Heute ist Fronleichnam: Frohen Leichnam allerseits!
In der Trafik sagt jemand: Dreimal Feuer. Das weckt einen Ur-Instinkt. (Der Bindestrich verhindert das Herbeilesen eines missverständlichen Urin-Stinkt.)
Beobachtet man eine verhutzelt sich über die Straße duckende Greisin, korrigiert man unwillkürlich seine Haltung und richtet sich zu voller Körpergröße auf.
Konzertnotiz aus der Normalzeit: Die beiläufige Gewissenhaftigkeit des Kontrabassisten. Sein Bogen lugt bereit aus dem Köcher, ist sicher in Griffweite verstaut und kann wie zum Duell mit dem Song gezückt werden. Man sieht den Fingern ihre Hornhaut an und beobachtet zufrieden jeden Slap.
Man beginnt etwas zu pfeifen. Jemand steigt ungefragt mit ein und pfeift einem die Melodie weg.
Auf dem Weg ins Büro hört man es rascheln und rumpeln. Ein Paketbote steht im Laderaum seines Kleintransporters. Er nimmt einzelne Packerl und wirft sie auf die Straße, wahrscheinlich, um sie für die Zustellung herzurichten. Dabei geht er mit großer Unbekümmertheit an den Tag. Ich sehe ihm eine Zeitlang zu. Bei jedem Packerl, das auf den Asphalt kracht, schmerzt man leicht mit.
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Mitschmerzen auch, als jemandem am Bahnsteig das Handy aus der Hand rutscht und hinunterfällt. Wir kennen dieses Geräusch nur zu gut und wissen sofort, um welchen Gegenstand es sich handelt. (Auch bei Münzen ist es so, reflexhaft drehen wir uns danach um und grasen den Umgebungsboden ab.) Der unverkennbare Sound eines herunterfallenden Smartphones gehört zum Kinosaal wie Popcornknuspern oder Schnarchen.
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Vor Wochen, gegen Anfang der seltsamen Zeiten, ist mir mein Handy einmal zu oft auf den Boden gefallen. Beim morgendlichen Weckergriff rutschte es vom Nachtkästchen und landete hart neben dem Teppich. Der Bildschirm war kaputt und ließ sich zu keiner Reaktion mehr bewegen. Schweißausbruch – und das gerade jetzt, wo die meisten Geschäfte zu sind! Herzrasen – alles futsch! Doch welche Daten waren tatsächlich unwiderbringlich verloren? Nicht sehr viele. Entweder etwas lässt sich aus einer anderen Quelle wiederherstellen oder es spielt doch nicht jene große Rolle, die wir ihm zumessen. Ein Tag ohne Handy als zusätzliches Element der Entschleunigung.
Nachmittags ging ich in den Handyshop, der nur von drei Kunden gleichzeitig betreten werden durfte. Das Hintergrundgeplätscher der Musik machte uns gefügig. Ich erneuerte meinen Vertrag und wechselte auf einen für mein Nutzungsverhalten besser ausgelegten Tarif. Als langjähriger Kunde mit Treuebonus durfte ich aus einer Reihe von Modellen wählen, wobei ich mich für das kompakteste entschied, welches gleichzeitig am ehesten meinem Vorgängerhandy entsprach, was die Umgewöhnungsphase möglichst kurz halten sollte. Die Angestellte war unkompliziert und kompetent, sie ermutigte mich außerdem zum Kauf einer schlichten Hülle, ohne sie mir jedoch aufzuschwatzen. Mit dem befriedigenden Gefühl, eine sinnvolle Entscheigung getroffen zu haben, verließ ich den Shop.
Ins Einkaufszentrum war bereits wieder ein wenig Leben zurückgekehrt. (Shoppingcenter als Freizeitgestaltung für triste Familien.) Beim Gedanken, vom unbefleckten Bildschirm eigenhändig die Schutzfolie abzulösen, empfand ich so etwas wie Vorfreude. Ein fabrikneues elektronisches Gerät auszupacken und einzurichten, gehört zu den Höhepunkten des modernen Alltags. Ich schlenderte zum Ausgang, das kaputte Handy war schon gar nicht mehr wahr. Die Menschen schienen gelangweilt vom Verzicht und blühten auf zu neuer Kauflust. Plötzlich explodierte keine Bombe. Das ist eigentlich alles.
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Klonotiz Wien Mitte: Ein Mann geht – das Handy zwischen Ohr und Schulter geklemmt – telefonierend aufs Einkaufszentrumsklo. Er stellt sich ans Pissoir, öffnet Gürtel und Hosenstall, lässt Wasser. Dabei plaudert er seelenruhig weiter. Wahrscheinlich mit einem guten Freund, denke ich. Ob sein Gesprächspartner weiß, wo er sich befindet und was er gerade tut? Der Mann wäscht sich die Hände, sogar mit Seife, und setzt sein Gespräch dabei fort. Ich bin überrascht.
Zum Wetter, das sich schon den ganzen Tag über nicht entscheiden kann und jetzt aufs Neue meint, die Wolkenmuskeln spielen lassen zu müssen: Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder?
Auftritt der wilden Braut Corona. Sie zügelt ihr Haar. Der Blick ist vorwurfsvoll herausfordernd und sagt zweierlei. Einerseits: Was bildest du dir ein? Andererseits: Du willst es doch auch! Ein Kippbild ganz ohne Neigung des Kopfes, das allein an ihrem Kippblick liegt. Ein Zweigesicht, in das man sich verschaut.
