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100 Mittwoch, 24.06.2020

Die Ratlosigkeit
Einhundert Tage ist es her, dass ich meine Notizen begonnen habe. Und heute ist der Tag, an dem ich sie beende. Zwei Hinweise gibt es, die mich bei Laune und in der Spur gehalten haben, zwei Aussagen von Schreibenden, die auf den Punkt bringen, worum es bei dem Narrativ ging. Wenn es schwierig war, die Zeit aufzubringen, es weiterzuführen – was nicht selten der Fall war – oder wenn sich das böse Leben dem hart in den Weg gestellt hat, dann tat es gut, diese Zitate zu lesen und sich die Sinnhaftigkeit des Versuchs in Erinnerung zu rufen, wie ich sie am ersten Tag gespürt habe. Der erste Hinweis stammt von Peter Handke aus dem Band Aber ich lebe nur von den Zwischenräumen – Ein Gespräch, geführt von Herbert Gamper. Er lautet:
Ich bin ratlos – und hab aber doch (lange Pause) eine immerwährende Anwandlung, etwas festzuhalten, und deswegen frag ich mich auch sehr oft, ob nicht die Form eines Notizbuchs – nicht eines Tagebuchs, sondern eines über die Person hinausgehenden, nur aus Betrachtungen, Beobachtungen, bezeichnenden Träumen bestehenden Notizbuchs – die bessere, epische Entsprechung wäre als jede nur durch Kampf, Warten, Geduld und auch Hoffnungslosigkeit sich zusammenfügende Erzählung.
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Es war immer ein naheliegender und zielführender Akt, einmal kurz innezuhalten, sich die Passage durchzulesen und zu überprüfen, ob sie noch jener rote Faden ist, an dem ich mich so unbeholfen entlanghangle. Mit der Zeit wurde es zum liebgewonnenen Ritual, diesen Fingerzeig – den ich mittlerweile längst auswendig hersagen kann – ganz langsam zu lesen wie zum allerersten Mal und in Gedanken abzuhaken, was davon für mich noch stimmt.
Bin ich ratlos? Ja, das war ich durchgehend und bin es weiterhin. Es ist die ebenso lebensbejahende wie produktive Ratlosigkeit, aus der etwas entsteht, was immer das sein mag.
Habe ich eine immerwährende Anwandlung, etwas festzuhalten? Ja, leider zum Glück. Ich kann es nicht ändern, was soll man machen.
Geht es über die Person hinaus? Ja, es beginnt bei der Person, die grundsätzlich der Ausgangspunkt jeder Beschäftigung sein muss, hört dort aber nicht auf. Natürlich beginnt es bei der Person, sonst haben wir ja kein anderes Instrument, der Welt zu begegnen. Dann folgt die Anstrengung, aus sich herauszutreten und sich selbst abzustreifen, um neue Dinge zu sehen oder die alten Dinge neu.
Besteht das Notizbuch aus Betrachtungen, Beobachtungen, bezeichnenden Träumen? Ja, und aus einigem mehr, nämlich aus Reportagen, Essays, Kurz- und Kürzestgeschichten, Gedichtversuchen, Szenen, Miniaturen, Fragenlisten, Monologen, Erinnerungen (wahren und falschen), Chats und Spam, Fakes und falschen Fakes, aus schiefen Bildern und zackigen Blitzen, aus Straßenzitaten, Ohrenzeugenberichten, Aufgeschnapptheiten und Aneignungen, aus Verstörungen und Produktbeschreibungen und halbgarem Philosophieren. Es besteht auch aus Tagebuchstellen, verneigt sich kokett vor der Tradition des erkenntnisfördernden Journals. Es bedient sich im vollen Blumenstrauß der Gattungen und erfindet dreist ein paar zu seinen Gunsten um.
