibungswärme zwischen Gleichgesinnten. Es ist sehr angenehm, das Richtige zu tun; und wie leicht geht man sich dabei selbst auf den Leim. Am coolsten ist immer noch Brooklyn.
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Dieselben fünfzigtausend Menschen haben sich darüber echauffiert, dass eine Handvoll Rechtspopulisten in einem Vereinslokal am Land laut Musik hören und Pizza bestellen, obwohl Zusammenkünfte haushaltsfremder Personen doch bedenklich waren – oder sogar verboten, so genau weiß das nicht einmal die Regierung, auch im Nachhinein. (Mein Mitleid hält sich in Grenzen, handelt es sich doch wahrscheinlich um Säufernasen mit weltanschaulich bedenklichem Hintergrund.) Kritisiert zu werden, ist furchtbar anstrengend, deshalb sollte man es lieber bleiben lassen.
Dieselben Fünfzigtausend haben während der Quarantäne einen Daheimbleib-Kult betrieben und sich allzu sehr gefallen im Herzeigen ihrer Gewissheit und im Bloßstellen der Verfehlungen anderer. Wir alle haben uns vom Zusammenhalt im Rechthaben mitreißen lassen, der patriotisch unterfüttert gewesen ist, unsere kritische Selbstbetrachtung war dabei höchst unterschiedlich ausgeprägt. Wir alle bewohnen denselben Meinungskosmos; niemand kann unfehlbar als Außenstehender vom Spielfeldrand obergescheit hineinkommentieren. Jeder ist Teil des kollektiven Erzählstroms.
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Verwirrt bin ich dort, wo eine Uneinheitlichkeit der Beurteilung offenbar wird. Das gleichzeitige Auftreten einander widersprechender Verhaltensweisen. So werden vermeintliche Tatsachen zur laschen Behauptung degradiert. Der Grund für die Demonstration ist ohne Einschränkung unterstützenswert; die Art ihrer Durchführung ergibt im Kontext der letzten Wochen und Monate keinen Sinn. Am Pranger ist für alle Platz.
So habe ich also den Überblick verloren, wer eigentlich wann genau unter welchen Umständen was darf, ob wir von Großveranstaltungen nun Abstand nehmen sollten oder nicht, ob es nun gerechtfertig ist, dass eine Lesung im Innenhof eines Literaturmuseums nächsten September nach epidemiologischen Gesichtspunkten in drei Etappen stattfinden soll. Es ist nicht nötig, das Vertrauen in den Staat zu verlieren, er zerstört es ganz von selbst.
Fünfzigtausend Menschen beim Einfordern der Menschenrechte sind ein schönes Zeichen; das unbehelligte Verweilen entgegen aller Beschränkungen stellt deren Sinnhaftigkeit infrage. Verwirrt bin ich von der tiefen Diskrepanz zwischen Inhalt und Form, ich bringe das eine nicht mit dem anderen zusammen. So geht es allen, mit denen ich spreche. Verwirrend und schön.

Einmal entsorgte ich einen Packen Rasenschnitt in der Biotonne, die bereits bis zum Anschlag gefüllt war. Was ich mitbrachte, ließ sich gerade noch dazustopfen. Um die Tonne zu öffnen, trat ich den Bodenhebel nieder. Normalerweise sorgt eine ausgeklügelte Vorrichtung dafür, dass sich der Deckel nach Entfernen des Fußes gemächlich senkt, doch hier schien sie defekt zu sein. Nichtsahnend hob ich den Fuß – und der Deckel knallte ungebremst nieder. Es gischtete mir feuchten Dreck ins Gesicht, über und über war ich mit zerhäckselten Grashalmen und braunen Wassertropfen übersäht. Ein jämmerlicher Anblick. Ich nahm es locker und lachte mich aus. Die besprenkelten Brillengläser rieb ich ins Hemd. Mit dem Unbehagen, soeben von einer Biotonne gedemütigt worden zu sein, watschelte ich zurück in den Tag.

Im Stiegenhaus, wenn das Handy den Einzusgbereich des WLAN verlassen, sich jedoch noch nicht ins mobile Datennetz eingewählt hat, und damit für unmessbare Sekundenbruchteile ein funkwellenfreies Zwischenreich bewohnt. Ein Übergangszustand, der am ehesten unserem Schlaf gleichkommt.

Zwei Busse hupen einander aufmunternd zu. Schicksalsgenossen in flehendem Erkennen. Dann fährt jeder mit Scheuklappen in seine Richtung weiter, stur geradeaus. Durchhalten. Alles wird Stadt.

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81 Freitag, 05.06.2020

Ich habe ganz vergessen, dass die Zeiten seltsam sind. Da war doch was. Aber was? Achja, denke ich, stimmt.

