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88 Freitag, 12.06.2020

Kaum steht ein Mensch mit Gehbehinderung neben mir an der Ampel, gleich fühle ich mich für ihn zuständig. (Wie schrecklich zuständig man sich oft für andere fühlt; anders als verantwortlich.)

Bei einem Essen mit Freunden geht eine Frage reihum, und zwar jene, weshalb zwei zusammen sind, die ich nur vom Hörensagen kenne. Es sei nicht zu verstehen, heißt es, denn er sei ein richtiger Hallodri, der nicht viel auf die Reihe kriege, sich eher treiben lasse, sie wiederum sei ehrgeizig und ganz solide unterwegs, mit konkreten Zielen, die sie energisch verfolge. Im Freundeskreis herrscht tiefe Ratlosigkeit, was ein solcher Erfolgsmensch mit einem solchen Minderleister anzufangen wisse, mittlerweile löse diese unverständliche Paarung bereits Misstrauen und Argwohn aus. Irgendetwas ist da faul. Auch ich habe dazu keine zündende Idee. Betreten nehmen wir Schlucke. Plötzlich merkt einer auf: Vielleicht so etwas wie Liebe? Der Kreis ist überfragt, davon hat noch nie wer gehört.

Jemand hält sich an seinen Haaren fest. (Wieso nicht am Kaffeehäferl?)

Trauma und Traum
Der Virus ist aus unserem Bewusstsein verschwunden. Man merkt es auch daran, dass beim Onlineauftritt des Österreichischen Rundfunks die eigens geschaffenen Kategorien COV AUSLAND und COV INLAND nicht mehr an oberster Stelle angesiedelt sind. Stillschweigend wurden sie unter die allgemeine Berichterstattung zu AUSLAND und INLAND gerückt. Andere Medienthemen treten in den Vordergrund: Die Bürgerrechtsproteste in den Vereinigten Staaten mit weltweiten Solidaritätsbekundungen, hierzulande ein Untersuchungsausschuss zu einem Polit-Skandal mit falscher Oligarchennichte und Korruptionsbereitschaft und versteckter Kamera und vermeintlicher Kokslinie am Villentisch.
Der Virus ist in den Hintergrund getreten, bleibt jedoch präsent und trägt zur allgemeinen Schwerkraft bei. Er bleibt im Hinterkopf und macht die Herzen träge. Wir sind vorerst glimpflich davongekommen und lernen jetzt, die Vorgänge als dauerhaften Störfaktor in unser Alltagsleben zu integrieren. Mit den Nachwehen dieser ersten überstandenen Welle werden wir lange beschäftigt sein, und anderswo sind die Zahlen noch längst nicht am Sinken, im Gegenteil. In manchen Weltgegenden ist man noch mitten im Ereigniskern. Für uns ist der Virus verflogen, herausgetrocknet aus den Straßen wie an einem Sommertag der Regen einer Nacht. Langer Ausklang eines langen Traums.
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Wir alle haben diesen inneren Zyniker in uns, der sich fragt: War es das wert? Wofür diese Entbehrungen auf sich nehmen? Noch dazu für lange Zeit. Für Alte, Schwache, Kranke? Er fragt: Wenn jemand den Corona-Stempel trägt, wird er dann ausführlicher und verbissener behandelt, als trüge er ihn nicht? Hätte eine Neunzigjährige (neben weiteren Grundleiden) eine andere Infektionskrankheit – zum Beispiel eine saisonale Ausprägung der herkömmlichen Influenza –, würden die Spitalsärzte dann zu einem früheren Zeitpunkt sagen, dass es reicht, und sie ziehen lassen? Er fragt: Ist es immer auch darum gegangen, keinen weiteren Fall in der Statistik zu haben, musste jeder einzelne Verstorbene um jeden Preis verhindert werden, sodass er nicht in die Tabelle sickerte? Die Frage lautet: Sind sterbensbereite Corona-Patienten totbehandelt worden?
Der innere Zyniker sagt: Es wurde zu viel. Alles war zu viel und zu schnell, zu alles und zu jetzt, zu Flugreisen und zu Warenverkehr, zu Umweltverschmutzung und zu Konsum, zu Ausbeutung und zu Arbeitsbelastung. Er sagt: Das Immunsystem des Planeten hat angeschlagen, die Globalisierung ist mit ihren eigenen Mitteln in die Sackgasse gekracht (zusammengepfercht auf einem Kreuzfahrtschiff). Der innere Zyniker sagt: Wir kehren zu schnell zurück in altbekannte Muster, der Schrecken war zu klein, wir haben zu wenig aus all dem gelernt. Er sagt: Wir haben nichts verstanden. Die Antwort lautet: Es ist zynisch, das zu fragen.

