Die seltsamen Zeiten gehen vorbei. Jedenfalls die Kernzeit der Krise nähert sich dem Ende. Ich merke es auch daran, dass die Sprache ausdünnt, weil vieles gesagt ist und nicht mehr allzu viel Neues gesagt werden muss. Gesagt werden soll nur Neues, man braucht nichts Altes wiederzukäuen. Schon recht früh habe ich die Kernzeit auf etwa drei Monate angepeilt, und insgeheim für mich beschlossen, dass ein Narrativ über hundert Tage gehen könnte, weil es eine schöne runde Zahl ist. Jetzt bin ich erleichtert, dass sich die Schätzung bewahrheitet hat.
Wir kehren zurück zur Normalität, wenn auch mit Vorbehalt. Und wir tun es nur in manchen Bereichen des Lebens. Dass uns die Ereignisse noch weiterbegleiten, steht fest, seine Auswirkungen werden noch in vielen Jahren zu spüren sein – wenn nicht mehr in wirtschaftlicher, dann in sozialer, philosophischer, ökologischer Hinsicht. Und wer weiß: Im Herbst und Winter stellt sich die Frage einer zweiten Welle. Wie unwahrscheinlich uns eine solche im Moment auch erscheinen mag, es könnte sie geben. Es wird dann interessant sein, ob wir ähnlichen Fallzahlen mit anderen Mitteln begegnen, ob wir die Krankheit laufen lassen und ihr mehr Spielraum geben, indem wir sie einordnen als eine unter vielen, der man zwar mit dem gebotenen Respekt, jedoch nicht mit panischer Angst und kopflosem Handeln begegnen sollte.
Falls es eine zweite Welle gibt, werden wir aus der ersten wichtige Lehren gezogen haben. Vielleicht auch jene, dass die Menschen nicht alles mit sich machen lassen sollten. Hätte es uns und unser Gesundheitssystem härter getroffen, würde der Blick in die Zukunft weniger unbeschwert sein, und die Einschätzung des Kommenden weniger leichtfertig. Wahr bleibt weiterhin, dass man aus all dem kaum schlau werden kann. Widerborstig mitschwingen ist alles, was uns bleibt. Das verlangen uns die Ereignisse ab.
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Die Kernzeit von Corona tröpfelt aus, und damit auch das Narrativ. Bei hundert Notizen ist Schluss. Was ein Vorspiel hat, soll auch ein Nachspiel haben, und erhält erst so den schlüssigen Verlauf. Es ist wichtig, etwas stimmig zu beenden, um das Bisherige nicht zu entwerten. (Gerade im Zwischenmenschlichen leuchtet uns das ein.) In drei Wochen ist alles auserzählt.
Man muss sich die Zeit nehmen, in Ruhe und Würde den Schlusspunkt zu setzen, alle Fragen einer Antwort zuzuführen, auch wenn es oft eher dem Verschorfen einer Wunde gleichkommt, die unter der Kruste weiterhin offen bleibt, und schmerzt und schwelt. (Notdürftiges Verarzten der Überforderung.) Man muss hochdämmern und das Auftauen der Sinne mitempfinden, jeden Finger und jede Zehe in den neuen Tag begrüßen. Nach hundert Tagen werde ich zurückschauen und mich wundern, aus welcher Art von Traum ich aufgewacht bin – dass es ein Albtraum war, stimmt nur so halb.
Eine junge Frau zieht an einer Zigarette und sieht dabei irgendwie gemein aus. Sie tut dem Filter absichtlich weh.
Ein Nachtspaziergang über den Gürtel. Alles noch unangenehm zu. Bei der Burggasse, vor der Hauptbücherei, sind alle Essensbuden tot, beleidigt haben die Standler ihre Jalousien heruntergezogen. Ein Abstecher zum Pinkelbusch, um mich geschützt vor Blicken zu erleichtern. Die Gürtelnacht ist langweilig. Um die Lokale verziehen sich ein paar Gestalten. In der Nacht sind alle Menschen ungefähr. Die Stadt soll zurückkehren in ihre aufgekratzte Gesprächigkeit.
Trägt ein Hund in der U-Bahn keinen Beißkorb, hat er Angst vor sich selbst.
Kanalarbeiten, ein edles Geschäft. Eine wichtige Straße wird dafür abgesperrt. So geht das also: Da wird das neue Programm der Freiheitlichen Partei ausgehoben – mitternachts bei Vollmond. In den tiefsten Tiefen werden sie fündig, im Morast der niedersten Triebe. Man gräbt es hervor und ist gut gestellt für den kommenden Herbst. (Die größte Leistung der Freiheitlichen Partei in den letzten Jahrzehnten ist die Herstellung und Distribution von brauchbaren Kugelschreibern als Wahlkampfgeschenke. Rechtspopulisten waren schon immer fähige Straßenkeiler. Auf die Qualität ihrer Kugelschreiber dürfen sie sich wirklich etwas einbilden. Und auf die regelmäßigen Abspaltungen als selbstloser Dienst an der Demokratie.)
Rolltreppenreinigung ist das edelste Geschäft. (Geistesgegenwärtig auf der Rolltreppe einen Schritt zurück machen, um mit dem Vordermann nicht auf Arschhöhe zu sein.)
