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89 Samstag, 13.06.2020

Richtung und Form
Alles braucht seine Form. Jeder Inhalt findet überhaupt erst zu sich selbst, wenn er die ihm entsprechende Einhegung bekommt. Formen, die man sich erschließt, sind immer auch den konkreten Lebensumständen geschuldet, Schlaflosigkeit und Konzentrationsschwierigkeiten streben zu jenen für kürzere Aufmerksamkeitsspannen. (In der Krise ist für alle Platz.) Ohne Gefäß, in das der Erzählstrom gelenkt wird, stochert er im Leeren und versiegt ohne Sinn. Alles braucht seine Richtung. Die Anstrengung verliert ihren Zweck, wenn nicht klar ist, wohin sie führt. Alles hat seine Zeit.
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Das Narrativ strebt zu auf seine Form als in sich geschlossene Einheit. Das Formfinden als Übersetzung von Prozess in Struktur – So wird die Idee zur Sache, der Gedanke zum Ding. Die Hoffnung, das Narrativ dieser endgültigen, unwidersprochenen Form zuzuführen, ist der einzige Antrieb, es aufrechtzuerhalten, und der einzige Zustand, in dem sich daran weitererzählen lässt. Geht der Formglaube verloren, beginnt ein richtungsloses Taumeln ins Offene.
Im Möglichkeitsraum ist alles denkbar, aber nichts gedacht. So gibt es keine größere Angst, als zu schwach zu sein, dem Narrativ die ihm zustehende Vollendung zu schenken. Ich bereite mich vor auf schlaflose Nächte und richte mir eine schützende Deckenburg ein. So spaltet sich das Leben ab in ein gelebtes und ein ungelebtes, beide sind für sich genommen zu wenig.

Das meiste ist sinnlos. Und was es noch nicht ist, das kann es ja noch werden.

Fakten und Fiktionen
Das Leben ist banal. Es besteht aus Haushaltsversicherungen, Ablaufdaten und vergessenen Handykabeln; aus Nahrungsmittelunverträglichkeiten, Öffnungszeiten und Spam – schön banal. Es besteht aber auch aus Zuneigung, Güte und Herzlichkeit; aus Wissensdurst, Nachsicht und Reisen. Liebe ist, sich für einen anderen mutig in die unendlichen Weiten des Kundenservice zu stürzen. (Es sind schon Leute in Hotlines verhungert.) Nicht banal ist, davon zu erzählen.
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Manche verwechseln das Notizbuch mit einem Tagebuch. Auch ich selbst. Dabei gibt es einen grundlegenden Unterschied: Ein Tagebuch wird geführt, ein Notizbuch befüllt – wenn auch täglich. Ein ungeordnetes Sammelsurium muss es dadurch nicht werden, im Gegenteil, oft folgt es einem groben Plan, folgt es einer inneren Logik mit Bezügen und Verzweigungen, die sich gekonnt ineinander verästeln. Dass es subtil geschieht und sein Geheimnis behält, ist Teil des Plans. Wer durch etwas hindurchgeht, erkennt von so nah kaum, ob es sich um einen großen Bogen handelt.
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Corona als Meister der Dramaturgie. Einschläge der Krise passieren zeitlich versetzt. Der Virus zeigt nach China oder Norditalien und sagt, wie es weitergehen könnte. Dann zeigt er nach Großbritannien oder Brasilien und sagt, wie es hätte sein können. Dann zeigt er, wie es war, und sagt, wie es wird.
Das Narrativ ist kein Tagebuch über die seltsamen Zeiten, sondern ein Notizbuch während der seltsamen Zeiten. Es bildet das Entstehende ab, dokumentiert ein Miterleben der Krise, zählt sie bewusst nicht faktenweise auf. Deshalb finden virusfremde, keimfreie Passagen darin Eingang: weil sie entstehen im Verlauf als Zweitgeschehen im Inneren des Erlebenden. Skizzen und Geschichten blitzen finden statt – Betrachtungen, Beobachtungen, bezeichnende Träume. Erst mit Haupt- und Nebenschauplatz sind die Dinge auserzählt, wenn auch nur in der Möglichkeitsform. Zu mehr fehlt die Kraft. Auch schlaflose Nächte gehen vorbei.

Der Wahrheit zum Trotz erzählte ich weiter.

Sich im Bellen eines Hundes zu Hause fühlen.

