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70 Montag, 25.05.2020

Der Arzt-Freund wendet sich in höchster Not an mich. Er steht in der Straßenbahn, vor sich eine eben geöffnete Bierflasche. Was er jedoch nicht bedacht hat: Dass er gezwungen ist, eine Maske zu tragen, die jeden Schluck aus der Flasche verunmöglicht (ein mittig eingestanztes Löchlein für den Strohhalm täte hier not.) Er bebildert die Verzagtheit mit einer sehr reduzierten Foto-Lovestory bestehend aus zwei Bildern.
Bild 1: Die offene Bierflasche.
Bild 2: Sein maskiertes Gesicht.
Bildunterschrift: Das war nicht wohl durchdacht …
(Die vom Wörterbuch empfohlene Schreibweise lautet wohldurchdacht, alternativ ist die von ihm gewählte jedoch ebenfalls zulässig.) Flaschenhals und bedeckter Mund als sehnsuchtswunde Romeo und Julia: Kein stoffern Bollwerk kann der Liebe wehren / Und Liebe wagt, was Liebe irgend kann.
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Das Karomuster der Alltagsmaske verleiht ihr eine schottische Anmutung, was durch die Farbpalette noch verstärkt wird; gefertigt wurde sie aus alten Boxershorts, also von kundiger Hand umgeschneidert. Hätte man die Unterwäsche in der ursprünglichen Form belassen und ihr lediglich seitwärts Gummibänder angetackert, könnte man sie zweierlei Verwendungen zuführen, sie also nahtlos wechseln lassen zwischen Gesäß und Gesicht – eine Unterscheidung, die bei manchen Vertretern der Spezies Mensch nicht allzu sehr ins Gewicht fällt (ich denke hier spontan an Funktionäre und Wähler rechtspopulistischer Parteien oder Enkeltrickbetrüger). Ein entsprechender Prototyp harrt seines Einsatzes – patent pending.
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Ich gebe zu bedenken, dass es zwar schade ist, auf den Genuss des frischen Bieres in der Straßenbahn verzichten zu müssen, es jedoch ohnehin verboten wurde, bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel alkoholische Getränke mit sich zu führen. (Letztes Jahr muss das gewesen sein.) Würde der Arzt-Freund sich also zu einem ungenierten Schluck aus der Flasche hinreißen lassen, machte er sich gleich in doppelter Hinsicht schuldig, einerseits durch das Verrücken der verpflichtenden Maske, andererseits durch das Getränk. (Fehlte nur noch der herzhafte Biss in eine Wurstsemmel oder jegliche andere Speise, deren Verzehr ebenfalls – letztes Jahr? – verboten worden ist.)
Bei mir schrillen alle Alarmglocken, ich prophezeie eine umgehende Amtshandlung durch den Innenminister persönlich, genauer gesagt eine Heimsuchung. Der Arzt-Freund jedoch ist der Meinung, er habe ja nichts getrunken, und damit sei alles kosher (der Duden sagt koscher). Ich beharre darauf: Der Transport von alkoholischen Getränken ist sträflich untersagt. Der Arzt-Freund konsuliert die offiziellen Verhaltensregeln der Wiener Linien und gibt Entwarnung: Es ist der Konsum, der unter peinlichster Strafe steht! Ich bin reichlich verwirrt, habe ich doch schon offene Bierdosen während der U-Bahn-Fahrt schamvoll in der Jackentasche festgehalten und erst nach dem Aussteigen wieder vorgezeigt. Das wäre also gar nicht nötig gewesen, man muss in flagranti erwischt werden, im eigentlichen Akt des Trinkens, die Lippen müssen den Flaschenhals – oder die Trinköffnung der Dose – klar umschließen. Der damit geschaffene Graubereich ist bedenklich, Anarchie scheinen Tür und Tor geöffnet.
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Ich bin ein großer Freund des überschießenden Verbots und der drakonischen Strafe. Wenn es nach mir ginge, sollten auch geringe Verfehlungen sehr streng geahndet werden. Auf der Rolltreppe nicht rechts stehen – Todesstrafe. Auf den Boden spucken – Todesstrafe. Beim Zähneputzen den Wasserhahn aufgedreht lassen – Todesstrafe durch Ertrinken. Todesstrafe für öffentliches Zehennägelschneiden. Todesstrafe für Lautsprechertelefonie. Todesstrafe für Manspreading.
Ein Bekannter schickte mir einmal eine Kurznachricht: er sehe jetzt endlich jenen Film, von dem ich ihm vor Wochen so begeistert erzählt habe. Ich wünschte ihm gute Unterhaltung. Später antwortete er, dass der Film ihm derweil sehr gut gefalle. Mit jetzt meinte er also jetzt, in diesem Moment. Er saß im Kinosaal und schrieb am Handy herum. Ich schimpfte mit ihm und forderte ihn auf, das Handy sofort wegzulegen, dabei hoffte ich, dass er mir darauf nichts mehr zurückschreiben würde. Als Antwort erhielt ich ein paar Mal Tränenlachen, sowie ein gehorsames Aye aye, sir! – die klassische Entgegnung auf einen Befehl in der Seefahrt. Das Kino ist ein heiliger Ort. Todesstrafe auf Handy-Benutzung. (Bei jeder Forderung nach der Todesstrafe schwingt vorerst noch ein gewisses Augenzwinkern mit.)
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Ich frage mich, warum ich so gut aufgelegt bin, denn dafür gibt es keinen Grund. Auf den Straßen Wiens nimmt das Unglück seinen Lauf. Ein durstiger Arzt fährt Straßenbahn.

Nachdenken über die unbestrittenen Vorzüge der Distanzgesellschaft.

Schirm-Shopping nur bei gutem Wetter.

Video-Interview mit einem niederländischen Tenor. Ausgebildete Opernsänger haben eine groteske Sprechstimme, die noch gekünstelter ist als ihr Gesang. Sie sitzt unangenehm tief, klingt seltsam offen und voll. Opernstimmen besetzen jeden Raum, den sie bespielen, dringen in all seine Ritzen ein, und drücken die anderen gegen die Wand. Eine weiche Gewalt. In den Worten schwingt ein Lächeln mit, das der geschulten Lippenspannung dient. Nichts scheint je ganz ernst gemeint, alles ist knapp daneben gesagt. Der Stimmenklang dröhnt warm in den Ohren. Opernsänger können singen, es klingt falsch. Opernsänger können nicht sprechen.

Draußen herrenlose Zischlaute – jemand spricht in Zungen.