Kategorien
Allgemein

74 Freitag, 29.05.2020

Der Abend beginnt auf der nur zögerlich belebten Einkaufsstraße, mit einem Dosenbier beim Inder, dessen winziges Restaurant den Geruch von hausgemachtem Curry verströmt. Da die Supermärkte bereits geschlossen haben, sind mein Bekannter und ich gezwungen, auf solche Läden auszuweichen, in denen noch eine Kühltruhe summt. Der Curryduft lässt einem das Wasser im Mund zusammenlaufen, doch mein Bekannter ist nicht hungrig und ich habe etwas anderes im Sinn. Wir spazieren mit unserem Bier die Straße entlang, nehmen kaum wahr, wie sich die Fußgänger- in eine schwammige Begegnungszone verwandelt, und wieder zurück. Beim Westbahnhof haben wir ausgetrunken und betreten ein Fastfoodrestaurant.
Hier esse ich mit ungewaschenen Händen einen kleinen Burger und große Pommes Frites, was in Zeiten wie diesen wahrscheinlich noch weniger klug ist als sonst. Leider habe ich kein Feuchttuch im Außenfach des Rucksacks. Die eiskalte Limonade stört angenehm den Magen auf. Wir sprechen über alles.
*
Das nächste Bier gibt es im angrenzenden Bahnhofssupermarkt, hier darf man länger offenhalten, wohl bis zweiundzwanzig oder dreiundzwanzig Uhr. Wir trinken und durchstreunen den Bahnhof, wie wir es schon manchmal getan haben. Durchgangsorte wie Bahnhöfe, Flughäfen oder Einkaufszentren sind romantisch, sie verströmen eine heimelige Melancholie. Sich dort aufzuhalten, ohne einen Grund dafür zu haben, ohne also eine Reise anzutreten, jemanden nach langer Abwesenheit in die Arme zu schließen oder einen Kauf zu tätigen, ist wie der Besuch in einer Nebengasse der Zeit. Irgendwie hat man sich aus dem Spiel genommen und darf Gedanken nachhängen, die einem sonst nicht zustehen. Man verweilt sinnlos und grundlos an Orten mit besonderer Funktion, ohne sie in Ansrpuch zu nehmen: so geht Freiheit. Begegnungsorte des Städters mit sich selbst. Wir gehen die Einkaufsstraße zurück, ungefähr in der Mitte biegen wir ab.
*
Das dritte Bier gibt es beim Pub am Eck, in dem auf einigen Tischen Billard gespielt werden kann. Wir gehen auch deshalb hinein, weil wir mittlerweile beide aufs Klo müssen. Nur wenige Plätze sind belegt. Schweißgeruch liegt in der Luft, der vermutlich vom Barmann ausgeht. Als er uns bedient, zieht er eine Schweißfahne nach. Doch insgesamt sitzt im Holz ein Müffeln, das bis letztes Jahr vom Zigarettenrauch hinreichend übertüncht wurde. So riechen Pubs eben.
Für meinen Bekannten ist es das allererste gezapfte Bier seit Beginn der seltsamen Zeiten, für mich bereits das zweite, oder, wenn man es genau nimmt, eigentlich das dritte, denn beim allerersten Essen in einem türkischen Restaurant habe ich mir zwei hintereinander genommen. Wir schauen auf die Uhr, es ist bald elf. Heutzutage muss man sehr aufpassen, sich nicht zu verplaudern. Zwei Minuten vor – oder zwei Minuten nach? – der offiziell gültigen Corona-Sperrstunde verlassen wir das Pub, vor dem sich eine Traube angeheiterter Raucher versammelt hat. Auch im Inneren des Lokals sind noch ein paar Gäste, von denen manche recht volle Gläser auf dem Tisch stehen haben.
