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85 Dienstag, 09.06.2020

In der U-Bahn ruckt und rumpelt es mehr als sonst. Die Passagiere werden zu wild gestikulierenden Ausdruckstänzern, sie schnappen nach baumelnden Haltegriffen und klammern sich an Stangen, sie lehnen sich ins forsche Bremsen. Manchmal stolpert einer in den anderen, dann entschuldigt man sich sehr. Der Fahrer tobt sich an den Menschen aus, als hätten sie ihm etwas getan.

On se way
Jetzt sinds amal sieben Minuten
Ja das hoff ich doch
Auf jeden Fall
Ja ich meld mich noch amal
Wenn ich bei der Längenfeldgasse
Da werd ich den Richie noch amal treffen
Vielleicht verkaufma das Auto wieder zurück
Schauma mal
Ja bin ich ja
Ich werd jetzt dann amal im Internet schauen
Was ma finden
Bin on se way
Falls dir das was sagt
Naserl vorn und okay
I foar jetzt zu de Ruabn
Auch das müssen wir ändern
Jo
Wie wärs

Brillenbügel + Maskenbändchen = unübertroffene Erzfeinde

Im Schanigarten eines Donaulokals saß – ich schwöre – ein silberner Mann. Ihm gegenüber am Tisch hatte eine Frau Platz genommen, die normal aussah. Sie ließ sich nichts anmerken. Weder die anderen Gäste noch der flinke Kellner gafften in seine Richtung. Wahrscheinlich hatten sie sich an den ungewöhnlichen Anblick gewöhnt. Ich verlangsamte meinen Schritt wie das vorlaute Kind vor einer Hexennase mit behaarter Warze. Mein erster Gedanke: Dieser Mann hat ein seltenes Leiden. Es könnte sich um eine perfide Form der Lichtallergie handeln, die seinen Körper zu einer Immunreaktion treibt. Mein zweiter Gedanke: Vielleicht eine Hautkrankheit, die es ihm abnötigt, eine spezielle Tinktur aufzutragen, wenn er sich direkter Sonneneinstrahlung aussetzen will. Mein dritter und letzter Gedanke: Im Schanigarten sitzt eine melancholische Novelle namens Der silberne Mann, die jemand einmal schreibt. Sie spielt an der Donau.
(Später lese ich von Argyrie als irreversible, schiefergraue oder grau-bläuliche Verfärbung von Haut und Schleimhäuten, die durch Einnahme von Silber hervorgerufen und als Krankheit zu den Pigmentationsstörungen gezählt wird.)

Natur und Wissenschaft
Ein anderer Arzt-Freund, der auch Multiinstrumentalist ist und ohne weiteres eine Musikkarriere hätte einschlagen können, schickt mir die Links zu mehreren wissenschaftlichen Veröffentlichungen in Fachzeitschriften über den Zusammenhang zwischen Rezession und sinkender Sterblichkeit. In gewissen Bevölkerungsgruppen und unter bestimmten Umständen kann ein Wirtschaftseinbruch sich also positiv auf die Lebensbedingungen der Menschen auswirken. Dies habe auch meinen hochgebildeten Freund stutzig gemacht, doch eine historische Belegbarkeit scheint erwiesen. Die Ausführungen zu den gesundheitlich vorteilhaften Auswirkungen eines Konjunkturrückgangs hätten ihm diebische Freude beschert. (Wie dankbar wir sind, ehrlich überrascht zu werden; es kommt so selten vor.)
Ich tippe ins Blaue hinein, dass die Leute bei schlechter Wirtschaftslage vielleicht weniger Geld für Blödsinn ausgeben, was sich später, beim Lesen eines Artikels, als ein Teilaspekt des Phänomens herausstellt. Wer sehr sparsam haushalten muss, verzichtet zuweilen auf Alkohol und Zigaretten. (Andererseits werden jene, die ohnehin zu Suchtverhalten neigen, in der Krise erst Recht zur Flasche greifen oder Möglichkeiten ersehnen, das nächtliche Rattern der Sorgen zu betäuben.) Es sind komplexe Sachverhalte, die hier angerissen werden; vor allem geht es um die Fragestellung, wie der Staat mit einer Rezession umgeht, ob er in Arbeitswelt und Gesellschaft heilsame Veränderungen auf den Weg bringt. Wie robust ist das soziale Netz, das die Menschen auffängt? Wo es löchrig wird, da segeln sie im freien Fall ins Nichts.

