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78 Dienstag, 02.06.2020

Die Sonne dreht uns immer das Licht ab. Wie Kinder laufen wir zum Schalter und drehen es wieder auf.

Der Schlüsselbund als praktische Fußgängerklingel. Ihn herausholen und damit rasseln, sodass die Leute betrunken zur Seite schlingern. Nach Belieben und überall, nicht nur in der Einflugschneise zum eigenen Haustor.

Dreinschauen, als würde man im Moment entscheiden, dass Menschen Gesichter haben.

Beim Zahnarzt zur halbjährlichen Kontrolle. Nach Betreten der Praxis sofort die Bitte, sich zunächst die Hände zu waschen. Im winzigen Toilettenraum gibt es rosarote Flüssigseife, die auf der Haut einen runden Butterfilm hinterlässt. Zum Beweis bleibt die Tür angelehnt. Ein zweiter Versuch, sich dem Empfangstresen zu nähern, das Portemonnaie entsichert und geladen. Die Sprechstundenhilfe deutet belehrend, aber nachsichtig auf den Desinfektionsmittelspender, der etwa auf Brusthöhe in der Wand angedockt hat. Mit bravem Schnurren spuckt er mir ein weich riechendes Sekret in die Hand, was kontaktlos geschieht. Ich verreibe es mir, die Handflächen schimmern feucht. Tropfspuren am Boden hoffen auf Schritte. Ich hole ein weiteres Papierhandtuch aus der Toilettenkapsel, um mich abzutrocknen. (Beide Male betätige ich die Türschnalle gewissenhaft mit dem Ellbogen; er fühlt sich geehrt und ist sich seiner Verantwortung bewusst. Der Ellbogen ist das Knie des Arms, denke ich.) Jetzt aber. Zum dritten Mal fordere ich die Sprechstundenhilfe mit offenem Scheckkartenfächer zum Duell heraus, und ihr Lächeln kommt nicht mehr dagegen an. Ich darf.
(Die runde Butter antwortet dem weichen Geruch.)
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Der Warteraum ist zu sauber wie ein Geschäft, das zu ordentlich ist. In einer der Polstermuscheln nistet ein Mann, der ein Warten lang vergessen hat, wie unglücklich ihn alles macht. Wir gehören zusammen, wissen es aber nicht. Beide sind wir Schaufensterpuppen für die neueste Maskenmode. (Abermals fällt mir ein, dass ich die Maske dringend waschen oder in kochendes Wasser legen, sie also auskochen sollte. Mittlerweile ist sie wohl das Gegenteil von keimfrei, eher eine verdreckte Virenschleuder; verknote ich sie bloß unten, dann baumelt sie mir herunter wie ein schludriges Lätzchen.) Ich werde aufgerufen, obwohl ich doch erst nach dem Mann bestellt habe. Aus schlechtem Gewissen kribbelt ein Körperteil, das es vorher nicht gab. Ich nicke dem Mitwartenden entschuldigend zu. Er versteht.
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(Eine überholte Altnotiz: Ich habe meinen Zahnarzt im Verdacht, dass er bei den halbjährlichen Routinekontrollen winzige Verfärbungen bewusst übersieht und auf sich beruhen lässt, um dann ein, zwei Jahre später einen Eingriff vornehmen zu müssen, also tief in den Zahn zu bohren – was ihm kranke Lust bereitet –, und eine Füllung anzubringen – was er teuer verrechnen kann. Anstatt etwas im Keim zu ersticken, indem er kurz und entschlossen darüberpoliert, beobachtet er geduldig einen schleichenden Verlauf, der ein hartnäckiger Verfall ist. Mein Zahnarzt ist wie alle ein Verbrecher. Dennoch habe ich auch weiterhin ein entspanntes, beinahe freundschaftliches Verhältnis zu ihm.)
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Es ist alles in Ordnung, auf dem frisch angefertigten Röntgenbild zeigt sich in den Zwischenräumen keine Zahnsteinbildung. Der Arzt rät mir sogar von einem Termin bei der Mundhygiene ab, da sich das noch nicht auszahle. Ich kann es kaum glauben, habe mit den üblichen Ermahnungen und Füllungen gerechnet, und mit der damit verbundenen finanziellen Belastung, diese bereits fest eingeplant. (Stopft man das Loch im Zahn, reißt man eines im Bankkonto auf.) Mit einiger Beschwingtheit verlasse ich das Behandlungszimmer und mache einen neuen Termin aus. In meiner Abwesenheit sind die Tropfen gewachsen. Der andere wartet noch immer. Er sitzt da als ganz dürftige Behauptung. Armer Mann.

Mit dem Essen kommt der Appetit, und oft erst beim Schreiben die Lust darauf. Dann aber richtig.

Beim Notieren unterwegs fällt mir am Zebrastreifen ein Wort nicht ein. Ich schreibe: Das zynische Ausschlachten einer (Fremdwort) Bevölkerungsgruppe. Solche Platzhalter verwende ich manchmal, um den Gedankenstrom und Schreibfluss nicht zu unterbrechen. Diesmal halte ich jedoch inne, um diese Angewohnheit zu verstehen. Denken heißt, einer Sache liebevoll das Geheimnis herausmassieren.
Das Wort fällt und fällt mir nicht ein. Es ist lauwarm und hat braunes Haar. Zum Glück ist die Ampel lange rot und ich habe Zeit, es zu fangen (mein Petri zu heilen). Auf der gegenüberliegenden Straßenseite postiert sich ein fremder Mann. Ach, du bist es, denke ich, du wirst mir helfen. Er steht da mit einem Rauhaardackel, der schwer an sich herumschleppt, obwohl er gern längst sterben würde. Die Leine baumelt als ausrangierte Galgenschlinge.
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Der Mann trägt einen grünen Pullover, dem aus dem Hals ein Hemdkragen blitzt, seine Lederjacke erfindet ein Beige. Er steht zur Ampel in Spannung wie vor einem Feind. (Es gibt zwei Arten von Menschen: solche, die mit der Ampel warten; und solche, die gegen die Ampel warten. Ampeln erblinzeln den Unterschied und passen die Dauer ihrer Phasen dementsprechend an.)
Marginalisiert, denke ich, ein warmes, karamelliges Wort. Das zynische Ausschlachten einer marginalisierten Bevölkerungsgruppe, wollte ich schreiben. Danke, Mann. Das Fremdwort ist mir eingefallen, weil er einen grünen Pullover trägt und sein Dackel sterbensalt ist. Obwohl es keinen Sinn ergibt, wird die Begründung doppelt unterstrichen. Petri heilt. Beim Überqueren der Straße verheddere ich mich beinah in den Hund.

Wie viel ich von wartenden Männern erzähle – als gäbe es keine wartenden Frauen. Wahrscheinlich haben sie Besseres zu tun.

Die Kochlust hält sich neuerdings in Grenzen.

Alle Menschen, die mir entgegenkommen, schauen mich böse an. Sie wissen Bescheid.

Die Ankunftshalle am Flughafen. Verschiedene Leute treten auf die Bühne ins Licht, um sich zu präsentieren, manche haben Rollkoffer im Schlepptau. Sie werden den Wartenden vorgeschlagen. Jeder sucht sich einen aus, den er mit nach Hause nehmen darf.

Vergessen werden fühlt sich an.