Ist es die bessere, epische Entsprechung? Ja. Der althergebrachten Romankonstruktion sollte man längst nicht mehr trauen. Da gibt es irgendwen, der irgendetwas macht, und dabei kommt ihm irgendetwas dazwischen. Zum Beispiel verliebt sich irgendwer in irgendwen, oder es explodiert wo eine Bombe oder ein Kontostand ist leer. Im Hintergrund spinnt jemand Fäden. Irgendwelche Leute fahren irgendwo hin und reden irgendetwas. Am Ende ist es aus und war interessant. Meistens geht das gut und bekommt auch die richtige Form, manches aber verlangt nach einem Bruch und einer Öffnung. Aus Kampf, Warten, Geduld und Hoffnungslosigkeit setzt es sich deshalb ja trotzdem zusammen, auch ein Narrativ.
Große Erleichterung, dass ich jedes Mal im Geiste alle Punkte abhaken konnte. Und große Ernüchterung, den selbstauferlegten Vorgaben nie ganz zu entsprechen. Zwischen diesen beiden Polen, im Pendeln von Erleichterung zu Ernüchterung und wieder zurück, entsteht etwas, das in den besten Momenten dem nahekommt, was man sich davon verspricht.
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Der zweite Hinweis stammt von Fernando Pessoa aus Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares. Er lautet:
Die Erbärmlichkeit meiner Verfassung wird nicht geringer durch diese Worte, mit denen ich Satz um Satz das Zufallsbuch meines Nachsinnens gestalte. Nichtig bestehe ich fort auf dem Grund jedes Ausdrucks wie unlösliches Pulver auf dem Grund eines Glases, aus dem man nur Wasser getrunken hat. Ich schreibe meine Literatur wie ich Buch führe – sorgfältig und gleichgültig.
Auch das Lesen dieser Stelle wurde mit der Zeit zum schönen und wichtigen, wenn auch unbequemen Ritual. Es kann befreiend sein, sich immer wieder an die Erbärmlichkeit seiner Verfassung zu erinnern, auf die Gefahr hin, dass man zu einverstanden wird mit seinem Tun, dass man sich selbst zu ähnlich wird, sich auf den Leim geht und auf die eigenen Tricks hereinfällt. Gut auch, zu wissen, dass gesammelte und bei höchster Konzentration in eine bestimmte Reihenfolge gebrachte Wörter daran nichts ändern, wie kunstvoll oder spielerisch das auch gelingen mag.
Es ist und bleibt ein Zufallsbuch, an dem man schreibt, ein Zufallsbuch des Nachsinnens – eine Wendung, die man gleich stehlen will. Satz um Satz gestaltet man es, und nichtig besteht man fort. Dieses Glas und diesen Grund und dieses unauflösliche Pulver habe ich oft und gern geträumt. Neu war mir, dass auch jeder Ausdruck einen Grund hat. Als Hilfsbuchhalter kann ich nachvollziehen, dass man schreibt, wie man Buch führt. Es muss gleichgültig sein, um die Kräfte zu schonen, und sorgfältig, weil man Verantwortung trägt. Aus unerfindlichen Gründen musste ich bei Pessoas Zitat von Soares immer lächeln. Manchmal, in besonders verzagten Augenblicken, habe ich davon laut aufgelacht. (Ein Heteronym haben stelle ich mir sehr aufregend, aber auch anstrengend vor. Ja, sagt Bernardo, aber jetzt stell dir einmal vor, wie es sich anfühlen muss, ein Heteronym zu sein!)
Das Buch der Unruhe lag meistens irgendwo in der Gegend herum. Geblättert habe ich darin nur sporadisch, um von dem Vorsprung an Sprachfülle und Geistesgegenwart nicht noch mehr eingeschüchtert und entmutigt zu werden. Doch es war ein Ansporn, das Buch in der Nähe zu wissen. Es reichte die gutmütige Aura.