Verlässlichster Hinweisgeber für Schreibfehler im Narrativ ist ein Tiroler Pirat, der mir kurz und bündig Stellen mit vertauschten oder vergessenen Buchstaben nennt, über die ich mich maßlos ärgere, weil es mein ausgeprägtes Formbewusstsein stört. Ganz egal, in welcher Situation ich mich befinde, ob schon mit einem Fuß in der Badewanne oder diesen Moment Platz genommen vor einem späten Abendessen, der Fehler muss sofort korrigiert werden. Erst so ist alles wieder im Lot. Gleichzeitig freue ich mich sehr über jeden Hinweis, und bin dankbar, ihn zu erhalten. Man ist ja doch nur so gescheit wie die anderen einen sein lassen.
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Der Tiroler Pirat schenkt mir den Gedanken, dass in diesen Zeiten die Menschen vielleicht endlich nachvollziehen können, wie sich Hunde immer schon gefühlt haben, weil jetzt beide nur mit Maulkorb in die öffentlichen Verkehrsmittel dürfen. Langsam ein klein wenig Normalität, sagt er, aber die Leute kriechen zerzaust aus ihren Höhlen wie ein Murmeltier nach dem Winterschlaf, ein wenig mager und noch schläfrig.
Ich besitze zwar keine Waage, glaube aber, dass ich in den letzten Wochen eher zu- als abgenommen habe, vielleicht zwei Kilo oder drei, was vor allem dem Mangel an Bewegung geschuldet ist. Andererseits haben Zeitmangel und Arbeitsbelastung die Sorge um Nahrungsaufnahme in den Hintergrund treten lassen, was sich wiederum vorteilhaft auf das Gewicht ausgewirkt haben könnte. Wahrscheinlich löscht ein Effekt den anderen aus, und ich behalte jenes Normalgewicht, auf das sich mein Körper schon vor etwa zehn Jahren eingependelt hat.

Im verlegenen Zuklappen des dreckigen Backrohrs: Das kannst jetzt mit dir selber ausmachen.

Die Menschensammlerin sagt: Es gibt nichts Schöneres, als zu bauen und nebenher Dinge anzuhören. (Am liebsten Augen. Und man mag sich vorstellen, wie ihre Puppenwesen im Einsetzen dieser Objekte zum Leben erwachen und ihre wundersame Theaterseele eingehaucht kriegen.)

Ober-Virologe im Podcast des Norddeutschen Rundfunks, Folge sechsundvierzig: So, das ist also diese stufenweise Effektivität, summiert sich aber auf. Das hält jetzt nicht die einzelnen Maßnahmen separat auseinander. Man kann natürlich trotzdem rechnen, wenn man das jetzt mal so ganz, fast schon pedantisch, wissen will. Jetzt teile ich mal hier am Taschenrechner 0,15 durch 0,25 – die Viola würde wahrscheinlich die Hände überm Kopf zusammenschlagen – (kichert) und kommen hier auf einen Wert von 0,6, und würde sagen, 40% Reduktion, ja. Also ich bin, das wird hier fast schon humoristisch, wie wir hier mit den Zahlen umgehen, aber dennoch: Ich finds, man soll das ruhig mal machen, ja, also jetzt reden wir mal auf diese grobe Art und Weise.
Moderatorin: Zur Veranschaulichung.
Ober-Virologe: Hoch komplizierte wissenschaftliche Arbeit.

Kostümparty in der Nervenheilanstalt. Niemand braucht eine Verkleidung, alle gehen als Verrückte, die vorgeben, normal zu sein. Erdbeerbowle und Krapfen gibt es auch.

