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71 Dienstag, 26.05.2020

Unerbittlicher Begriff: Referenzszenario

Im Traum schreibt mir ein Bekannter, über den kommenden Sommer genieße er erst einmal die Große Freiheit. Aber das ist doch eine Straße, denke ich.

Beim Abgang zur U-Bahn ein Mann, an dem etwas nicht stimmt. Weird kommt mir als Wort in den Sinn. Es braucht ein paar Sekunden, bis ich dahinterkomme, was mich an seiner Gegenwart so irritiert: Er nimmt beim Hinuntergehen zwei Stufen auf einmal; ein Verhalten, das bei der umgekehrten Richtung, also beim Hinaufgehen, nicht bemerkt werden würde. (Bei Kindern ist ein mühevoller Satz über zwei oder sogar drei bis vier Stufen gleichzeitig ein beliebter Sport.)
Sein Gehen sieht sehr unbeholfen und angestrengt aus, es ist kein natürlicher Vorgang, noch dazu klackern dabei seine Schuhsohlen. Ich attestiere seinem eiligen Bergabschreiten ein erhöhtes Unfallrisiko und mache mich darauf gefasst, ihm für seine blutige Nase ein Taschentuch reichen zu müssen. Ich greife in die Hosentasche und hole sicherheitshalber eine Packung hervor. Der Mann ist Brillenträger, es bleibt also zu hoffen, dass beim Sturz das Glas nicht zersplittert und in seine Augen eindringt. Ich sehe ihn erblinden.

Einmal fragte mich die Schnitzelfrau – bei der ich mir jeden Montag ein Schnitzel mit Pommes Frites hole –, ob ich bei der Bücherei arbeiten würde, denn sie habe mich dort im Vorbeigehen schon öfter gesehen. Ich verneinte, war jedoch unheimlich stolz auf dieses Missverständnis, zeigt es doch, dass ich ausreichend Zeit an diesem Ort verbringe, um für einen Bibliothekar gehalten zu werden. Heute war ich das erste Mal seit Wochen wieder in der Bücherei, und alles wirkte noch ein bisschen fremd.
Im Türbereich gibt es zwei abgetrennte Spuren für Betreten und Verlassen der Filiale, fußförmige Bodenmarkierungen zeigen die Gehrichtung an, was reichlich übertrieben wirkt. Hinter einer großen Flasche Desinfektionsmittel ist eine Empfangsdame postiert, die bei Bedarf Einwegmasken verteilt. Sie sieht sehr jung aus, wahrscheinlich eine Jugendliche, die hier ihre Lehre absolviert. Die (echten) Bibliothekare tragen Schutzvisiere aus Plexiglas, was jeder Interaktion am Schalter den Anhauch des Verbotenen und Gefährlichen verleiht. Ich begnüge mich mit den einfach zu bedienenden Automaten, gebe einen lang ausgeborgten Kurzroman zurück, entleihe ein Sachbuch über das digitale Leben samt Aufruf zum Nachrichtenverzicht. Unterwegs lese ich ein bisschen hinein und merke, wie schon im ersten Kapitel die Entzugserscheinungen abgemildert werden. Ich stelle mich ein auf einen Sommer des Lesens.
Die Bücherei gehört noch nicht ganz wieder mir, doch ich werde sie mir als Ort zurückerobern, Tag für Tag und Buch um Buch. Und irgendwann wird mich die Schnitzelfrau fragen, ob ich mittlerweile nicht doch eine Stelle dort angenommen habe. Darauf arbeite ich hin.

Frühling ist die Zeit der Allergien. Die Stoffmaske sperrt Mund und Nase im Niesreiz ein. Juckender Mundwinkel, kitzelndes Augenlid. Rachenbrennen, dass man wüst hineinfahren und sich kratzen mag.

Ich erinnere mich an den Anblick des Nachbarn im Gegenüberhaus, wie er nach wenigen Tagen der Quarantäne bloß bekleidet mit einer Unterhose regungslos im abgedunkelten Wohnzimmer stand. Er wusste nicht, wohin mit sich. Eine Zeitlang stand er so, vielleicht zwanzig Sekunden, und horchte gebannt in die Stille. Ich schaute weg und ließ ihn stehen. Als ich später meinen Blick abermals auf die Nachbarswohnung richtete, hatte er ein Smartphone in der Hand. Verdunkel dich nicht, wollte ich über die Straße rufen, von Nacht zu Nacht.
*
Eine Nachbarin im selben Gegenüberhaus, allerdings in einer anderen Wohnung, hat an einem der ersten Tage der Quarantäne energisch Fenster geputzt. Sie stieg dazu auf eine Leiter, und ich machte mir Sorgen, dass sie hinunterfallen könnte, was jedoch nicht geschah. Es war schwül und sie putzte sich den Ärger aus dem wendigen Körper. Sie wusste sich von mir beobachtet. Den Unterhosenmann kennt sie nicht. Würde man eine Wand durchbrechen und ihre Wohnungen zusammenlegen, kämen sie gut miteinander aus. Ich denke die beiden zum Paar.

