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82 Samstag, 06.06.2020

Im Bus verwackeln die Sätze zur unleserlichen Runzelschrift. Besonders arg wird es in der Schüttelstraße auf dem Weg zum erholsamen Nachbarplaneten namens Prater.

Nimmt der Präsident der Vereinigten Staaten – dessen Name ich hier unerwähnt lassen möchte, um das Geschriebene nicht zu kontaminieren –, nimmt er also noch weiter zu, wird es später eng in der Hölle, denn unter seinesgleichen ist ihm längst ein warmes Platzerl reserviert. Da kann er dann saunieren und mit den anderen streiten, wer der erfolgreichste Menschenfeind der Weltgeschichte gewesen ist. Ich werde die Notizen mit seinem Namen nicht verunreinigen.

Ein billiger Anblick: Diese falschen Brüste waren im Sonderangebot.

Im Hipster-Kaffeehaus spielt es sich ab. Ich besetze den letzten freien Stuhl. Am Nebentisch ein Model-Paar, das eloquent posiert vor den anderen Gästen. Sie mit beleidigter Schnute und weltvergessenem Blick, er ganz mager im kaputten Shirt, aus dem haarlose Arme zögern. Die beiden sitzen am Fenster und haben ein Schachbrett vor sich, auf dem die Figuren ihren sinnlosen Krieg führen. Es sind zwei Deutsche, und sie tauschen sich über das Regelwerk aus; er ist ihr geduldiger Lehrmeister, sie seine lernwillige Schülerin.
Beim Betreten hat mich niemand begrüßt. Auch das dreckige Geschirr meiner Vorgänger wird nicht abgeräumt. Die Kaffeeränder und aufgefädelten Wasserperlen ekeln mich, am meisten aber die zerknüllten Servietten, in die sich Fremde den Mund abgewischt haben. Lauernder Keim.
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Hier gibt es Selbstbedienung, man bestellt unkompliziert am Tresen. Zwei junge Kerle schupfen den Laden, für Höflichkeit oder Aufmerksamkeit sind sie zu cool. Ich beobachte ihre Handgriffe wie der Wilderer sein Tier: abschätzig und gierig auf den Schuss. Sie lassen sich sehr Zeit und scherzen langweilig miteinander. Alle um mich wirken ausgeruht und offen für den neuen Tag, doch es ist nur ein Wirken, ein keckes Spiel vor Publikum, ein Agieren im Wissen des Blicks. Alle hier sind etwas vor den anderen. Ein Ort, an dem man nicht bei sich sein kann.
Die deutschen Models gehen auf in ihrer Rolle, das Sonnenlicht kitzelt ihnen in der Nase. Er bringt gekonnt ihre Dame zu Fall, wofür sie ihn anhimmelt. Die zwei strahlen unbekümmerte Verliebtheit aus. Das Geschirr wurde immer noch nicht abgeräumt. Erst als eine Kollegin das Team verstärkt, kommt Bewegung in die Sache, werden die Abläufe rund. Man merkt, dass sie den Laden schupft und sich mit faulen Drückebergern herumschlägt. Kaffeegeduld. Schachmatt.

In einem Samstag ist für alle Platz.