Mein liebster Spam ist ein handgeschriebener Brief aus Uganda, den mir der Arzt-Freund weitergereicht hat. Ich glaube, ursprünglich stammt er von seiner Cousine, die ebenfalls als Ärztin arbeitet.
Das Kuvert ist beige wie scharfer Senf, das doppelt gefaltete Papier liniert mit Korrekturrand. Der Brief stammt von einer gewissen Mary. Ihr Englisch ist sauber und schlicht, ihre in blauem Kugelschreiber über die eineinhalb Seiten flitzenden Buchstaben angenehm kantig und leserlich.
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Sie sende ihre bescheidenen Grüße im mächtigen Namen von Jesus Christus. Sie danke Gott für diese Gelegenheit, mir in seinem Namen zu schreiben. Mit ihren bescheidenen Grüßen bete sie freundlich zu meiner elterlichen Liebe, sie in dieser schweren Stunde zu adoptieren. Sie sei ein Waisenkind von achtzehn Jahren und der Vormund einer Familie, bestehend aus ihren zwei kleinen Schwestern und ihrem Bruder. Die gesamte Verantwortung, für sie zu sorgen, raste auf ihren Schultern seit dem schmerzhaften Mord an ihren Eltern. Sie sei außerdem eine Schülerin an der St. Francis Nsambya Hospital Training School of Nursing & Midwifery in Kampala, Uganda. (Eine kurze Internetrecherche offenbart, dass es sich dabei um die Hauptstadt handelt.)
Die Tragödie habe begonnen mit dem Mord an ihren Eltern, als Rebellen nachts ihr Heim attackiert, sie mit Seilen gefesselt und geschlagen hätten. Die Gang habe ihre Mutter vor ihren Augen vergewaltigt und ihr ein Stück sehr scharfen Metalls in die Geschlechtsteile gerammt.
Nach dem Mord an ihren Eltern konnten sie vorerst bei ihrer alten Großmutter unterkommen, die einen Teil ihres Landes verkauft habe, um die Schulgebühr zu bezahlen und ihr den lang gehegten Wunsch zu erfüllen, eine Krankenschwester zu werden. Sie habe für das gesamte erste Jahr bezahlt, und sie habe gut gelernt, wie ich an beigelegtem Zeugnis des letzten Jahres sehen könne. (Ein solches Zeugnis liegt nicht bei, vielleicht hat es der Arzt-Freund vergessen.) Doch leider sei ihre Großmutter vor drei Monaten an einem Herzinfarkt gestorben und hinterlasse sie ohne irgendjemanden, der ihnen helfen könne in Bezug auf Essen und Schulgebühr, und seitdem sei es eine Katastrophe, mit ihren armen Geschwistern zu überleben.
*
Manchmal würden sie ohne Essen ins Bett gehen, und die Administratoren der Schule bräuchten Schulgebühren in Höhe von 960 Euro innerhalb eines Monats, andernfalls würde sie vom Unterricht suspendiert, und sie liebe ihren Kurs, den sie ein volles Jahr lang belegt habe.
Dear friend, schreibt Mary und appelliert an meine christliche Nächstenliebe: Sie habe keine Möglichkeit, die verlangte Schulgebühr aufzubringen, so gern sie auch ihren Kurs weiterführen und ihren armen Geschwistern in Zukunft helfen würde, sie seien arme, elende Waisenkinder, wer nur werde ihnen in Zukunft helfen, wenn sie daran scheitere, zu lernen?
Das sei der Grund, aus dem sie weine um meine elterliche Liebe, sie zu retten mit der erforderlichen Schulgebühr, sodass sie fortsetze, sie bitte mich sehr freundlich, den Schuldirektor zu kontaktieren mit der E-Mail-Adresse am beigelegten Zeugnis, um mehr Details über sie zu erfahren. (An dieser Stelle muss Mary leicht unkonzentriert gewesen sein, da ihr der Satzbau etwas entglitten ist.) Ich solle ihr bitte aus diesem Problem heraushelfen, sie brauche wirklich meine Hilfe, Gott werde mich reichlich dafür segnen, ihnen zu Hilfe zu kommen. Sie verbleibe meine sich in großer Qual befindliche Mary.
*
Unschlüssig drehe ich den Brief in der Hand. Was, wenn es Mary wirklich gibt?

Hätte er doch wenigstens den Anstand gehabt, mir ordentlich die Meinung zu sagen.

Sich bei den Menschen einsam fühlen wie London in England.

Das einzige, was noch mehr wehtut, als sich zu sehen, ist, sich nicht zu sehen.

Nachdem ich gestern den Mann vom Lande gemimt habe, werde ich heute zum tschechischen Käfer. Passgenaue Altnotiz: In einer israelischen Messie-Wohnung ruht der Nachlass Franz Kafkas, den dessen Vertrauter Max Brod nach und nach seiner Sekretärin schenkte. Über Umfang und Inhalt kann nur spekuliert werden. Es handelt sich um Tagebücher und Briefe, auch Prosa-Skizzen und Zeichnungen sind darunter. Angeblich ist die Wohnung von Ungeziefer befallen, es riecht nach Urin. Man stelle sich vor: Unbekannte Kafka-Schriften, ungehobene Kafka-Schätze, getränkt in Katzenpisse. Teile des Konvoluts wurden bereits in diverse Richtungen verscherbelt.
Ich stelle mir ein Kammerspiel vor, eine Familien-Groteske, die in dieser stinkenden, vom Geist des undurchschaubaren Franz durchsetzten Müllhalde ihren Lauf nimmt. Durch die Wände dringt das Flehen der Germanisten, das Restwerk des Weltschriftstellers der Menschheit nicht länger vorzuenthalten, doch es verhallt ungehört. Die Familienmitglieder sitzen auf Papierstapeln, hungrige Katzen verkommen zu ihren Schatten, sie pratzen beleidigt umher. Man wohnt der Zerstörung von etwas Unwiderbringlichem bei, und dem gekränkten Streit um Geld. Kafka hätte sich gefreut. Besser als verbrennen, sagt er zu seinem Freund Max Brod.

– Ich heirate.
– Wen denn?
– Meinen Mann.

Buchgeschäfte sind voll mit behaupteter Literatur.

Frage: Warum schreiben Sie?
Antwort: Weil es ja sonst niemand macht.

Man hat ein Recht auf seinen Schmerz.

Entrümpelung der Wirklichkeit. Zum Vorschein kommt man selbst.