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Vor hundert Tagen lautete die eigene Prämisse, dass es sich beim Narrativ nicht um die Vorstudie zum vielgescholtenen Corona-Roman handeln würde. Dem immerhin bin ich treu geblieben und habe nicht abgeschwenkt in eine womöglich gefälligere Richtung. In der ursprünglichen Beschreibung des Projekts ist die Rede von Gedankenfetzen, Eindrücken, Bildern und dem einen oder anderen bösen Witz (geworden sind es sehr viele schlechte und ein paar wenige gute). Angekündigt wird ein wilder Ritt durch die seltsamen Zeiten. Hundert Tage später stimmt: Die Zeiten waren seltsam und der Ritt war wild. Für die nächsten hundert oder eher für die nächsten tausend Tage werden die Zeiten seltsam und der Ritt wild bleiben, mit oder ohne uns. Wir haben noch nichts überstanden, es fängt gerade erst an. Dieses Eingeständnis kommt in Wellen.

Die Erzählung
Das Narrativ war mein Versuch, dem Ereignis eine Form zu geben und einen Sinn abzutrotzen, sodass es mir nicht vor den Augen durch die Finger rinnt. Ich bin nicht der Erste und werde nicht der Letzte sein. Die Routine hat mich in der Gegenwart verankert. Es war der Versuch einer Echtzeitkunst, die keine Wegwerfkunst ist, die Suche nach einem Zeitdokument, das einen über den abgedeckten Zeitraum hinausgehenden Wert besitzt. Wie jeder gute Versuch muss er scheitern; die Frage ist, wie nachdenklich und unterhaltsam. Nicht nur das Ereignis selbst sollte beschrieben sein, sondern das, was im Kopf währenddessen davon abzweigt: Traumfetzen, Szenen, Empörung.
Diese Sache wird uns noch länger begleiten – Auslöser genauso wie Auswirkungen –, ob wir wollen oder nicht, und es wird uns nichts anderes übrigbleiben, als uns damit auseinanderzusetzen, nicht zuletzt durch künstlerische Hervorbringungen. So erst finden Geschehnisse Eingang in unsere Geschichte; was unerzählt bleibt, schwelt unsichtbar weiter bis zum nächsten vernichtenden Brand. Gerahmte Bilder flattern nicht davon. Das Ereignis selbst ist dabei austauschbar.
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Hundert Tage lang war nie Zeit, die Einträge des Vortages noch einmal anzuschauen und auf ihre Stichhaltigkeit oder Gewagtheit abzuklopfen. Jetzt, im flüchtigen und stichprobenartigen Wiederlesen einzelner Notizen fällt mir auf, dass es nie um irgendeinen Virus ging. Das trifft mich wie der Hammer in den Tanz. Ich kann gar nicht anders, als ungläubig zu lachen. Es ist niemals um irgendeinen neuartigen Virus gegangen, auch nicht um eine Quarantäne oder irgendwelche Masken. Es ist nur um das Leben gegangen, mein eigenes und jenes der Menschen. Die üblichen Kleinigkeiten eben. Der Virus war nichts als ein billiger Vorwand, um von ganz anderen Dingen zu erzählen. Von Freunden und Nächten und Straßen, von Freiheit und Politik. Von Schreiben und Lesen und Musik. Vom Gang ins Büro, von der Katastrophe und ihrem Ausbleiben. Von Prozessen und Strukturen. Unerbittliche Begriffe kommen vor – die finden sich auch in ganz anderen Bereichen. Es geht um Richtung und Form, um Fakten und Fiktionen. Ich dachte immer, es geht um eine Krankheit und wie wir uns dazu verhalten. Dabei geht es darum, wie wir uns überhaupt zu allem verhalten. Im Wiederlesen der Notizen wird mir klar, wie einfach alles ist. Eigentlich geht es nur darum, in der Stadt zu leben und Dinge zu tun. Jemand hat sich einen Scherz mit mir erlaubt.
