Taxifahren sollte man nur in Ausnahmefällen: Wenn man es schrecklich eilig hat und dringend irgendwohin muss; wenn man eine Verletzung hat, zum Beispiel ein Gipsbein, und mit Krücken unterwegs ist; wenn man etwas transportieren muss, was mit den öffentlichen Verkehrsmitteln kaum zu bewerkstelligen ist (ich habe schon einen marmornen Kaffeehaustisch und ein Stagepiano in der U-Bahn befördert, das Klavier war laut Produktdetails des Herstellers zwanzigeinhalb Kilo schwer, die Marmortischplatte samt Stahlfuß sogar dreiundzwnzig Kilo. Lustig war beides allerdings nicht); wenn man so betrunken ist, dass man nicht mehr geradeaus gehen kann; wenn einem so schlecht ist, dass man Sorge hat, sich am Heimweg übergeben zu müssen (vielleicht sollte man aber gerade dann nicht Taxifahren); wenn es stark regnet und man nach wenigen Minuten klatschnass sein würde.
Ein anderer Grund fällt mir gerade nicht ein. Jedenfalls sollte man auf keinen Fall aus reiner Bequemlichkeit oder Ungeduld Taxi fahren. Dafür ist es einfach zu teuer. (Man sollte auch nichts aus der Minibar nehmen, bloß weil man faul im Hotelzimmer lümmelt und Lust auf gesalzene Erdnüsse hat; die hätte man sich in wesentlich größerer Menge und zu einem normalen Preis vorher im Supermarkt besorgen können. Die subtile Trennlinie zur Dekadenz.) Gleiches gilt für die bekannten Beförderungs-Apps.
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Dass die Nacht-U-Bahn noch immer nicht wieder fährt, ist mir entgangen. Deshalb bin ich nachts von der Station Hietzing heimspaziert, aus dem dreizehnten in den dritten Bezirk, was ungefähr eineinhalb Stunden gedauert hat. Das Handy als praktischer Wegfinder und treuer Verbündeter des Nachtgängers. Den blauen Pfeil des Navigationssystems habe ich dabei immer wieder überholt, schlussendlich erreichte ich mein Ziel zwölf Minuten vor der ursprünglich geschätzten Ankunftszeit. Es war ein Wettlauf gegen die Gewissheiten der elektronischen Karte.
Eine Spur flotter gewesen zu sein, als von einem internationalen Technologieriesen veranschlagt, erfüllte mich mit einer tiefen – wenn auch unbegründeten – Befriedigung, wohl sogar mit einer Art von Schadenfreude, die unfehlbaren Algorithmen des übermächtigen Milliardenunternehmens in die Schranken gewiesen zu haben.
Meine Gehgeschwindigkeit, im Durchschnitt und in Teilsegmenten der Strecke, sowie meine Route, die folgsame Linientreue und die anarchische Abweichung – all das wird ins Datengeflecht des Konzerns eingespeist, um das System zu verfeinern. Auch ich bin ein Tropfen Code im binären Meer, ein Informationsteilchen unter vielen.
Später werde ich mich an Details der Nacht erinnern, denn zum Mitnorieren hatte ich weder Zeit noch Lust. Später wird mir einfallen, was ich zwischen Hietzing und Rochusmarkt gesehen, gehört und gedacht habe. Am Heimweg hat es leicht genieselt, was erfrischend war.
Die unstillbare Sehnsucht, von sich selbst überrascht zu werden.
Ich erinnere mich an die berühmten vier Gründe, hinauszugehen, wie sie uns vor einigen Wochen, zu Beginn der großen Quarantäne, auf Pressekonferenzen in mündlicher und durch ministerielle Aussendungen in schriftlicher Form gebetsmühlenartig eingetrichtert worden sind.
Erstens: Berufsarbeit, die nicht aufschiebbar ist.
Zweitens: Für notwendige Besorgungen wie Lebensmittel und Medikamente.
Drittens: Um anderen Personen zu helfen.
Viertens: Spaziergänge und sportliche Betägigung.
Ich erinnere mich, wie ich mir gedacht habe: Das sind doch alle Gründe, um hinauszugehen.
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Dann ist mir eingefallen, dass hier natürlich der Besuch von Restaurants und Lokalen sowie der Besuch von Konzerten oder anderen Veranstaltungen fehlen – doch für diese gab es ohnehin keine Möglichkeit. Weiters ist mir eingefallen, dass auch das Treffen von Freunden und Bekannten dezidiert ausgeschlossen wird – jedenfalls das Betreten des öffentlichen Raums mit dem Ziel, jemanden zu treffen. Denn der Besuch von Freunden selbst war niemals verboten, wie im Nachhinein offen einbekannt wurde.
Jetzt denke ich mir, dass man also hätte hinausgehen dürfen, um sich die Beine zu vertreten, damit einem nicht die Decke auf den Kopf fällt, und während man so herumspaziert wäre ohne etwas Böses im Schilde zu führen, hätte einem der Gedanke kommen können, einen Freund zu besuchen. Damit ist ein Schalter umgelegt, und mit einem Mal besteht ein Vorsatz. Vielleicht nimmt man das Telefon aus der Hosentasche und ruft jemanden an, um etwas auszumachen, weil man vorbeikommen will. Vielleicht macht man etwas aus und bewegt sich – durch den öffentlichen Raum – gezielt in die Richtung der Wohnung. Das Gehen ist mit einem Mal verboten geworden, denn es ist ein anderes Gehen, nämlich eines in Richtung des Menschen. (Dieser Gedanke ist sehr interessant, aber auch traurig.)