Eine Art Friseursalon, in den Leute gehen, um sich die Ohren abschneiden zu lassen, also eigentlich ein Ohr-Salon. Dort arbeitet ein Friseur, der den Leuten die Ohren abschneidet, aber manchmal aus Versehen ihre Haare erwischt, weil er so ungeschickt ist. Der hat zwei linke Hände, sagt man. Alle setzen sich brav hin, um sich ein Ohr oder beide Ohren abschneiden zu lassen. Die Ledersitze sind verstellbar und bequem. Jemand betritt den Salon und legt die Jacke ab. Ein Lehrlingsmädchen weist ihm einen Platz an der Spiegelfront zu. Es trägt eine abwaschbare Schürze.
Der Friseur ist ein quirliges Kerlchen, dem seine Arbeit trotz der Ungeschicklichkeit große Freude bereitet. Schon als Kind hat er anderen gern die Ohren abgeschnitten. Er redet zu viel, erzählt gern aus seiner einprägsamen Vergangenheit und von seiner ausländischen Familie. Richtige Friseure findet er lächerlich. Also, was die da immer mit den Haaren anstellen, lästert er und verzieht dabei angewidert den Mund. Jemand sagt dazu gar nichts. Er ist zum ersten Mal hier und noch recht unsicher beit dieser Art von Behandlung. (Für Ohr-Salons ist es schwierig, sich eine Stammkundschaft aufzubauen.) Ich habe einen anderen Anspruch, sagt der Friseur mit einem unmerklichen Lispeln. Wer lispelt, steht auf Männer, denkt jemand und erliegt seinem Vorurteil.
*

Man müsste die Leute für unmündig erklären, sagt der Friseur ohne Lispeln, jedenfalls was ihren Kopf angeht. Am besten solle den Leuten verboten werden, selbst zu bestimmen, wie damit verfahren werde. Die Verantwortung über Köpfe müsse an Experten übertragen werden, die sich ihr Leben lang mit nichts anderem auseinandergesetzt hätten als damit, wie bei der Ausübung ihres Handwerks der höchste Grad der Vollendung zu erlangen sei.
Jemand weiß, dass der Friseur dabei an sich selbst denkt. Weiß er von den zwei linken Händen? Das Lehrlingsmädchen ist grün im Gesicht. Jemand unterschreibt eine Einverständniserklärung. Der Friseur sagt, dass jetzt alles amtlich sei. Er streichelt die Schere. Jemand stammelt etwas Unverständliches. Ich weiß, es hat Ihnen die Sprache verschlagen, sagt der Friseur. Dann sagt er: Legen wir los.

Nach einer rastlosen Nacht und einem Tag, an dem kaum Zeit bleibt, ein paar gehetzte Bissen hinunterzuwürgen, sich die Nahrungszufuhr weitgehend auf Trinken beschränkt – zu wenig Wasser und zu viel Kaffee –, dass sich der Magen schon nervös zusammenkrampft, nach so einer Nacht und so einem Tag geschehen unterwegs seltsame Dinge, zum Beispiel eine am Bahnsteig stattfindende und nur Gesichter betreffende Halluzination. Manche Menschen sind erstaunlich blass. Leichenblass, fast weiß. Beim ersten Mal denkt man noch, es ist das sparsame Stationslicht, das ihnen einen derart ungesunden Teint verleiht, doch beim zweiten Mal schließt man diesen Zusammenhang aus. Man wird stutzig. Hat sich da jemand in der Früh mit dem Puder vertan? Die Menschen sind hell wie Haut. Beim dritten Mal wird klar, die Gesichtsblässe der anderen liegt an einem selbst. Um die Halluzinationen abzustreifen, braucht es Schlaf und regelmäßige Mahlzeiten.

Jede Großstadt macht ihre Bewohner anders müde.