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91 Montag, 15.06.2020

Satzbau überbewertet ist. (Baby Yoda gewidmet.)

Im Hessischen Rundfunk geht es um den Unterschied zwischen einer Schamgesellschaft und einer Schuldgesellschaft. Ich halte ihn für sehr klein und verstehe ihn nicht gut genug für eine Erklärung. Auf dem Weg ins Büro denke ich darüber nach. Vielleicht ist auch das ein Mitgrund, dass ich beim Betreten des Supermarkts gedankenlos die Musiknotenmaske aufsetze, obwohl doch gerade heute Lockerungen bei der Maskenpflicht in Kraft treten und sie in Geschäften, mit Ausnahme von Apotheken, aufgehoben ist. Erst als ich wieder hinausgehe, fällt mir das ein.
Ich habe die Verhaltensweise so sehr verinnerlicht, sie ist so automatisch geworden, dass ich sie wieder gezielt verlernen muss. Die englische Wendung get it out of my system passt am besten, leider hat sie keine direkte Entsprechung im Deutschen. Es wird ein bisschen dauern, bis wir uns all das, was wir sollen oder müssen, wieder abgewöhnt haben. Ich nehme die Maske ab, schäme mich für meine feuchte Oberlippe und die beschlagenen Brillengläser, die ich mir hätte ersparen können. Das mit der Scham klappt immerhin schon recht gut.

Montäglicher Büro-Spam von aileen999:
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Meine Versorgung mit rostfreien Stahlrohren scheint damit gesichert zu sein.

Übers verlängerte Wochenende betreibt der Kaffeefilter eine lukrative Schimmelzucht.