*
Vor den geschlossenen Lokalen stehen Menschen, die Minuten zuvor hinausgeworfen oder immerhin hinauskomplimentiert worden sind. Sie wirken unschlüssig, wie der Abend weitergehen soll, hat er doch für einige gerade erst begonnen. In den mitgehörten Gesprächsfetzen ist die Rede von Parks, in die man sich stattdessen verziehen könnte, oder jemand lädt in seine Privatwohnung ein. Die Menschen finden immer einen Weg, sich in geselliger Runde alkoholische Getränke zuzuführen, das ist eine der Grundkonstanten unserer Zivilisation.
Mein Bekannter und ich, wir haben Hunger, er wieder und ich noch, also gehen wir zum Pizzastand, der ebenfalls bereits am Zusperren ist. Wir legen rasch die Stoffmasken an, ganz routiniert, wie für einen spontanen Überfall zwischendurch. In der Vitrina warten Pizzaschnitten hinter Glas. Der Pizzabäcker schiebt unsere Bestellungen ins Rohr, um sie aufzuwärmen. Da es bereits so spät ist und er die Ware loswerden muss, spendiert er uns zu den bezahlten zwei Schnitten gleich zwei weitere. Wir geben Trinkgeld und nehmen aus Dankbarkeit und Freude jetzt doch noch ein Bier, um die viele Pizza hinunterspülen zu können. Jeder von uns spaziert mit übergroßem Pappteller und kalter Dose weiter. Ungesunder Abend, denke ich.
*
Wir überlegen, uns irgendwo auf eine Parkbank zu setzen. Oder sollen wir rasch zu mir?, fragt mein Bekannter. Nein, sage ich, bleiben wir hier. Wir finden eine Hausecke mit einem schmalen Fensterbrett, das uns als behelfsmäßige Ablage dient, sie ist leicht angeschrägt, jedoch eben genug, um ein Dosenbier hinstellen zu können. Im Gehen oder im Stehen zu essen, ist ein großes Vergnügen. Sandler-Style, sage ich, als Verballhornung des berühmten südkoreanischen Pop-Hits und deute die dazugehörigen Tanzschritte an, ohne dabei etwas fallenzulassen.
Wir scherzen, dass eine Coverversion samt entsprechendem Video mit Sicherheit ein großer Erfolg werden würde, allerdings sehen wir schon die empörten Schlagzeilen vor uns, und die Pressemitteilungen von Nichtregierungsorganisationen, in denen sie anprangern, wie respektlos und zynisch es sei, aus einer derart marginalisierten Bevölkerungsgruppe auch noch Profit zu schlagen. Angehängt an solche Aussendungen wären umfangreiches Zahlenmaterial und ein Forderungskatalog zur Armutsbekämpfung. Dabei wollten wir doch nur ein unterhaltems Lied darüber machen, wie schön es ist, auf der Straße etwas zu essen und ein Bier zu trinken. Wir lassen das mit der Coverversion.
*
Die Pizza schmeckt vorzüglich. Als mein Teller leer ist, falte ich ihn in den Mistkübel. Da mein Bekannter nicht mehr alles schafft, klaube ich mir auch von seinem noch ein letztes Stück. Ich wusste gar nicht, wie verfressen ich bin. Wir haben über alles gesprochen. Manchmal reißt uns jemand den Boden unter den Füßen weg, und es bleibt einem nichts anderes übrig, als wild mit den Armen zu fuchteln, um nicht in den Abgrund zu fallen. Wer immer behauptet hat, die Zeit mache Dinge besser, hat sich geirrt. Sie gibt einem nur Gelegenheit, sich über die Ausmaße einer Verdunkelung im Klaren zu werden. Wenn überhaupt, dann ist Zeit die grausame Einübung von Gleichgültigkeit. Man erreicht dann einen Punkt, an dem Worte keinen Unterschied mehr machen. Entscheidungen werden getroffen. Die Stille dröhnt.
Als wir ausgetrunken haben, geht mein Bekannter nach Hause, und ich biege ab zur Station. So endet der Abend.