Ich habe ganz vergessen, dass die Zeiten seltsam sind. Da war doch was. Aber was? Achja, denke ich, stimmt.
Verlässlichster Hinweisgeber für Schreibfehler im Narrativ ist ein Tiroler Pirat, der mir kurz und bündig Stellen mit vertauschten oder vergessenen Buchstaben nennt, über die ich mich maßlos ärgere, weil es mein ausgeprägtes Formbewusstsein stört. Ganz egal, in welcher Situation ich mich befinde, ob schon mit einem Fuß in der Badewanne oder diesen Moment Platz genommen vor einem späten Abendessen, der Fehler muss sofort korrigiert werden. Erst so ist alles wieder im Lot. Gleichzeitig freue ich mich sehr über jeden Hinweis, und bin dankbar, ihn zu erhalten. Man ist ja doch nur so gescheit wie die anderen einen sein lassen.
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Der Tiroler Pirat schenkt mir den Gedanken, dass in diesen Zeiten die Menschen vielleicht endlich nachvollziehen können, wie sich Hunde immer schon gefühlt haben, weil jetzt beide nur mit Maulkorb in die öffentlichen Verkehrsmittel dürfen. Langsam ein klein wenig Normalität, sagt er, aber die Leute kriechen zerzaust aus ihren Höhlen wie ein Murmeltier nach dem Winterschlaf, ein wenig mager und noch schläfrig.
Ich besitze zwar keine Waage, glaube aber, dass ich in den letzten Wochen eher zu- als abgenommen habe, vielleicht zwei Kilo oder drei, was vor allem dem Mangel an Bewegung geschuldet ist. Andererseits haben Zeitmangel und Arbeitsbelastung die Sorge um Nahrungsaufnahme in den Hintergrund treten lassen, was sich wiederum vorteilhaft auf das Gewicht ausgewirkt haben könnte. Wahrscheinlich löscht ein Effekt den anderen aus, und ich behalte jenes Normalgewicht, auf das sich mein Körper schon vor etwa zehn Jahren eingependelt hat.
Im verlegenen Zuklappen des dreckigen Backrohrs: Das kannst jetzt mit dir selber ausmachen.
Die Menschensammlerin sagt: Es gibt nichts Schöneres, als zu bauen und nebenher Dinge anzuhören. (Am liebsten Augen. Und man mag sich vorstellen, wie ihre Puppenwesen im Einsetzen dieser Objekte zum Leben erwachen und ihre wundersame Theaterseele eingehaucht kriegen.)
Ober-Virologe im Podcast des Norddeutschen Rundfunks, Folge sechsundvierzig: So, das ist also diese stufenweise Effektivität, summiert sich aber auf. Das hält jetzt nicht die einzelnen Maßnahmen separat auseinander. Man kann natürlich trotzdem rechnen, wenn man das jetzt mal so ganz, fast schon pedantisch, wissen will. Jetzt teile ich mal hier am Taschenrechner 0,15 durch 0,25 – die Viola würde wahrscheinlich die Hände überm Kopf zusammenschlagen – (kichert) und kommen hier auf einen Wert von 0,6, und würde sagen, 40% Reduktion, ja. Also ich bin, das wird hier fast schon humoristisch, wie wir hier mit den Zahlen umgehen, aber dennoch: Ich finds, man soll das ruhig mal machen, ja, also jetzt reden wir mal auf diese grobe Art und Weise.
Moderatorin: Zur Veranschaulichung.
Ober-Virologe: Hoch komplizierte wissenschaftliche Arbeit.
Kostümparty in der Nervenheilanstalt. Niemand braucht eine Verkleidung, alle gehen als Verrückte, die vorgeben, normal zu sein. Erdbeerbowle und Krapfen gibt es auch.
Mein liebster Spam ist ein handgeschriebener Brief aus Uganda, den mir der Arzt-Freund weitergereicht hat. Ich glaube, ursprünglich stammt er von seiner Cousine, die ebenfalls als Ärztin arbeitet.
Das Kuvert ist beige wie scharfer Senf, das doppelt gefaltete Papier liniert mit Korrekturrand. Der Brief stammt von einer gewissen Mary. Ihr Englisch ist sauber und schlicht, ihre in blauem Kugelschreiber über die eineinhalb Seiten flitzenden Buchstaben angenehm kantig und leserlich.
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Sie sende ihre bescheidenen Grüße im mächtigen Namen von Jesus Christus. Sie danke Gott für diese Gelegenheit, mir in seinem Namen zu schreiben. Mit ihren bescheidenen Grüßen bete sie freundlich zu meiner elterlichen Liebe, sie in dieser schweren Stunde zu adoptieren. Sie sei ein Waisenkind von achtzehn Jahren und der Vormund einer Familie, bestehend aus ihren zwei kleinen Schwestern und ihrem Bruder. Die gesamte Verantwortung, für sie zu sorgen, raste auf ihren Schultern seit dem schmerzhaften Mord an ihren Eltern. Sie sei außerdem eine Schülerin an der St. Francis Nsambya Hospital Training School of Nursing & Midwifery in Kampala, Uganda. (Eine kurze Internetrecherche offenbart, dass es sich dabei um die Hauptstadt handelt.)