Kürzestgeschichte: Die Frau im Kühlschrank klopft nicht mehr.

Untertagtraum im Nachmittagsschlaf: Ich habe meinen Rucksack verloren. Entweder habe ich ihn unterwegs wo liegengelassen oder gar nicht erst von zu Hause mitgenommen, was mir nicht ähnlich sieht. Entweder habe ich ihn verloren oder der Riese war Horst. Es macht mir nichts aus. Abends ist die Straße lang. Der Bruder meines Vater kommt mir mit Krücken entgegen. Er ist tot und hat Recht. Abendliche Stadtrandstraße, schreibe ich ins Notizbuch, das ich neuerdings auch träumend eingesteckt habe. Davon kriege ich Beine, habe aber schlechtes Gewissen. Der Bruder meines Vaters ist mein Onkel. Mein Onkel kann seinen Bruder nicht finden. Mein Onkel kann meinen Vater nicht finden. Logische Verkettung der Tatsachen. Dabei hat er geläutet im sechzehnten Bezirk. Ich dachte, Onkel kommen nicht nach Wien. Auch mein Vater ist tot. Vor schlechtem Gewissen muss ich den Rucksack holen.
Eine rothaarige Frau hat ihn umgeschnallt. An ihrer Schulter baumelt ein Stoffbeutel. Sie gibt mir detailliert Auskunft, was sich darin befindet, ich höre aufmerksam zu. Wir gehen ohne Maske in ein Kaffeehaus und setzen uns auf die Terrasse – bei der ich nie weiß, wie man sie schreibt. (So wie in einer Vornotiz Mitte April.) Ich erzähle, dass mein Ausweis in der Geldbörse ist, die im Rucksack ist. Nimm ihn halt, sagt die Rothaarige, und wirft ihn mir hin. (Möwen schnattern, aber das weht herüber aus einem anderen Traum oder aus einer Dokumentation über das geisterhaft leere Venedig. Alles kommt so gut ohne uns aus, gerade Orte, die wir erschaffen oder geprägt haben. Alles ist so friedlich und so tröstlich ohne uns, dass es uns doch gar nicht mehr zu geben braucht.)
Aus einem Grund sind wir auf einer Party. In der mit kaltem Wasser gefüllten Badewanne planschen die Getränke (Bierdosen und Weißweinflaschen). Jemand fragt, welche Sorte. Das Bier ist egal, sage ich. Über die Rothaarige sage ich mir, dass es keine reine Kopfliebe sein darf. Ich muss mich erinnern, dass es sie gibt. Einer darf mit dem anderen verschwinden. Wer ein Mensch ist, dessen Zweifel hat Gewicht. Die Partygäste bleiben vereinzelt. Es heißt, die Wände sprechen mit. Die Stimmung ist gedämpft. Etwas muss vorgefallen sein.

Männer und Frauen
Als die Welt stillstand, war endlich Zeit. Wir haben es uns gemütlich gemacht. Die Wohnung aufgeräumt, beschädigte oder doppelte Gegenstände ausgemistet. Wir haben überfällige Bücher zurückgeschickt. Wir haben eine glorreiche Ananas auf den Heizkörper gelegt, dass es eine Freude war. Wir haben gut die Obstschale gezeigt und alles insgesamt vorteilhaft beleuchtet. Das Nest ist ausstaffiert zum behaglichen Gefängnis. Es ist so ein gepolsterter Schmerz. Wir sind gesund.
Die Männer haben sich Frauenkleider angezogen, um schöner zu singen, und die Frauen haben sehr glatte Harre gehabt. Die Ernährung war ausgewogen. Wir sind zum Markt einkaufen gegangen und haben immer frisch gekocht. Wir sind mit dem Fahrrad gefahren. Die Frauen haben ihr weiches Spiel gespielt, und die Männer dazu beharrlich geschwiegen. Wir sind geträumt worden von bösen Kindern, und haben den Rest unseres Lebens gelebt. Es spielt im reinen Norden oder fahlen Westen. Nichts stört darin nach mehr. Jetzt setzt sich die Welt aufs Neue in Bewegung. Wir schmieden Pläne und holen Feste nach.

