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84 Montag, 08.06.2020

Routen und Routinen

Manchmal fallen Doughnut-Tag und Schnitzelmontag zusammen. Einen ungesunden Abend braucht es da dann gar nicht mehr. (Morgens in der U-Bahn fällt mir auf, dass Doughnut streng übersetzt Teignuss heißt, womit Form oder Konsistenz des Gebildes nur unzureichend beschrieben sind. Sinniger wäre so etwas wie Lochkrapfen. Vielleicht habe ich das einmal wo gelesen, vage Erinnerungsbilder eines nach Zimt duftenden Christkindlmarkts träumen einen Tunnel lang übers Fenster. Nein, denke ich, das Wort ist eine unzulässige Verwandlung.) In die Arbeit und zurück, in den Stadtpark oder die Bücherei – es sind die immergleichen Routen, die wir gehen. Mehr haben wir nicht.
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In der Einkaufspassage gibt es einen chinesischen Supermarkt, dort hole ich mir regelmäßig Sojasauce, Reisnudeln, Jasminreis, Fertig-Misosuppe (Tofu), kleines Flaschenbier oder Zutaten fürs Hühnercurry: Sojakeimlinge, Kokosmilch, Currypaste (rot, gelb, grün), frische Chilischoten, Koriander. (Fleisch gibt es hier nicht.) Die Besitzerin lächelt mit zuvorkommender, beinah unterwürfiger Zurückgenommenheit und tritt zur Seite, wo man gar nicht vorbei will. Als ich komme, portioniert sie gerade Sojakeimlinge aus einem großen Sack in mehrere kleine, die mit einem handelsüblichen Klebestreifen verschlossen werden.
Ich erinnere mich, am Anfang der Quarantänezeit einmal keine Maske getragen zu haben, weil es noch nicht verpflichtend war. Da sah sie mich erschrocken an, trug sie doch bereits eine, seitdem der Virus in den Medien präsent zu werden begann. Ich bemerkte, wie unangenehm es ihr sein musste, meinem Atem schutzlos ausgeliefert zu sein und brachte entschuldigend vor, dass ich gelesen hätte, Masken würden nicht wirklich etwas bringen, und wenn, dann nicht bei uns Normalsterblichen. Trotzdem beschloss ich, beim nächsten Mal eine zu tragen, allein für den Seelenfrieden der chinesischen Supermarktfrau. (Sie und die Schnitzelfrau sind – gleich nach meiner Mutter und der Chefbuchhalterin – jene Frauen, denen ich am öftesten begegne.)
Wir haben es uns zur Gewohnheit gemacht, einander in unserer Höflichkeit überbieten zu wollen. Beim Bezahlen runde ich stets auf, nicke und sage: Das passt so. Sie jedoch will diese lächerliche Großzügigkeit nicht auf sich sitzen lassen und legt mir zur Antwort kommentarlos eine Limette ins Stoffsackerl. Beim nächsten Mal versuche ich, es wieder auszugleichen. Das ist unser Spiel, nah am harmlosen Flirt. Langsam schaukeln wir uns auf, werde ich im Runden immer waghalsiger und fordere heraus, dass sie mir bald zwei Limetten ins Sackerl legen muss. Ein Wettrüsten der Großzügigkeit – auch das ist Völkerverständigung.
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Die Umgebung, in der wir uns aufhalten, spiegelt unsere inneren Vorgänge wieder. Anhäufen von Material, geistiges ebenso wie physisches, die Unordnung wächst, behält jedoch eine gewisse Struktur, die sich dem Außenstehenden erst bei näherer Betrachtung erschließt. Erreicht sie ihren Höhepunkt, wird die Idee in Form gegossen, im Projekt ein Etappensieg errungen. Tabula rasa, leeres Blatt. Dann geht das Spiel von vorne los. Es ist dieses Hin und Her zwischen Ordnung und (vermeintlichem) Chaos, das uns durch die Tage trägt, Ebbe und Flut schöpferischer Gegenwart. So besteht die Routine eher in der Regelmäßigkeit des Wechsels.