Schön und verwirrend. In Wien gehen fünfzigtausend Menschen gegen Rassismus und Polizeigewalt auf die Straße, ein Beispiel nehmen sie sich bei vergleichbaren Kundgebungen in den Vereinigten Staaten. Bei uns geschieht kein Umschwung zu Gewalt, in keiner Silbe und keiner Geste. Die ungetrübte Gewissheit, friedlich für die gute Sache einzustehen. Hier ist eine Demonstrationslust am Werk, gerade junge Leute sind froh, sich wieder an der frischen Luft in Gruppen zusammenfinden zu können, was eigentlich nach gewissen Vorgaben ablaufen sollte. Nicht zuletzt wetterbedingt übersteigt die Beteiligung das erwartete Ausmaß.
Die Forderungen nach Toleranz und einer vorurteilsfreien Gesellschaft, nach einer Gleichbehandlung unabhängig von Herkunft und Hautfarbe, kann man ohne Einwand unterschreiben. Trotzdem bin ich verwirrt, dass eine Großkundgebung dieser Art inmitten einer abklingenden Pandemie stattfinden kann, obwohl noch immer strenge Abstandsregeln in Kraft sind. Die wochenlange Seuchenangst ist über Nacht verflogen. Während man in vielen Bereichen einen unwürdigen Affentanz um Auflagen vollführt, sich mit Teilnehmerbegrenzung und Plexiglasbarrieren herumschlagen muss, wird die Wiener Innenstadt bedenkenlos zur politisch aufgeladenen Partymeile erklärt. Weltverbesserung ist immun gegen Kritik.
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Die Polizei schreitet auch deshalb nicht ein, um sich den Vorwurf der Fremdenfeindlichkeit zu ersparen. Selbst Aufrufe zum Abstandhalten wären klischeehaft als rassistischer Übergriff verurteilt worden. Nach überschießenden Verwaltungsstrafen für Spaziergänger und Ausflügler besteht die Imagekorrektur der Behörden nun darin, gegenüber den Veranstaltern von weltanschaulich begrüßenswerten Kundgebungen keinerlei Ansprüche zu stellen. Man darf sagen, dass man etwas nicht versteht.
Ideologische Blindheit hieße, weder vorauseilend zu befürworten noch zu verdammen, Form und Inhalt klar zu trennen, es hieße, im Gestalten und Ermöglichen gesellschaftlicher Teilhabe mehr oder weniger einheitlich zu sein. (Man stelle sich vor, fünfzigtausend Demonstrierende wären bei einem Freiheitsmarsch gegen den postulierten Corona-Wahnsinn mit Schaum vor dem Mund durch die Straßen gezogen. Linksgerichtete Medien hätten standardmäßig den österreichischen Weltuntergang heraufbeschworen und einen gesundheitspolitischen Skandal gefaltert. Vielleicht mit jedem Recht. Man höre die geifernden Rücktrittsaufrufe. Man messe nicht mit zweierlei Maß.)
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Die Amerikaner haben uns gezeigt, wie man cool demonstriert. Hochgehaltene Plakate wirken mit englischsprachigen Slogans gleich viel professioneller, auch skandierte Slogans flutschen besser. Da zieht man mit seinen Klassenkollegen aus der Oberstufe vom Getreidemarkt zum Museumsplatz, aber es fühlt sich an, als wäre man ein Checker in der Bronx. Auch Seattle und Atlanta sind relativ cool. Als brennende Autowracks haben wir die Reibungswärme zwischen Gleichgesinnten. Es ist sehr angenehm, das Richtige zu tun; und wie leicht geht man sich dabei selbst auf den Leim. Am coolsten ist immer noch Brooklyn.
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Dieselben fünfzigtausend Menschen haben sich darüber echauffiert, dass eine Handvoll Rechtspopulisten in einem Vereinslokal am Land laut Musik hören und Pizza bestellen, obwohl Zusammenkünfte haushaltsfremder Personen doch bedenklich waren – oder sogar verboten, so genau weiß das nicht einmal die Regierung, auch im Nachhinein. (Mein Mitleid hält sich in Grenzen, handelt es sich doch wahrscheinlich um Säufernasen mit weltanschaulich bedenklichem Hintergrund.) Kritisiert zu werden, ist furchtbar anstrengend, deshalb sollte man es lieber bleiben lassen.
Dieselben Fünfzigtausend haben während der Quarantäne einen Daheimbleib-Kult betrieben und sich allzu sehr gefallen im Herzeigen ihrer Gewissheit und im Bloßstellen der Verfehlungen anderer. Wir alle haben uns vom Zusammenhalt im Rechthaben mitreißen lassen, der patriotisch unterfüttert gewesen ist, unsere kritische Selbstbetrachtung war dabei höchst unterschiedlich ausgeprägt. Wir alle bewohnen denselben Meinungskosmos; niemand kann unfehlbar als Außenstehender vom Spielfeldrand obergescheit hineinkommentieren. Jeder ist Teil des kollektiven Erzählstroms.
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Verwirrt bin ich dort, wo eine Uneinheitlichkeit der Beurteilung offenbar wird. Das gleichzeitige Auftreten einander widersprechender Verhaltensweisen. So werden vermeintliche Tatsachen zur laschen Behauptung degradiert. Der Grund für die Demonstration ist ohne Einschränkung unterstützenswert; die Art ihrer Durchführung ergibt im Kontext der letzten Wochen und Monate keinen Sinn. Am Pranger ist für alle Platz.
So habe ich also den Überblick verloren, wer eigentlich wann genau unter welchen Umständen was darf, ob wir von Großveranstaltungen nun Abstand nehmen sollten oder nicht, ob es nun gerechtfertig ist, dass eine Lesung im Innenhof eines Literaturmuseums nächsten September nach epidemiologischen Gesichtspunkten in drei Etappen stattfinden soll. Es ist nicht nötig, das Vertrauen in den Staat zu verlieren, er zerstört es ganz von selbst.
Fünfzigtausend Menschen beim Einfordern der Menschenrechte sind ein schönes Zeichen; das unbehelligte Verweilen entgegen aller Beschränkungen stellt deren Sinnhaftigkeit infrage. Verwirrt bin ich von der tiefen Diskrepanz zwischen Inhalt und Form, ich bringe das eine nicht mit dem anderen zusammen. So geht es allen, mit denen ich spreche. Verwirrend und schön.

Einmal entsorgte ich einen Packen Rasenschnitt in der Biotonne, die bereits bis zum Anschlag gefüllt war. Was ich mitbrachte, ließ sich gerade noch dazustopfen. Um die Tonne zu öffnen, trat ich den Bodenhebel nieder. Normalerweise sorgt eine ausgeklügelte Vorrichtung dafür, dass sich der Deckel nach Entfernen des Fußes gemächlich senkt, doch hier schien sie defekt zu sein. Nichtsahnend hob ich den Fuß – und der Deckel knallte ungebremst nieder. Es gischtete mir feuchten Dreck ins Gesicht, über und über war ich mit zerhäckselten Grashalmen und braunen Wassertropfen übersäht. Ein jämmerlicher Anblick. Ich nahm es locker und lachte mich aus. Die besprenkelten Brillengläser rieb ich ins Hemd. Mit dem Unbehagen, soeben von einer Biotonne gedemütigt worden zu sein, watschelte ich zurück in den Tag.

Im Stiegenhaus, wenn das Handy den Einzusgbereich des WLAN verlassen, sich jedoch noch nicht ins mobile Datennetz eingewählt hat, und damit für unmessbare Sekundenbruchteile ein funkwellenfreies Zwischenreich bewohnt. Ein Übergangszustand, der am ehesten unserem Schlaf gleichkommt.

Zwei Busse hupen einander aufmunternd zu. Schicksalsgenossen in flehendem Erkennen. Dann fährt jeder mit Scheuklappen in seine Richtung weiter, stur geradeaus. Durchhalten. Alles wird Stadt.