Ich erinnere mich, gegen Anfang der seltsamen Zeiten gefragt worden zu sein, etwas darüber zu schreiben, wie viel Ort Kultur brauche. Abgedruckt wurde es im Programmfolder eines Kulturzentrums, des altvertrauten Wiener Werkstätten- und Kulturhauses, dessen Veranstaltungskalender für Monate wie leergefegt sein würde, was sich schmerzlich bewahrheiten sollte. Ich schrieb, vor Kurzem sei das erste Album meines Musikprojekts Moll erschienen. Es heiße schlicht und einfach Musik und sei jetzt in der Welt, man könne es hören auf den diversen Plattformen, hin und wieder laufe der eine oder andere Song sogar im Radio. Auch erwerben könne man es, in digitaler und physischer Form. Trotzdem fühle sich dieser Release seltsam unabgeschlossen an, bleibe da ein gewisses Gefühl der Leere – denn Konzerte spielen würden ich und meine Mitmusiker derzeit nicht können. Und wie schön wäre es jetzt, dafür irgendjemandem die Schuld geben zu können. Selbst das falle ins Wasser, denn auch wir fühlten uns dem Grundkonsens von Maßnahmen verpflichtet, die wissenschaftlich fundiert seien, solange sie in ihrer zeitlichen Dimension und Konsequenz nicht übers Ziel hinausschießen würden – wobei wir alle die Vorgänge kritisch und in wachem Ernst begleiten sollten.
Wie bei so vielen – eigentlich bei allen – Künstlern sei auch bei uns das Musizieren und die Begegnung mit den Hörern völlig in den virtuellen Raum abgewandert. Als Alternative zum geplanten Release-Konzert hätte ich allein ein Wohnzimmer-Konzert über Livestream am Label-Kanal gespielt. Manches sei gewesen wie sonst auch: Die nervöse Vorfreude, das Kribbeln im Bauch, das Bereitlegen der Utensilien (Setlist, Kapodaster und ausreichend Plektren, falls eines aus der Hand falle.) Doch hätte ich mich nicht an einem besonderen, feierlichen und vor allem gemeinschaftlichen Ort befunden. Wie in einer finsteren Dystopie sei ich allein auf meinem Wohnzimmersessel gehockt, hätte nervös an meinem Bier genippt und auf der Gitarre ein paar Songs in Kamera und Mikrophon des Laptops gespielt – hinein ins Schweigen des Raums.
*
Das Konzert sei weniger seltsam gewesen als befürchtet. Nach einiger Zeit habe sich eine gewisse Gelassenheit eingestellt, ich hätte mich entspannt und Lust bekommen, zwischen den Songs ein bisschen zu plaudern. Das Mitlesen des Live-Chats während des Spielens habe mich überfordert, erst später hätte ich es nachgelesen. Und schön sei es gewesen, zu sehen, dass sich so mancher Zugeschaltete ehrlich bedankt habe für diese kleine Abwechslung. Von manchen sei sogar etwas gespendet, also auf eine gewisse Weise Eintritt bezahlt worden. Alles im Kontext, das hier als eine Art Appetizer fürs eigentliche Konzert zu genießen, das man sich möglichst bald wünsche. Im Nachhinein sei zwischen mir und den Menschen so etwas wie eine Wärme zu spüren gewesen, wenn auch seltsam gedämpft und fern. Livestreams würden nur eine Notlösung sein, die seltene Ausnahme, die eine Regel bestätige.
Ich schrieb, das Virtuelle strebe in die Wirklichkeit. Als Menschen suchten wir das Menschliche – die echte Begegnung, den echten Blick, die echte Berührung. Weniger sei auf Dauer nicht genug. Für Theaterschaffende und Performer würden unsere seltsamen Zeiten gerade besonders schwer sein; in jeder Hinsicht, finanziell genauso wie persönlich, denn das Publikum könne nur sporadisch und durch den Filter des Digitalen erreicht werden. Als Musiker laufe die Arbeit immerhin auf zwei Ebenen ab, beide hätten ihren Platz und ihren Wert. Einerseits das Aufnehmen, die Produktion, das Herumtragen der Musik. Andererseits das Konzert – im besten Fall umgeben von einer Vielzahl an Gleichgesinnten, mit denen man das Erlebnis teilen könne. Das Live-Erlebnis sei der Ort, an dem alles zusammenkomme, an dem alles kulminiere. Hier finde Kunst, hier fänden wir als denkende und fühlende Wesen statt.
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Danach, wenn sich der Staub bald gelegt haben werde – früher als befürchtet, aber später als erhofft – würde ich dann wirklich niemanden etwas sagen hören wollen wie:Naja, so viele Bühnen und Locations und Veranstalter brauchen wir eh nicht, man hat ja gesehen, dass das meiste auch im Internet ganz gut funktioniert. Dem würde ich mich mit aller Vehemenz entgegenstellen, und jeden und jede dazu einladen, dasselbe zu tun. All diese Notlösungen im Netz seien ein Trostpflaster, um den Zeitraum bis zu echten Konzerten, Theaterstücken und Performances zu überbrücken. Und sie seien eine Anstrengung, nicht zuletzt in organisatorischer und technischer Hinsicht, bedeuteten eine Mehrarbeit, die nicht selbstverständlich und nicht jedem möglich sei.
Eine Art Gesundschrumpfen in diesem Bereich brauche es nun wirklich nicht, im Gegenteil – gerade offene Orte der friedlichen Begegnung mit einem anspruchsvollen Programm, das herausfordere und kritisches Denken fördere, seien neben integrer Justiz, professionellem Journalismus und kritischer Öffentlichkeit die Grundlage für eine funktionierende Demokratie, die diesen Namen auch verdiene. Sie dienten der geistigen, psychischen – und damit eben auch der physischen – Gesundheit. Sie stifteten jenen Zusammenhalt, den wir gerade in Zeiten wie diesen so dringend brauchten und zurecht stolz hervorheben würden. Die vielbeschworene neue Normalität werde für mich – und viele andere – darin bestehen, die Möglichkeiten des Kulturlebens neu wertzuschätzen und auf ihrem Wiederaufblühen zu beharren. Wenn überhaupt, schrieb ich, dann bräuchten wir mehr dieser Orte.
Wir alle hätten Hunger auf Kunst: auf Konzerte, Lesungen, Theater, Kino, Museum. Die Künstler scharrten bereits in den Startlöchern, und die Besucher würden sich die Hände reiben in freudiger Erwartung. Auch meine Band und ich, wir fieberten schon dem Tag entgegen, da die Türen geöffnet würden und wir in verdunkelte Räume strömen dürften, um den Leuten unsere Musik vorzuspielen, und jener der anderen zu lauschen. Ich glaube, schrieb ich, das werden die schönsten Konzerte unseres Lebens – für uns genauso wie für unsere neuen virtuellen Freunde.
(Allzu viel hat sich seither nicht geändert. Veranstaltungen sind nur teilweise und unter sehr strengen Auflagen möglich. Freiluftkonzerte scheinen die Lösung zu sein. Es gibt Ideen. Noch scharren wir.)

Seitdem der Bankraub verjährt ist, schlafe ich viel besser.

Am Ende meines Lebens werde ich niemals einen Marathon gelaufen sein.