Unerbittlicher Begriff: Öffnungsstrategie
So mancher blüht im Notstand auf, weil er ihn durchhalten oder sogar produktiv damit umgehen kann, was ein Überlegenheitsgefühl schenkt. Die Herausforderung setzt neue Energien frei, entsichert Kraftreserven, von denen man gar nicht wusste, dass es sie gab. Trotz aller Beschwernisse und Verwerfungen wird dem Ganzen etwas Positives abgewonnen. Und weil es also manche gibt, die in der Krise wachsen, wollen sie auch nicht, dass sie zu Ende geht – sie würden damit ihren Daseinsgrund verlieren.
Jeder Ausnahmezustand ist bis zu einem gewissen Grad herbeigesehnt. Der renommierte Experte hat nur teilweise Interesse an einer Rückkehr in den Normalzustand, selbst wenn es dafür stichhaltige Argumente gibt. Daran muss ich denken, als ich die achtunddreißigste Folge des vom Norddeutschen Rundfunk produzierten Podcasts mit dem unbestrittenen Ober-Virologen höre (unwidersprochen wollte ich ihn zuerst nennen, habe es dann aber gelassen). Ihm geht es in der Krise gut, auf eine Weise liebt er sie; ermöglicht sie ihm doch, seine Expertise einzubringen. Alle fragen ihn um Rat, und diesen kann er geben. Die Krise ist seine Kompetenz.
Fachlich sind die Ausführungen von hoher Qualität, sie dürfen nur nicht die einzige Maßgabe des Handelns sein. (Genauso wenig sollte man den Kreuzfahrtkapitän oder den Eventveranstalter als alleinige Einflüsterer einsetzen, auch nicht den in abstrakten Gefilden operierenden Philosophen. Etwas sagen oder denken geht sehr schnell, manchmal aber muss man etwas tun. Für die korrekte Gewichtung der Interessen braucht es eine übergeordnete Instanz; das wäre die Politik.)
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Jeder handelt nach seiner Kompetenz. Fragt man einen Virologen oder eine Epidemiologin nach den bestmöglichen Verhaltensweisen im Alltag, um die Ansteckungsgefahr konsequent zu verringern, werden sie Begräbnisse abschaffen und Kinderbetreuung einschränken. (Der Ober-Virologe trinkt laut eigener Aussage grundsätzlich kein Fassbier in Lokalen; ich glaube, seit dem Studium.) Diese Empfehlungen können nur ein Element von vielen sein, ein Baustein im Konstrukt, das Entscheidungsfindung heißt. (Während einer eloquenten Diskussionsrunde muss ich daran denken, dass keiner der Entscheidungsträger die wirtschaftlichen Auswirkungen seiner Entscheidungen am eigenen Leib erfährt; auch kein Beamter, dessen Aufgabe es ist, die Krise zu verwalten. Wurden auch Staatsbedienstete in Kurzarbeit geschickt? Bekanntermaßen gibt es aber nicht allein die gesundheitliche oder ökonomische Dimension.)
Fragt man die Ernährungsberaterin, wie man ein hohes Alter erreicht, wird sie den Speiseplan des Normalsterblichen in einem Anflug von Vernunft auf ein unerträgliches Maß zusammenstreichen. Es ist ihre Kompetenz. Fragt man einen stunt driver, wie man unbeschadet durch die Fußgängerzone brettert, wird er seine Fahrkünste auspacken und eine Route ohne Poller finden. Es ist seine Kompetenz. Fragt man den Politiker, wie man in Umfragen vorne liegt, wird er zeigen, dass entschlossenes Handeln und Griffigkeit der Kommunikation bei den Menschen gut ankommen, und offensichtlich auch eine hermetische Männerbastion, die in Maßanzügen vor die Kameras tritt. Es ist unsere Wahl.
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Das Durchpeitschen von Gesetzesvorlagen ist zwar anstrengend und fordernd, aber auch geil. Wären die Politiker ehrlich mit sich selbst und gegenüber anderen, dann würden sie zugeben, wie berauscht sie davon sind, jeden Aspekt der Gesellschaft durch ihr Handeln zu formen. Genauso wie die Wissenschaftler in Beraterfunktion davon berauscht sind, dass ihre Sichtweisen nahtlos übergehen in Schriftsätze und Paragraphen, dass ausgehend von ihren Analysen Ordnungsstrafen verhängt und Betretungsverbote ausgesprochen werden.
Für jene, die in der Krise glänzen, darf sie ruhig ein wenig länger dauern. (Abwägungen geschehen insoweit, als dass auch Entscheider und Berater schulpflichtige Kinder haben oder gern einmal ins Kino gehen; ihr Durchhaltevermögen ist jedoch ein völlig anderes, auch dank sorgenfreier Finanzlage.) Wer mit der Situation in der ihm zugewiesenen Rolle souverän umgehen kann, wird eher bestrebt sein, sie aufrechtzuerhalten, als jemand, der seine Kompetenzen nicht einbringen darf. (Gästebewirtung und Trauerreden sind ausgeklammerte Berufungen. Auf Theaterarbeitern wird herumgetrampelt wie auf den Brettern, die nicht einmal ein bisschen Welt bedeuten; erste Linienflüge gehen vollbesetzt an die Mittelmeerküste, in den Opernsitzreihen herrscht viele Meter Sicherheitsabstand.)
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Auch ich selbst merke, wie berauscht ich phasenweise davon bin, funktionieren zu können. Als Schreibender bin ich die kleinste Arbeitszelle, die es überhaupt nur geben kann; im Kern unabhängig von anderen. Ich bin ein einzelner Mensch, der mit Notizbuch und Bleistift alleine zu Hause sitzt oder umherstreunt, um Bilder und Ideen zu sammeln; in der Wohnung sind es andere als auf der Straße, manchmal fließt das eine ins andere über, die Draußen-Geschichten werden zu Drinnen-Gedanken. Niemand kann es mir nehmen; wer soll mich zwingen, es zu lassen? (Außer die Umstände.) In der weitergedachten Wahrheit natürlich bin ich sehr abhängig von anderen, von Verlagskomplizen und Veröffentlichungsorten und Vertriebswegen. Fallen Lesungen weg, geht ein Standbein verloren. Also weiterhumpeln, in verbissener Zuversicht.
Als Musiker gehört das Musizieren im Kein mir selbst. Eine Gitarre ist nicht schwer zu spielen, auch das Komponieren von Songs geht mit einiger Übung leicht von der Hand. Ohne Konzerte natürlich verhallen sie ungehört im Reich der eigenen vier Wände, eine Albumveröffentlichung geht schonungslos ins Leere. Dabei klingen die Lieder nach mehr. Hier endet das eigene Funktionieren.
Es kann auch anstrengend sein, monatelang für etwas in den Startlöchern zu stehen, bei dem man nicht weiß, ob dafür jemals der Startschuss ertönt. Auf Dauer geht das ins Kreuz (vor allem, wenn man rundum in anderen Diszplinen längst bei der Siegerehrung angekommen ist). Und wer hat eigentlich gerade die Pistole in der Hand?
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Ein medienerprobter Systembiologe und Modellierer in einer spätabendlichen Talkshow: Jetzt geb ich irgendwas wieder, was nicht genau meine Expertise ist, aber ich versuch’s mal.
Im Wegfall von Einkommensquellen offenbaren sich neue Möglichkeiten des Verzichts.
Vor dem Grillfest ein paar Tage Bierdurst ansparen.
Ach, wie uns alle immer vor uns selbst retten wollen!
Was ist schon in sich geschlossen? Ich jedenfalls nicht.