Die Tragödie habe begonnen mit dem Mord an ihren Eltern, als Rebellen nachts ihr Heim attackiert, sie mit Seilen gefesselt und geschlagen hätten. Die Gang habe ihre Mutter vor ihren Augen vergewaltigt und ihr ein Stück sehr scharfen Metalls in die Geschlechtsteile gerammt.
Nach dem Mord an ihren Eltern konnten sie vorerst bei ihrer alten Großmutter unterkommen, die einen Teil ihres Landes verkauft habe, um die Schulgebühr zu bezahlen und ihr den lang gehegten Wunsch zu erfüllen, eine Krankenschwester zu werden. Sie habe für das gesamte erste Jahr bezahlt, und sie habe gut gelernt, wie ich an beigelegtem Zeugnis des letzten Jahres sehen könne. (Ein solches Zeugnis liegt nicht bei, vielleicht hat es der Arzt-Freund vergessen.) Doch leider sei ihre Großmutter vor drei Monaten an einem Herzinfarkt gestorben und hinterlasse sie ohne irgendjemanden, der ihnen helfen könne in Bezug auf Essen und Schulgebühr, und seitdem sei es eine Katastrophe, mit ihren armen Geschwistern zu überleben.
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Manchmal würden sie ohne Essen ins Bett gehen, und die Administratoren der Schule bräuchten Schulgebühren in Höhe von 960 Euro innerhalb eines Monats, andernfalls würde sie vom Unterricht suspendiert, und sie liebe ihren Kurs, den sie ein volles Jahr lang belegt habe.
Dear friend, schreibt Mary und appelliert an meine christliche Nächstenliebe: Sie habe keine Möglichkeit, die verlangte Schulgebühr aufzubringen, so gern sie auch ihren Kurs weiterführen und ihren armen Geschwistern in Zukunft helfen würde, sie seien arme, elende Waisenkinder, wer nur werde ihnen in Zukunft helfen, wenn sie daran scheitere, zu lernen?
Das sei der Grund, aus dem sie weine um meine elterliche Liebe, sie zu retten mit der erforderlichen Schulgebühr, sodass sie fortsetze, sie bitte mich sehr freundlich, den Schuldirektor zu kontaktieren mit der E-Mail-Adresse am beigelegten Zeugnis, um mehr Details über sie zu erfahren. (An dieser Stelle muss Mary leicht unkonzentriert gewesen sein, da ihr der Satzbau etwas entglitten ist.) Ich solle ihr bitte aus diesem Problem heraushelfen, sie brauche wirklich meine Hilfe, Gott werde mich reichlich dafür segnen, ihnen zu Hilfe zu kommen. Sie verbleibe meine sich in großer Qual befindliche Mary.
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Unschlüssig drehe ich den Brief in der Hand. Was, wenn es Mary wirklich gibt?
Hätte er doch wenigstens den Anstand gehabt, mir ordentlich die Meinung zu sagen.
Sich bei den Menschen einsam fühlen wie London in England.
Das einzige, was noch mehr wehtut, als sich zu sehen, ist, sich nicht zu sehen.
Nachdem ich gestern den Mann vom Lande gemimt habe, werde ich heute zum tschechischen Käfer. Passgenaue Altnotiz: In einer israelischen Messie-Wohnung ruht der Nachlass Franz Kafkas, den dessen Vertrauter Max Brod nach und nach seiner Sekretärin schenkte. Über Umfang und Inhalt kann nur spekuliert werden. Es handelt sich um Tagebücher und Briefe, auch Prosa-Skizzen und Zeichnungen sind darunter. Angeblich ist die Wohnung von Ungeziefer befallen, es riecht nach Urin. Man stelle sich vor: Unbekannte Kafka-Schriften, ungehobene Kafka-Schätze, getränkt in Katzenpisse. Teile des Konvoluts wurden bereits in diverse Richtungen verscherbelt.
Ich stelle mir ein Kammerspiel vor, eine Familien-Groteske, die in dieser stinkenden, vom Geist des undurchschaubaren Franz durchsetzten Müllhalde ihren Lauf nimmt. Durch die Wände dringt das Flehen der Germanisten, das Restwerk des Weltschriftstellers der Menschheit nicht länger vorzuenthalten, doch es verhallt ungehört. Die Familienmitglieder sitzen auf Papierstapeln, hungrige Katzen verkommen zu ihren Schatten, sie pratzen beleidigt umher. Man wohnt der Zerstörung von etwas Unwiderbringlichem bei, und dem gekränkten Streit um Geld. Kafka hätte sich gefreut. Besser als verbrennen, sagt er zu seinem Freund Max Brod.
– Ich heirate.
– Wen denn?
– Meinen Mann.
Buchgeschäfte sind voll mit behaupteter Literatur.
Frage: Warum schreiben Sie?
Antwort: Weil es ja sonst niemand macht.
Man hat ein Recht auf seinen Schmerz.
Entrümpelung der Wirklichkeit. Zum Vorschein kommt man selbst.