Eines Tages wird mich der exponierte Rückspiegel eines herannahenden Autobusses erschlagen. (Ich lese beim Warten an der Station, und die Spiegel ragen weit über die Gehsteigkante.)
*
Allgemein bekannt: Wenn man mit gezückter Handy-Uhr am Fahrplan nachsieht, wann der Bus hätte kommen sollen, dann kommt er schneller. (Das Anzünden einer Zigarette verstärkt diesen Effekt. Nichtraucher sind hier klar im Nachteil.) Bedenkt man dann den Fahrer selbstgerecht mit einem tadelnden Blick, wird er sich niemals wieder verspäten.

Ober-Virologe im Podcast des Norddeutschen Rundfunks, Folge siebenundvierzig: Sorry, ich sag mal grade nichts wegen diesem Bagger. Ich kuck mal grade, was die da machen.
Moderatorin: Mhm, okay.
Ober-Virologe: Also, es stellt sich raus, es is gar kein Bagger, sondern es is so n Straßenkehrer, der hier auf …
Moderatorin: Ah, okay.
Ober-Virologe: … mal kurz auf Vollgas läuft.
Moderatorin: Okay, der hat ja bald fertig gekehrt, dann irgendwann, ne.
Ober-Virologe: Anscheinend fährt er jetzt weg. Ja. So.
Moderatorin: Gut. (lacht)
Ober-Virologe: Wo waren wir jetzt?

Die Leute möchten wieder ins Ausland fahren, umgekehrt wünschen sich Tourismusbetriebe möglichst viele zahlungskräftige Besucher. Die Politik stellt Weichen, beschäftigt sich mit Details der Bewegungsfreiheit und mit den Bedingungen des Durchfahrtsrechts. Europa erinnert sich seiner Grenzen. Infektionszahlen pendeln sich ein auf niedrigem Niveau. Jetzt werden die Toten gezählt. Wir haben uns einen entspannten Sommer verdient, an dem wir wieder atmen und an gar nichts denken dürfen.
Reisen heißt interessante Probleme lösen und schwierige Fragen beantworten, wie zum Beispiel: Wo bin ich? Wohin möchte ich? Wie komme ich dorthin? Wird es mir gelingen? Wer kann mir dabei helfen? Welche Sprache spricht derjenige? Was, wenn es nicht klappt? Welches Essen sollte ich probieren? Wo stimmen Qualität und Preis? Wie lange kann ich bleiben? Will ich jemals zurück? Zug oder Flugzeug? Bahn oder Pferd? Floß oder Flossen? Die Antwort weht im Wind.
*
Mein Einbruchschutz, als ich einmal sommers für ein paar Tage verreiste: Ein Blatt Papier, streng in die Hälfte gefaltet, sodass es zum zeltförmigen Aufsteller wurde. Ich legte es auf die Kommode mit Schlüsselschale, direkt hinter der Tür. Bin einkaufen!, stand da in dickem Filzstiftstrich. Und darunter: Komme gleich. Es folgte ein keckes Lachgesicht. Dabei lebe ich allein.
Der Einbruchschutz hat gewirkt. Es war so: Ein Ganove verschaffte sich Zutritt, mit filigranem Diebeswerkzeug nestelte er meine Haustür auf und betrat leisen Schrittes die Wohnung. Dann erblickte er das Schild, las die Nachricht an meinen imaginären Mitbewohner. Er verstand und wollte es nicht darauf ankommen lassen, das Zeitfenster schien ihm zu klein. Also trat er zurück ins Stiegenhaus und zog behutsam die Tür ins Schloss. Er suchte das Weite – oder fand ein anderes Opfer. Er verschonte mich und hinterließ keine Spuren. Ich habe es niemals bemerkt. So muss es gewesen sein. (Diese Geschichte ist nicht erfunden.)

Der gemeine Teppichhai ist ein Lauerjäger. So wie ich. (Nachts werde ich zum Lauerer und strafe.)

Wären alle Menschen zur selben Zeit betrunken, und würden sie sich in einem Moment kollektiver Erkenntnis die Hände reichen, dann bräche plötzlich Frieden aus wie sonst nur Krieg.