Man sagt, die wilde Braut Corona habe einmal einen Bären überwältigt. Das ist sicher heillos übertrieben. Erwiesen scheint aber, dass sie eine ist, die gerne mit anderen ringt. Schillernde Gerüchte gibt es zuhauf. Wir verpassen einander blaue Flecken und Würgemale, kratzen und beißen und treten einander, bescheren einander kleine Verbrennungen mit dem Feuerzeug. Wir verraten keinem unser gefährliches Spiel. Es gehört nur uns. Und als sie flüstert, sich insgeheim danach zu sehnen, gefesselt zu werden, da ziehe ich lächelnd das Ende eines dünnen Seils unter der Matratze hervor, ein gut erhaltenes Relikt aus meiner Pfadfinderzeit. In ihrem Gesicht erregte Überraschung. Wir züchten feste Spuren.
Nach unserem interessanten Tag im Schlafzimmer am Fensterbrett, vorm Kasten auf der Yogamatte, im Wohnzimmer auf der Couch, im Bad vor dem Spiegel, in der Küche beim Heizkörper und klassisch am Bett, erfinde ich uns eine Mehrzahl von Durst. Wie vorausschauend – oder anmaßend? – von mir, am Nachtkästchen bereits ein Wasserglas bereitgestellt zu haben. (Sich mit jemandem in seinem Durst einig sein.) Die wilde Braut Corona ringt sich rot.
Vormittags gegen elf Uhr frühstückt ein Mann auf einer Bank ein Kebab. Sein Bart sieht aus wie ungewaschenes Gesicht. Er beißt genüsslich hinein, ins Kebab, das albtraumhaft sein buntes Maul aufreißt, mit Hunger auf Mensch. Dem Kebab-Maul fällt schon alles heraus. Der Mann gewinnt. Er trinkt dazu ein Saftpackerl dünnflüssiges Joghurt. Da sitzt er also auf seiner Bank, und isst und trinkt, und gut so. Das Kebab schmeckt. Wie man es auch schreibt, elf ist zu früh.
Es mag die zwei Torten-Omas in der Bücherei überraschen, aber das Nacherzählen ihrer Krankheitsverläufe samt ihrem Klagesermon über die Öffnungszeiten der Ärzte, ist gar nicht so interessant, wie sie offenkundig annehmen – jedenfalls der raumgreifenden Lautstärke ihrer Unterhaltung nach zu urteilen. Eine Bücherei ist kein Kaffeehaus, höre ich mich sie tadeln, in der zurechtweisenden Hüstelstimme des kauzigen Rechthabers. (Man könnte immer noch eine Spur toleranter sein.) Ich verkneife es mir.
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In Gedanken zu einer Frau, deren Stoffbeutel mir einige Stationen lang sehr hart gegen die Beine schlackert: Entschuldigung, dass ich mit dem Knie immer gegen Ihr Sackerl haue! (So zurückhaltend bin ich selbst in meinen berechtigten Vorhaltungen.) Die stoffgedämpften Buch-Ecken tun weh.
Selige Stadtrandmelancholie: Jene Schwermut, die einen überkommt, sobald man aufs Land fährt. Um produktiv mit sich allein zu sein, braucht es die Möglichkeit zur Begegnung – allerdings nur die Möglichkeit, nicht aber die Begegnung selbst.
Letztes Jahr hat sich der ehemalige Studienkollege einer befreundeten Hackerin daheim in Brasilien erhängt. Es geschah nicht in Rio de Janeiro, wo er für die Ausbildung hingezogen war, sondern in jenem kleinen Ort, aus dem er stammte. Er besuchte seine Familie, die ihn tot im Zimmer fand. Der Selbstmörder hatte Veterinärmedizin studiert, nebenher Gedichte geschrieben und Musik gemacht. Da es ihm schon über Jahre hinweg nicht sonderlich gut gegangen war, zeigte sich meine Bekannte über die Tat nicht überrascht. Sie habe ihn aus den Augen verloren.
Heute lese ich von zehntausenden Neuinfektionen am Tag und lückenhaften Todeszahlen, deren Veröffentlichung das Oberste Gericht einfordern muss. Dem Land vergeht das Tanzen. Auch der Papst ruft schon zum dritten Mal an, um sich nach der Lage zu erkundigen. Die brasilianische Hackerin kennt welche, die gestorben sind und sorgt sich um ältere Familienmitglieder. Ein Onkel arbeitet im Gesundheitsbereich.
Sagen können: Ich habe es aufgegeben, enttäuscht zu sein. (Zum Beispiel der Anwalts-Freund neckisch zum Arzt-Freund. Sie verbringen das verlängerte Wochenende am blaugrünen Wörthersee, um sich von den Strapazen der Arbeitswelt zu erholen. Es sieht dort wie auf Bildern aus. Ich ziehe derweil brav im Wörtersee meine Runden, habe aber von Urlaub schon einmal gehört.)
Obacht: Wie man sich verlaufen kann, so kann man sich verschwimmen. (Zum Beispiel in einem Kärntner See.)
Er hielt im Zimmer still Audienz. Keiner wusste davon. Niemand kam.