Unerbittlicher Begriff: Kreuzreaktivität

Der Ober-Virologe sagt, Tränen seien die sauberste Körperflüssigkeit, wasserklar und ganz gut zu verarbeiten. Auch Wissenschaftler haben eine romantische Ader.

Unerbittlicher Begriff: Rezeptorbindungsdomäne

Hitzebrütende Kleingartennotiz: Geht man unvernünftigerweise barfuß durch den Klee, um in der Hängematte zu lesen, und transportiert man dabei eine Kaffeetasse mit bedrohlich schwappendem Inhalt, und ist man schon beinah am Ziel ohne auch nur einen Tropfen verschüttet zu haben, und ist man so stolz auf sich, dass man sich am liebsten selbst auf die Schulter klopfen möchte, hätte man nur eine dritte Hand, und ist man schon im Begriff, sich genüsslich hinzusetzen und einzuschaukeln und in Lesestimmung zu bringen, und macht man dann einen falschen Schritt und jault auf und lässt vor Schreck die Tasse fallen, und presst man sich kurz darauf eine halbe Zwiebel auf die Fußsohle, die schwillt und juckt und pocht, und verflucht man zwar in erster Linie sich selbst und sein achtloses Durch-den-Klee-Spazieren, und fragt man sich, ob man allergisch ist, da der Fuß so außerirdisch groß wird, etwas Rotes mit platzpraller Haut, und streichelt man sich unter wütenden Tränen den Schmerz aus dem Fuß, dann – und vielleicht nur dann – erscheint das heraufbeschworene Bienensterben seltsam verlockend.
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Beim Lesen in der Hängematte landet ein zittriger Schmetterling auf meinem abgewinkelten Knie, er ist filigran wie Seidenpapier und leichter als Luft. Das adelt mich, denke ich, aber du irrst dich.

Ein Ordner mit Textentwürfen befindet sich auf meinem Desktop direkt neben dem Papierkorb. Selbstbewusst klicke ich den Ordner an, halte die Maustaste gedrückt, und verschiebe ihn ein paar Kacheln nach rechts. Oder ist das allzu optimistisch?

Umgekehrte Kleptomanie: Zwanghaft Wertgegenstände bei anderen zurücklassen.

Neulich bin ich in einem Sarg aufgewacht. (Ich bin schon so oft gestorben, dass es mich nicht mehr erschüttern kann.)

An Actionfilmen ist spannend, wie der Held nicht stirbt.

Bei Feindkontakt im Computerspiel kommt die gemeine Musik. (Die Redakteure der Computerspielzeitschrift müssen Spaß haben. Es ist ihr Beruf.)

Nach einiger Zeit geschah eine Rückkehr in den Normalschmerz, an den ich mich bereits gewöhnt, mit dem ich mich bereits angefreundet gehabt hatte. Er nahm Platz, der Sessel war noch warm.

Es gibt Literatur, die ohne Empathie auskommt – oder jedenfalls meint, ohne sie auskommen zu müssen, aus Sorge, andernfalls nicht erwachsen genug zu wirken. Es gibt empathische Literatur, die deshalb keineswegs kindisch oder naiv ausfällt, sondern bloß achtsam mitberücksichtigt, dass die Menschen besser sein könnten, als sie sind. Es gibt das Beschauliche und Betuliche, dem man misstrauen darf, nicht bloß in der Literatur. Es gibt einschläfernde, völlig zerdachte Germanistenprosa, der man ihre Gemachtheit ansieht. Es gibt die Buchwerdung einer Gedankenlandschaft. Zu einem Freund über ein Buch: Die Sprache macht vieles auf einmal, aber nichts ganz. Jemandes Idee ist ermüdend originell.

Ich bin derjenige, der nachts die Bremskabel von Fahrrädern durchschneidet. Im Namen der Allianz zur Durchsetzung von Fußgänger-Interessen. Die Zange ist ganz leicht und es zwackt immer so schön. Ein Geräusch wie Schwimmen ohne Haut.

Einmal, sagte einer, sei er Frosch gewesen. Doch dann sei – mit einer Plötzlichkeit! – aus dem launigen Frosch-Sein ein trauriges Frosch-gewesen-Sein geworden. Leider. Warum leider? Weil es schön gewesen sei als Frosch, und grün.

Damals, als alles möglich war. Weißt du noch?