Gestern – gestern? – gestern! –, gestern also erreichte uns die Nachricht, dass die Weltgesundheitsorganisation unter bestimmten Umständen den Massengebrauch von Masken empfehle, wobei sie davor warnt, dass der Bevölkerung womöglich ein falsches Gefühl der Sicherheit vermittelt werde. Wenn Menschen sie mit schmutzigen Händen berühren und so kontaminieren würden, könne sich das Erkrankungsrisiko sogar erhöhen. (Gut zu wissen, dass gesundheitspolitische Entscheidungen wie hierzulande die Maskenpflicht auf wissenschaftlich fundierten Analysen basieren; diese herrscht bei uns seit mehreren Wochen in öffentlichen Verkehrsmitteln, Geschäften, Amtsgebäuden, Arztpraxen und Apotheken, teilweise in der Gastronomie oder auch bei bestimmten Veranstaltungen.)
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Die Weltgesundheitsorganisation führt weiter aus, das Nähen von Masken versetze Menschen in die Lage, aktiv etwas gegen den Virus zu tun, gleichzeitig stelle es eine mögliche Einkommensquelle dar. Sie erkennt darin also eine Maßnahme zur kurzzeitigen Arbeitsplatzbeschaffung sowie eine nette Beschäftigungstherapie für das einfache Volk.
Der aktuelle Leiter der Weltgesundheitsorganisation heißt Tedros Adhanom Ghebreyesus. Die Namen einiger seiner Vorgänger lauten Brock Chisholm, Marcolino Gomes Candau, Halfdan Theodor Mahler, Hiroshi Nakajima oder Gro Harlem Brundtland. Um der Organisation vorzustehen, muss man also heißen wie eine exotische Romanfigur. Besonders erfunden klingen Ghebreyesus und Candau.
Mädchensang im Praterbus:
Ich sing dir das vor
Alle meine Pferde immen auf dem See
Immen auf dem See
Und in der Erde (reimt sich auf Pferde)
Ich mag das, etwas versingen
Am Bahnsteig telefoniert eine Jungrussin, harte Fakten ins Gesicht geschminkt. Sie legt auf und wirkt herzzerreißend liebesmüde, ihr schmaler Körper bebt vor ratloser Tapferkeit. Es braut sich in ihr etwas zusammen, das bald ein Ventil finden will. Unrühmlicher Gedankenblitz: Und wenn ihr jetzt noch einer sagt, dass sie hässlich ist, wirft sie sich vor den Zug.
Wer mit der lilafarbenen U-Bahn-Linie über den Rand der Welt fährt, kommt in die Seestadt, ein ordentlich hingeplantes Wohnviertel für gärtnernde Jungfamilien, dessen rechte Winkel langweilig korrekt sind. Es glaubt, etwas zu sein, aber ortelt nur herum. Ein Musikvideodreh führte mich letzten Winter dort hinaus, bitterkalte Aufnahmen mit Halsweh und Wiederholung. Passanten blieben neugierig stehen oder trotteten bescheiden durch den Hintergrund. Im Siedlungszentrum – Hauptplatz klänge zu amtlich – gibt es eine Bäckerei, in der ein paar Sitzgelegenheiten zum Verweilen einladen. Hier wärmten wir uns dankbar auf.
Die Betreiberin trug einen altmodischen Arbeitskittel, am rechten Oberarm hatte sie blaue Flecken, die mir wie die Griffpunkte von wütenden Händen erschienen. Häusliche Gewalt, dachte ich.
An einem der Kaffeehaustische saß ein alter Mann, der Genügsamkeit ausstrahlte, leer und endgültig lächelte er ins Nichts. Vor ihm befand sich ein beachtlicher Stapel Papierservietten. Er befeuchtete jeweils seine Fingerspitzen, nahm eine davon, faltete sie in die Hälfte, legte sie zu den anderen. Es wirkte wie ein routinierter Vorgang, was ich als alarmierend empfand. (Selbst nach ursprünglichen, präcoronalen Hygienestandards wurden hier eindeutig Grenzen überschritten.) Tochtervater, dachte ich.
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Als der alte Mann fertig war, trug er die Servietten hinter die Theke. Am Rückweg kam er an der steril brummenden Kühlvitrine vorbei, aus der er sich eine Flasche Orangensaft angelte. Schatzi, sagte er zur Tochter, ich habe mir eines genommen. Er setzte sich wieder hin, schraubte den Deckel ab und nahm einen tiefen, betretenen Schluck. Jede einzelne Serviette wird vom Vater der geprügelten Bäckereibetreiberin abgeschleckt, dachte ich.
Jetzt setzen Rechenspiele ein: Vor wie vielen Jahren wurde der Betrieb eröffnet? An wie vielen Tagen der Woche sitzt der Vater an seinem Tisch? Wie viele Servietten faltet er täglich in die Hälfte? Wie viele Drinks aus der Truhe genehmigt er sich? Wie viele Keime werden mit jeder Fingerspitze durch Spucke übertragen?