Bevor ihr unglücklich wurdet, habt ihr so glücklich gewirkt.

Die Ninfenmacherin
Die Ninfenmacherin stellt in ihrer Werkstatt Ninfen her. Rundum hält man sie für eine Hexe. Sie ist hässlich und riecht nach zerkochtem Gemüse. Die Nachbarskinder sind eingeschüchtert; sie verwenden Auszählreime, um festzulegen, wer den Ball holen muss, wenn er übern Zaun geht und auf ihrem Grundstück landet. Die Ninfenmacherin haust in einem zerbröselnden Anwesen mit verwunschenem Garten, wie es sie nur auf alten Fotos gibt. Ihre Existenz ist etwas Gewachsenes, ebenso das behagliche Chaos in ihrer Werkstatt.
Die Ninfenherstellung ist ein schwieriges Geschäft, verwendetete Materialien kommen von weit her. Eines Tages wird eine besondere Arbeit fertiggestellt. Die Frau schließt eine letzte Naht und sticht sich mit der Nadel in den Finger, dass Blut kommt. So etwas ist schon lang nicht mehr passiert. Es ist ein Zeichen für etwas.
Nachts erwacht die neue Ninfe zum Leben. Sie mogelt sich ins Bett ihrer Erschafferin, denn ihr ist bitterkalt. Die Ninfe darf unter die Decke schlüpfen. Von nun an finden Nachtgespräche statt, die sehr ins Dunkle gehen.
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Die Ninfenmacherin weist ihre neue Gefährtin in den Haushalt ein, sie erklärt ihr detailreich die Funktionsweisen der unterschiedlichen Werkzeuge, predigt das Aufgehobensein in sinnstiftender Tätigkeit. Eines Tages, mahnt die Frau, werde die Ninfe wiederum selbst eine Ninfe bauen, die womöglich ebenfalls zum Leben erwache – es frage sich nur, woher das Blut kommen solle, das für einen solchen Zauber notwendig scheint. Die Ninfe erbebt in freudiger Erwartung. Was zwischen ihnen unter der Bettdecke geschieht, soll hier nur angedeutet werden. (Die Ninfe verfügt über keinerlei äußere Geschlechtsmerkmale, sie ist ein neutrales Etwas.)
Vor Besuchern muss die Ninfe sich totstellen, viele sind es ohnehin nicht, dann und wann ein Kunde, der eine Auftragsarbeit abholt. Öffnet sich bimmelnd die Tür, fällt die Ninfe hart ins sich zusammen. Niemand darf erfahren, was es mit ihr auf sich hat. Manchmal denkt die Ninfenmacherin, dass sie über die Erweckung weniger überrascht war, als sie hätte sein sollen. Ärgert sie sich über das magische Geschöpf, dann erfindet sie Wege, es subtil zu quälen.
Einmal lädt die Ninfenmacherin einen zwielichtigen Freund ein, mit dem sie sich am Werkstattboden vereinigt. Die Ninfe sieht aus tot starrenden Augen zu, darf sich nicht rühren, obwohl sie innerlich zerspringt vor heißem Hass. Der Freund findet die Gegenwart der Ninfe im Raum anfangs befremdlich und schlägt vor, eine Jacke darüber zu werfen, doch seine Gespielin verbietet es ihm. Das lässt du schön bleiben, sagt sie, wie soll denn Luft bekommen? Der Freund wird aus all dem nicht schlau, doch es pocht bereits in ihm vor dickem Blut. Er richtet sich so aus, dass er den Ninfenblick im Rücken weiß, was ihn anspornt zu einer gewagten Verrenkung. Nachdem alles vorbei ist, gesteht er lachend ein, das böse Starren der Ninfe habe ihn sogar ausdauernder und fordernder gemacht. Die Frau grinst fies, in diesen Momenten ist sie sehr eine Hexe.
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Die Ninfe möchte einen Namen. Auf diesen Wunsch reagiert die Frau sehr ausweichend. Als die Ninfe nicht lockerlässt, erzählt die Frau ihr die Geschichte von Pinocchio, und schlägt sofort diesen Namen vor. Die Ninfe würde jedoch gern Geppetto heißen, wovon die Frau nichts hält. So verbleiben sie. Namenlos schleppt sich die Ninfe durch den Herbst.
Sie ist einsam und möchte einen gleichwertigen Gefährten. Die Ninfenmacherin erklärt sich bereit, ihr zu helfen, einen solchen zu fertigen. Es gelingt beim ersten Versuch. Der Blutstropfen stammt von der Frau, er haucht der gemeinschaftlichen Bastelei Leben ein. Nachts hört man es klackern in der Werkstatt – es ist das hölzerne Liebemachen der Ninfen. Sie schnitzen und hobeln und züchten sich Nachwuchs. Das Schicksal der Frau ist besiegelt. Sie werden mich töten, denkt sie zitternd unter der Decke, mich aufschlitzen mit einem Teppichmesser. Die Ninfenmacherin rechnet fest damit, im besten Fall von ihrem eigenen Grund vertrieben zu werden.
Doch es kommst anders: Die Ninfenfamilie bietet ihr an, weiterhin im Haus zu wohnen, dafür solle sie den neuen Eigentümern zu Diensten sein. Die Frau stimmt zu. Von nun an wird sie den Ninfen gehorchen. Vorerst, sagt das Oberhaupt der Ninfen, darfst du bleiben. Dieses vorerst ist der schmerzlichste Verrat. Du darfst uns zur Hand gehen, sagen die Ninfen, uns unterstützen. Plötzlich darf die Frau ganz viel. Sie fügt sich dem Willen. Aufträge werden keine mehr angenommen, um Besuche auszuschließen. Fliegt ein Ball über den Zaun, jagt man die Frau hinaus, eine biestige Hexe zu geben. Die Kinder schlägt ihr Auftritt in die Flucht.
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Vielleicht darf die Ninfenmacherin das Haus anzünden, ein Streichholz genügt. Alles soll brennen, die Werkstatt samt Werkzeugen, der ganze grobe Plunder. Phantasie wird Wirklichkeit. Sie steht vor ihrer lodernden Rache. Aus dem Inneren des Gebäudes vernimmt man das Wehklagen der Holzkinder. Die Frau steht in der Nacht wie für immer. Ein herbeigeeilter Nachbar wirft eine Decke über sie. Ihm fällt ihr Grinsen auf, in dem ein tiefsitzender Wahnsinn liegt, und er rückt von ihr ab.
Die Ninfenmacherin hört es klacken aus dem angrenzenden Wald – Teile der Ninfenfamilie sind auf der Flucht. Auch ihr Geppetto? Es ist jetzt für alles zu spät. Man legt ihr Handschellen an, sie wird abgeführt. Die Nachbarsdecke landet im Dreck. Kinder stehen am Zaun und dichten einen neuen Hexenreim mit Weisheiten über gefährliche Feuer.

