Arztbesuch
Der Patient wurde aufgerufen. Hüftsteif schlurfte er an der Sprechstundenhilfe vorbei ins Behandlungszimmer. Der Arzt erwartete ihn mit gespieltem Interesse.
– Machen Sie es sich bequem.
– Danke.
– Wo drückt uns denn der Schuh?
Der Patient seufzte.
– Ich habe Corona.
– Sie haben was?
– Nicht was, sondern wen.
Der Arzt beugte sich vor, nun mit ehrlicher Neugier.
– Wen haben Sie?
– Corona.
– Sind Sie sicher?
– Ziemlich.
– Ist es akut oder chronisch?
– Beides.
Der Arzt nickte ernst.
– Akut chronisch oder chronisch akut?
– Wo liegt denn der Unterschied?
– Ist es chronisch akut, dann spüren Sie es kurz und stark, das aber ständig, ist es akut chronisch, dann spüren sie es ständig, dafür aber kurz und stark.
Der Patient dachte angestrengt nach.
*
– Naja, wie auch immer, murmelte der Arzt, wodurch äußert sich Corona bei Ihnen denn?
– Also …
Der Patient holte tief Luft, als würde er zu einem langen Sermon ansetzen.
– Hier drückt es. Und hier auch. Und oft auch da.
– Oje.
– Und beim Fuß …
– Der Fuß auch?
– Der ganz besonders! Vor allem am großen Zeh. Und das ist erst der Anfang. Mein Rücken ist verspannt. Dazu Konzentrationsschwierigkeiten und Schlafstörungen. Appetitlosigkeit wechselt sich mit Heißhunger ab, dazwischen Bauchweh. Gleichgewichtsstörungen und Schwindelgefühl. Seekrankheit auf Rolltreppen und in Aufzügen. Nervöses Fingerzucken und Sesselwippen. Anhaltende Ungeduld. Schüttelfrost und Schweißausbrüche. Halskratzen und Husten. Niesreiz. Starker Schläfendruck. Handrückenjucken. Kniekehlenstechen. Schulterblattbrennen.
Der Arzt notierte im Kopf andächtig mit.
– Wenn ich mit anderen spreche, dann oft mit verstellter Stimme, das bin irgendwie nicht ich, der da spricht. Auf kein Buch kann ich mich konzentrieren, auf die Arbeit schon gar nicht. Ich lege Listen an, die mir helfen, mein Leben zu organisieren. Plötzlich schmeckt mir Wodka mit Eistee. Seit ein paar Wochen interessieren mich die Sonntagszeitungen nicht mehr, die ich mir über Jahre unbedingt besorgen musste. Ich verwechsle Handgriffe, drücke mir ein bisschen Zahnbürste auf die Zahnpastatube und fahre mir damit in den Mund. Neulich wollte ich mir zuerst eine Tasse in den Kaffee leeren, dazu noch der Doughnut … die Sauerei können Sie sich ja vorstellen. Die Wäsche wasche ich im Geschirrspüler und die Teller in der Waschmaschine.
– Auf Dauer wird das teuer.
– Wem sagen Sie das. Alles ist entweder zu viel oder zu wenig, zu langsam oder zu schnell, zu leise oder zu laut. Ihre Wand hier ist mir viel zu weiß, ihre Nase nicht groß genug, und mein beschissener Pullover ist mir zu grün. Oder nicht grün genug, was weiß ich. Mein Herz macht viel zu viele Schläge, deshalb trinke ich literweise schwarzen Kaffee, um ein bisschen runterzukommen. Irgendwie ergibt das Sinn. Jedenfalls geht es so nicht weiter. Sie müssen mir helfen.
Der Arzt wühlte nachdenklich im Bart.
*
– Bitte, Herr Doktor, was können Sie mir raten?
Er kramte nach seinem Rezeptblock.
– Ich werde Ihnen etwas verschreiben.
Erleichtert hopste der Patient von der Krankenliege.
– Wunderbar, dann wird es bestimmt bald wieder besser. Was gibt es denn Gutes? Remdesivir? Ritonavir? Hydroxychloroquin?