Ich werde aus dem unappetitlichen Vorgang nicht schlau. Was spricht dagegen, beim Anrichten eines Gebäcks einfach mit flüchtigem Handgriff eine Serviette zu falten und adrett aufs Tellerchen zu legen? Wahrscheinlich ist es der Tochter ein Anliegen, ihren Vater beschäftigt zu halten. Es ist ihre Liebe, denke ich. Die muss keiner verstehen.
Eine Business-Bekannte: Heute geht’s mir ungewöhnlich gut, ich war den ganzen Tag wandern, und hab einen unglaublichen Moment gehabt wo ich im Gras gelegen bin und nur der Natur zugehört hab. (Die Wendung ungewöhnlich gut versetzt mir einen Stich.)
Als Ersatzmaske oder Wechselmaske kaufe ich mir eine aus weißem Stoff mit aufgedruckten Notenlinien und Noten. Befestigt wird sie mit recht engen Gummibändern, die beim Tragen die Ohren vorausklappen. Besonders ohrenfreundlich ist sie also nicht. Man kann nur hoffen, dass die Bändchen im fortgesetzten Gebrauch etwas ausleiern und weniger unangenehm sind. Immerhin sitzt sie fest und kann nur minimal verrutschen. Ein bisschen kämpft sie dabei mit der Brille.
Als ich mich im U-Bahn-Fenster spiegle, habe ich so abstehende Ohren wie der etwa gleichaltrige Bundeskanzler; für die seinen ist er europaweit bekannt, sie sind untertassenhaft ausgewalkt, lausbubenhafte Brotscheibenohren. Meine wiederum sind klein wie meine kleinen Hände, sehr unmännlich. Ich stelle mir vor, dass die Maskenpflicht wohl auch deshalb aufrecht bleibt, damit unser Bundeskanzler mit seinen abstehenden Ohren nicht so allein ist. Die abgedruckten Noten ergeben die Behauptung einer Melodie. Luftiger Jazz schwebt mir um den Mund.
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Vor wenigen Tagen hörte ich zum ersten Mal am Bahnsteig die Durchsage, wonach sich das Gebot zum Tragen von Masken nicht bloß auf den Waggon beschränke, sondern auf den gesamten Stationsbereich ausgeweitet sei. Das war mir nicht bewusst. Selbst als aufmerksamer Nachrichtenkonsument ist diese Information an mir vorbeigegangen. Tatsächlich habe ich mich öfter gewundert, weshalb nicht viel mehr Leute direkt nach dem Aussteigen die Maske herunterreißen. Schade, dass ich die Durchsage nicht überhört habe und weiterhin guten Gewissens behaupten kann, ahnungslos zu sein. So lebte es sich leichter.
Erdbeeren übersetzen Sonne in Geschmack.
Am Donaukanal sitzen alle aufgefädelt und machen sich bereit zur Ernte. Füße mit Schuhen und Socken baumeln über den Rand. Einigermaßen waghalsig schwingt man zum Wind. Es gräbt sich der Fluss stumm voran. In Wien ist jedes Wasser interessant dreckig. Die schönen Menschen rotten sich zusammen, weil es stimmt. Daneben wachsen Flascheninseln, Wein und Bier, ausgetrunken klingt es hell. Eine Boombox dröhnt. Unter der Brücke probiert man den Hall, ein spontaner Rave, ein Dancen in the Dark. Polizeikräfte maskieren sich für den Einsatz, weisen schuldbewusst auf Abstandsregeln hin. Wie vertraut uns der Anblick dieser Patrouillen geworden ist. Schirch. Polizisten kommen auch aus Familien, haben Wünsche und Hunger und Tage, gehen aufs Klo. Nachtlang sind alle wie aufgehoben. Schön warten.
(Oft habe ich mir überlegt, ein Bierwagerlfahrer zu werden, auf der Donauinsel oder am Donaukanal, das muss ein lukrativer Sommerjob sein. Vielleicht ab Juli, da habe ich wenig zu tun. Je nach Wetter und Trinkfreudigkeit kann man so ein stattliches Taschengeld einstreichen, auch stelle ich es mir nett vor, eine Abendschicht lang nichtssagende Plauschereien mit Kunden zu sammeln.)
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Jetzt wird sauber geerntet. Da geht einer her und lupft welche ins Wasser. Die jauchzen schrill vor Glück. Manche haben vorsorglich ihr Handy aus der Hosentasche genommen und einem Sitznachbarn zugesteckt, doch das zählt irgendwie nicht. Ohne Handy ist es nur der halbe Spaß. Die Leute tropfen in den Fluss, schrecken in die Kälte, tauchen kurz unter, tauchen gleich wieder auf und holen Luft. Yes, rufen sie, bist du deppat. Oder: Schock zum Quadrat. Oder: Smooth. Ein paar Dutzend werden so auf ihr neues Wesen getauft. Flussabwärts fischt sie einer heraus und trocknet sie grob mit Jacken ab. Er hüllt sie in rupfige Feuerwehrdecken, in denen noch das eine oder andere Blut aufblinkt. Wer will, wer mag, wer hat noch nicht? Lüsterne Angeblichkeit.
Außerdem ist Licht ja auch nur etwas, das es gibt.