Kaum ist es heiß, riecht jedes Wasser nach Meer.

Neuerdings bin ich Zeitreisender. Mit einer Geschwindigkeit von sechzig Sekunden pro Minute oder umgerechnet sechzig Minuten pro Stunde bewege ich mich in die Zukunft. Langsam, aber gründlich. Schritt. Für. Schritt.

Lektorin Merle erzählt von Kindheitspferden: Die Pferde waren Haflingerdamen und hießen Dawina (die Bucklerin mit Ehrgeiz) und Cirrus (das schöne faule Aas).
Ich selbst bin lieber ein Buckler als schön faul oder nach einer Wolke benannt. Dawina musste den Pflug ziehen. Je tiefer er sich ins Erdreich grub, und je schwerer die Arbeit wurde, desto mehr strengte sie sich an, zog immer fester und fester, womit sie die Pflugspitze wohl nur noch tiefer hineintrieb. Wir sind Dawina.
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Im Herbst erscheint ein Gedichtband namens Planeten. Der Abschnitt Im Stadtparkbüro enthält ein Stadtparkgedicht, in dem ein abraxashafter Rabe vorkommt. Aufs Cover des Bandes soll sich ein entsprechender Vogel verirren, ob Krähe oder Rabe ist mir egal – wer kennt den Unterschied? Auch Rabenkrähen gibt es, was mir nicht bewusst war. Ich klopfe alles in die Suchmaschine und lerne etwas dazu. Nach Rückfrage lautet meine professionelle Angabe für die Illustratorin: Ein Vogel halt. Das Ergebnis kann sich sehen lassen.

Die Lektorin ist eine Übersetzerin gleicher Sprache, die den Text ins Bessere übersetzt.

Ein dicht bevölkerter Spielplatz mit unerschrocken erklettertem Ritterburgturm. Dazu die Erwachsenen als stützender Blick. Das Leben lebt. Niemand kennt ein böses Wort oder freundet sich an. Einer gibt nebenbei auf den anderen Acht. Eltern als wohlgesinnte Fremde: So geht Frieden.