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Ich bin hundert Tage gescheiter und hundert Tage blöder. Hundert Tage einverstandener mit allem und hundert Tage weniger bereit, Kompromisse zu machen. Hundert Tage enttäuschter von den Regierenden und hundert Tage beeindruckter von Entscheidungsprozessen. Ich bin hundert Tage anders und hundert Tage genau gleich. Wahrscheinlich bin ich hundert Tage und zwei Kilo schwerer. Auf jeden Fall bin ich hundert Tage älter. Jetzt – und erst jetzt – gibt es mich.
Ich weiß nicht, warum ich es getan habe, außer, dass es noch weniger Sinn gehabt hätte, es sein zu lassen. Vielleicht hätte es keinen Unterschied gemacht. Wahrscheinlich ist es egal. Wir alle wären gern mehr, als wir sind, und wollen mehr, als wir haben. Von weiter weg betrachtet wird es nicht der Rede wert gewesen sein. Das Schöne an Tatsachen ist immerhin, dass sie existieren. Es sind neue Zeiten angebrochen. Die seltsamen Zeiten. So war der Frühling nicht gedacht. Den Sommer werde ich damit verbringen, schwach zu sein und Bücher zu verschlingen.
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Blättern in Notizen. Was ich lese, hat ein anderer geschrieben. Am Ende kann ich nur feststellen, dass ein Mensch meines Namens sich Fragen gestellt hat. Er hat betrachtet, beschrieben, bezeichnend geträumt. Er ist nachts zum Einkaufszentrum gegangen und hat einen Streit mitangehört. Er hat Nachrichten geschaut. Er hat sich über Zahlen aufgeregt. Er hat Angst gehabt. Wer soll das gewesen sein? Er hat Kuchen gegessen und Gespräche geführt. Hat es satt gemacht? Er ist in der Stadt geblieben und hat eine Weltreise gemacht. Wer hat ihm das Recht gegeben, all das in meinem Namen zu tun?
Er hat gesagt, was er gesehen hat, und geschrieben, was er gedacht hat, und geglaubt, was er gewusst hat. Und hat er auch gesucht, was er gefunden hat? Er hat Pizza gebacken. Und so, im Wechsel der Person, geschieht das eigentliche Erzählen. Da gibt es wen, der etwas macht, und dabei kommt ihm etwas dazwischen. Und ob es ein Virus ist oder ein anderes Ereignis, spielt zwar eine Rolle, aber nicht die einzige. Dem sollte man trauen. Ein Nachsinnen, ein Zufallsbuch, eine Öffnung, ein Bruch – ein Erzählen. So kommt es zum Versuch einer Geschichte. Ein Mensch meines Namens wird behaupten, Sätze geschrieben zu haben. Wer kann sagen, ob es stimmt?

Die Erlösung
Es gibt keine Erlösung. Für mich nicht, und für niemanden sonst. Es gibt nur die Tage, an denen wir das vergessen. Zeit ist eine Richtung ohne Ort. Wir wachen auf und bleiben, wo wir sind, oder gehen hinaus. Wir schauen uns etwas an und hören zu. Wir treffen Leute oder bleiben allein. Es gibt nur ganz wenige Menschen, mit denen wir unsere Zeit verbringen wollen. Drei oder fünf oder neun. Wir sind ganz ruhig. So ruhig waren wir schon lange nicht mehr, und zwar nie. Wir haben etwas gemacht, aber genauso gut hätten wir es sein lassen können. Wer spricht da? Ich oder er oder wir. Wenn man ganz ruhig dasitzt und lange genug wartet, wird man sich irgendwann beim Denken zuhören. Und wenn das Fenster offen ist, fliegt irgendetwas herein. Ratlos blickt man auf. Es gibt keine Erlösung. Es gibt aber auch nichts mehr, von dem man erlöst werden muss.

Gerade war da ein Gedanke.
Jetzt ist er weg.

Und manchmal befinden wir uns beinahe im Epizentrum des Lebens.