Ausritt mit dem Anwalts-Freund. Längst geht er wieder normal ins Büro. Wir plaudern durch abklingenden Sommerregen. Er berichtet vom Gutachten eines Historikers und beschreibt ein geschichtsdidaktisches Vermittlungskonzept (wieder so ein unerbittlicher Begriff, der gleich mitnotiert wird, in der Juristerei kennt man die besten Wörter). Von dem, was mein Freund erzählt, verstehe ich wie immer nur die Hälfte, doch ich lausche den Ausführungen wie einem verrätselten Gedicht, und genieße es sehr. Ich bin die Kuh, die Mozart hört, und gebe gute Milch.
Wir essen wo draußen einen Burger und trinken zwei Bier. Ich habe den einen oder anderen Gin Tonic Vorsprung, meine abendliche Entspannungsübung zum Bündeln der Kraftreserven. (Am schönsten sind Tage ohne Büro, sage ich, da kann ich mich ganz auf die Arbeit konzentrieren. Er lacht bitter.) Wir sitzen halb im Regen, unter dem Übergang von einer Markise zur nächsten. Die Kellnerin schlägt uns den frei gewordenen Nebentisch vor. Dankbar gehorchen wir. Das Bier ist bernsteinfarben. Die Gläser werden eingefettet von den Händen. Der Burger zerfällt. Es schmeckt gut. Nach dem Essen gehen wir spazieren.
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Wir kommen an der Republik Österreich vorbei. Auf der Tür steht: Bin erreichbar unter – dann eine unscheinbare Mobilnummer. Ich wähle sie. Die Republik Österreich hebt ab und fragt, worum es geht. Im selben Moment öffnet sich die wuchtige Tür und die Republik Österreich stellt sich uns persönlich in den Weg. Ich lege auf. Die Republik Österreich blickt uns skeptisch an, jedoch nicht vorwurfsvoll. Ihre Maske hat sie aufs Kinn geschoben. Wir erklären, dass wir nicht stören wollten, sondern nur die Nummer ausprobieren. (In spätpubertärem Übermut mit angetrunkener Courage, vergesse ich zu sagen.) Wir seien sicher gewesen, bloß ein Tonband zu hören. Am Schild seien keine Öffnungszeiten vermerkt gewesen.
Die Republik Österreich mustert das Türschild und nickt. Stimmt, sagt die Republik Österreich, vielleicht sollte da etwas stehen. Die Republik Österreich spricht mit böhmischem Akzent, was ja auch irgendwie passt. (Später freut sich der Anwalts-Freund, dass die Republik ins Ausland outgesourced wurde.) Allgemeine Erheiterung. Wir entschuldigen uns bei der Republik Österreich und versprechen, uns nicht mehr zu melden. Es sollen nur noch wichtige Leute anrufen, die wirklich etwas brauchen. Die Republik Österreich ist nicht böse. Wir verabschieden uns. Die Republik Österreich ist immer für einen da.
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Türhüterparabel Light oder Türhüterparabel Revisited oder Türhüterparabel Remix. Die Geschichte des Mannes vom Lande hätte auch ganz anders ausgehen können, und anfangen übrigens ebenso. (Vom Dazwischen gar nicht erst zu sprechen.) Die Republik Österreich verhält sich ganz anders als der unerbittliche Türhüter bei Kafka. Sie macht jedem auf, man erhält sofort Zutritt. Sie fragt einen nach dem Anliegen und ist bestrebt, einem weiterzuhelfen. Bestimmt würde sie einen ohne Murren hineinlassen, wenn man darum bittet.
Die Republik Österreich stellt Kafka auf den Kopf. In dieser Abwandlung der Geschichte – mit anderer Parabel und ganz neuer Moral – ist es der Besucher, durch den alles ins Stocken gerät, weil ihm nicht einmal einfällt, was er überhaupt braucht, ob er nun drinnen oder draußen sein soll. Damit ist die Chance verspielt. Und so bald wird es keine zweite mehr geben. Vielleicht ändert die Republik Österreich ja ihre Nummer oder nimmt den Zettel von der Tür, dass sie nicht so oft gestört wird. Man muss schon wissen, was man will. Sonst gehen die Menschen kopfschüttelnd auseinander und sind durch die Geschichte auch nicht schlauer geworden.
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Vor dem Gesetz
Vor dem Gesetz ist eine Tür. Zu dieser Tür kommt ein Mann vom Lande und sieht, dass darauf ein Zettel angebracht ist. Auf diesem Zettel steht eine Telefonnummer. Der Mann vom Lande wählt diese Nummer, woraufhin sich die Tür öffnet. Ein Türhüter erscheint und fragt den Mann vom Lande, was er wünsche. Dieser ist erstaunt und murmelt, dass er kein Anliegen habe. Der Türhüter nickt. Der Mann vom Lande überlegt und fragt dann, ob er also später werde eintreten dürfen.
„Es ist möglich“, sagt der Türhüter, „jederzeit“.
Der Mann vom Lande kratzt sich am Kopf. Damit hätte er nun wirklich nicht gerechnet.
Stell dir vor, du wärst das Wetter – würde es dir nicht auch hin und wieder regnen?
Oder:
Stell dir vor, es ist Wetter, und keiner geht raus.
Und:
Wegen dem bisschen Sommergewitter mach ich mir doch nicht den Schirm nass.
Sowie:
Auch eine Plastikgabel schützt vor Regen; nur eben nicht sehr gut.