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Den Nachweis des verbotenen Gehens muss ein Fremder erst einmal erbringen. Solange unsere Gehirnströme noch nicht zweifelsfrei visuell abbildbar und die Gedanken frei sind, ist man aus dem Schneider. Ich weiß nicht, inwiefern diese laienhaften Ausführungen juristisch gedeckt sind und erwarte mir aufschlussreiche Richtigstellungen von einer kompetenten Entscheidungsinstanz wie dem Verfassungsgerichtshof. Der Vorsatz, dich zu sehen – so beginnen doch Liebesgedichte; schnörkellos und herzergreifend schlicht. Ich erinnere mich, dass ein sehr guter Grund fürs Hinausgehen immer war, nicht mehr drinnen zu sein.
Wie sich der Obdachlosenzeitungsverkäufer unmerklich vor der respektvoll ablehnenden Passantin verbeugt.
Der österreichische Bundespräsident sitzt mit seiner Ehefrau zwanzig Minuten nach Mitternacht im Schanigarten eines italienischen Innenstadtrestaurants (Nobelitaliener steht auf den Nachrichtenportalen; allein die Tatsache, dass es eine Artikelflut samt knalliger Überschriften wert ist, verdeutlicht die Seltsamkeit der Zeiten.) Um dreiundzwanzig Uhr wäre die gesetzlich verordnete Sperrstunde gewesen; eine Regelung, die von Anfang an für Unverständnis gesorgt hat, deren Sinnhaftigkeit mit Kopfschütteln in Zweifel gezogen wurde.
Die wichtigen Gäste sitzen vor Getränken, als eine Polizeistreife ihre Personalien aufnimmt. Der Restaurantbesitzer sagt, sein Betrieb sei „geschlossen“ gewesen, für ihn wohl ein sehr dehnbarer Begriff. (Wer durfte nicht knapp eineinhalb Stunden nach Sperrstunde noch gemütlich sein Bier austrinken und danach die Gläser einfach draußen stehen lassen als Geschenk an die Launen der Stadt?) Er habe sich auch ein bisschen dazugesetzt, sagt der Wirt, bei den beiden handelt es sich um liebgewonnene Stammgäste, die ein bisschen gleicher sind als dahergelaufene Normalbürger. (Plötzlich scheint so vieles unsere Aufregung wert; wo ist die Verhältnismäßigkeit der Empörung? Vielleicht weiß es der konkursgefährdete Clubbetreiber.)
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Der österreichische Bundespräsident sagt, er habe sich verplaudert, weder er noch seine Ehefrau hätten also bemerkt, dass jenes Restaurant, in dessen Schanigarten sie gesessen sind, bereits eine Stunde und zwanzig Minuten zuvor geschlossen worden war. Auch wäre niemandem aufgefallen, wie spät es ist. (Auch im Beraterstab trägt keiner eine Uhr.) Dass er schwindelt, weiß er selbst.
Vielleicht war es so: Der österreichische Bundesprädient und seine Ehefrau haben sich, genauso wie der befreundete italienische Nobelwirt, über die derzeit geltenden Bestimmungen bewusst hinweggesetzt – weil sie lächerlich sind. Schön wäre aber, wenn sie für alle gleich lächerlich wären, wenn die Sperrstundenregelung aufgeweicht und man es Nachtlokalen gestatten würde, sinnvoll weiterzumachen. (Selbst wenn der Lokalbesuch nahtlos in ein gemütliches privates Beisammensitzen übergegangen ist, sollten Amtsträger die von ihnen getragenen und eingeforderten Maßnahmen übererfüllen, um sich kein Glaubwürdigkeitsproblem einzuhandeln.)
Als Staatsbürger könnte man sich hinreißen lassen zur Aussage: Der österreichische Bundespräsident ist ein Heuchler – sonst aber ein integrer und in seiner schelmischen Gelassenheit hochsympathischer Mensch. Doch allein daran zu denken, wäre lächerlich. Lassen wir es gut sein, denke ich, und lassen wir den Leuten ihre Nacht.
Jemand inszeniert eine Verfehlung, bei der er sich absichtlich erwischen lässt. Das wirbelt einigen Staub auf. Gehen wir von einem Prominenten oder sogar einem Politiker aus: Er und sein Team lassen jetzt die Medienmuskeln spielen und zeigen, wie gut sich jemand entschuldigen kann. Das bringt beim Publikum, dem Wähler, Bonuspunkte. Oft kann es nützen, der Böse zu sein, ist es doch die Vorstufe zum glorreichen Comeback. Dieser Schuss kann nach hinten losgehen. Unterschätzt man die gravierenden Vertrauenseinbußen durch die Verfehlung oder überschätzt man die eigene Fähigkeit, der Geschichte einen neuen Spin zu geben, kann der Imageschaden irreparabel sein. Ein gefährliches Spiel mit dem Feuer, das nur spielen sollte, wer auch über die Mittel verfügt, es zu gewinnen.
Erst unterwellte, dann durchgestrichene Notiz, verewigt in ihrer anhaltenden Vorläufigkeit: Zahlenfetischismus und Gesundheitshörigkeit auf Kosten aller übrigen Lebensbereiche? Haben wir verlernt, dass Menschen sterben?
Erinnerungen an den eigenen Tod.