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Es wird schwer sein, aufzuhören. So wie Politiker ihre Macht genießen, sich breitschultrig sonnen im Scheinwerferlicht, so genieße auch ich meinen Umgang mit der Krise, meine Möglichkeit, sie wortreich zu befragen. Während der letzten Wochen stand niemand von uns vor dem Problem, nichts zu erzählen zu haben. Im Gegenteil fanden wir uns eher mit der Herausforderung konfrontiert, dass sich unsere Geschichten nur sehr wenig von einander unterschieden.
Ich werde jemanden brauchen – einen Menschen vielleicht –, der mir sagt: Es reicht. Es ist jetzt genug. Lass es gut sein. Schlaf. Komm zur Ruhe. Bitte, schlaf. Wahrscheinlich ist es viel zu spät, sich um so jemanden zu kümmern, wen dafür einzuschulen, sich meinem winselnden Trotz entgegenzustellen.
Wir alle brauchen jemanden, der ehrlich zu uns ist, einen ersten Offizier, mit dem wir abends nach dem Dienst väterlich einen Scotch oder Earl Grey trinken und in vertrauenswürdigem Ton die Lage besprechen können. Ich bin der Kapitän eines Atom-U-Boots, verrückt geworden im Einsatz unter Wasser. Ich sehe Torpedos, wo keine sind, als Tinnitus hallt mir der gedämpfte Suchton des Sonars im Ohr. Ich bin dabei, vollends den Verstand zu verlieren, und einen Krieg anzuzetteln. Man wird mich meines Kommandos entheben müssen. Ich werde mich wehren. Captain, sagt jemand, ich tue das nur sehr ungern, doch es bleibt mir nichts anderes übrig. Ping.
In luziden Momenten schaffe ich es, mir das Offensichtliche einzugestehen. Da fühle ich mich geborgen in den seltsamen Zeiten, weil sie es einem erleichtern, gewichtige Eindrücke zu sammeln. Die fallen uns brutal in den Schoß. Ist man es ohnehin gewohnt, jedweden Eindruck – solange er einem ausreichend überlebensfähig vorkommt – sprachlich festzuhalten, dann sind Krisen wie ein üppiges Buffet, an dem man sich bedient. Ich muss aufpassen, mich nicht zu überfressen, mich nicht zu verlieben in den Ausnahmezustand als Normalzustand, den man ehrgeizig bewältigt. (Oder ist es längst geschehen? Haben wir der Nacht erzählt, was wir einander sind?)
Das Manövrieren durch unwegsames Gelände, verschafft eine Orientierung, die man in der Alltagswelt oft schmerzlich vermisst. So manche Innenstadt ist als vertracktes Labyrinth angelegt.
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Einmal hantierte beim Volkstheater ein bärtiger Mann mit dem Stadtplan. Ich hatte Mitleid und fragte ihn spontan, ob ich ihm helfen könne. Er wolle zum Parlament und wisse nicht, wie er dorthin gelange. Ich wusste es auch nicht, dachte laut nach, schaute links und rechts den Ring entlang, zückte schließlich das Handy und öffnete die Karte. Der Fremde neben mir wurde ungeduldig. Von allen Menschen, die ihm hätten helfen können, habe genau ich mich ihm aufdrängen müssen. Verzweifelt zoomte ich näher heran und wieder zurück, richtete die elektronische Karte nach unterschiedlichen Himmelsrichtungen aus, nordete uns mal da und mal dort ein. Schließlich äußerte ich meine Vermutung, die jedoch wenig selbstbewusst klang. Ich fuchtelte ihm vor, wohin er zu gehen habe. Abwägend trat der Mann von einem Bein aufs andere. Dann prüfte ich meine Aussage noch einmal nach und wiederholte sie vehement. Jetzt ging er los. Bestimmt fragt er jemanden nach dem Weg, dachte ich.
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Vielleicht ist Schlaf die einzige Routine, die uns wirklich gehört.