– Nichts dergleichen.
Der Patient runzelte skeptisch die Stirn.
– Ich vermute, dass Corona bereits restlos die Kontrolle über Ihren Organismus übernommen hat. Das Immunsystem ist hier dezidiert miteingeschlossen. Auf jede Prozedur, um die Ausbreitung von Corona einzudämmen bzw. im weiteren Verlauf Corona abzustoßen, wird Ihr Körper mit den schärfsten Gegenmaßnahmen reagieren. Jeder dahingehende Versuch wäre aussichtslos und sogar kontraproduktiv.
Der Arzt schüttelte betreten den Kopf.
– Ihnen bleibt eigentlich nur eine einzige Therapiemöglichkeit.
– Und die wäre? Helfen Sie mir doch bitte, zu verstehen …
– Die endgültige Akzeptanz des Befalls mit Corona. Sie müssen die Waffen strecken, sich geschlagen geben. In Corona haben Sie einen Gegner, der stärker ist als Sie. Ihnen wird nichts anderes übrigbleiben, als mit Corona in eine Art symbiotische Existenz einzutreten, sich mit der Diagnose zu arrangieren.
Der Patient musste das alles erst einmal verdauen.
– Fälle wie Ihrer sind mir durchaus schon untergekommen.
Wahnsinn blitzte in den Arztaugen auf.
– Also, dozierte er, ich verschreibe Ihnen hiermit eine hohe Dosis Corona.
– Wie bitte?
– Ja, ganz Recht. Gegen akut chronische oder chronisch akute Corona hilft am allerbesten eine strikte Corona-Kur, verbunden mit einer strengen Corona-Diät. Ich verordne zwanzig Tropfen Corona, jeweils in der früh direkt nach dem Aufstehen, mitttags nach dem Essen und abends vor dem Schlafengehen. Außerdem sollten sie regelmäßig einen Corona-Wickel machen. Hierzu verwenden Sie eine Faustvoll Corona, die Sie leicht erwärmen und sich in die Beine massieren. Unbedingt nötig sind heiße Bäder mit ätherischem Corona-Öl. Desweiteren empfehle ich regelmäßiges Gurgeln mit Corona. Ich gebe Ihnen eine hochkonzentrierte Corona-Salbe mit, die können Sie sich in die Schläfen reiben, was zu einer Linderung des durch Corona ausgelösten Kopfwehs führen sollte. Erforderlich ist die absolute unablässige Nähe zu und Einnahme von Corona in möglichst hoher Dosis. Glauben Sie mir: Zu hoch kann die Corona-Dosis für Sie gar nicht sein!
Der Wahnsinn blitzte wieder auf.
*
– Ja, aber, stammelte der Patient, das kann es doch nicht geben. Sie können als Kur für Corona doch nicht einfach Corona verschreiben. Immer noch mehr und noch mehr Corona. Das hört ja alles nie mehr auf.
– Tja, das hätten Sie sich wohl überlegen müssen, bevor Sie sich Corona eingefangen haben.
– Aber, Herr Doktor, ist das denn nicht … – er traute sich kaum, es laut auszusprechen – … ist das denn nicht verrückt?
Der Arzt lachte auf. Unwirsch riss er den Zettel vom Rezeptblock und drückte ihn dem Patienten in die Hand.
– Das liegt im Auge des Betrachters!
– Aber wenn es verrückt ist, Herr Doktor, sind denn dann Sie nicht verrückt, mir all das zu verschreiben?
Das erboste den graubärtigen Arzt.
– Ich ganz sicher nicht! Wenn, dann sind doch wohl Sie verrückt, sich Corona einzufangen! So ein undankbarer Bengel …
Der Arzt drückte die Tür auf und machte Anstalten, den Patienten unsanft hinauszubugsieren.
– Wie sind denn die Heilungschancen?
– Sie werden es schon überleben …
Der hinausstolpernde Patient schien von dieser Prognose nicht sonderlich beruhigt.
– Und wenn nicht?
– Gute Besserung!
Damit fiel die Tür zu.