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65 Mittwoch, 20.05.2020

Die große Narrenfreiheit ist ausgebrochen. Den ganzen Tag sind Krankenwagen mit Sirenen unterwegs. So geht das schon seit Wochen. Längst bin ich der Meinung, dass damit etwas faul ist. Der exzessive Einsatz des Martinshorns muss den Fahrern von höchster Stelle angeordnet worden sein, um der Bevölkerung die Dringlichkeit der Sache zu verdeutlichen. (Vor Augen führen – vor Ohren führen.) Es geschieht keine Verrenkung im Gehirn, wenn man sich vorstellt, wie ein Vorgesetzter oder Standortleiter den anwesenden Untergebenen bei einem morgendlichen Briefing erklärt, sie sollen ordentlich aufdrehen, sonst checken es die Leute einfach nicht. Vielleicht sollen sie aufdrehen, wenn sie einen positiv Getesteten oder auch nur einen Verdachtsfall transportieren. Vielleicht sollen sie aufdrehen, wenn sie irgendeinen Patienten transportieren. Vielleicht sollen sie überhaupt immer aufdrehen, auch bei einer Leerfahrt ganz ohne Patient.
So rasen die Krankenwagen mit ohrenbetäubendem Lärm über unbefahrene Kreuzungen, um wütend auf sich aufmerksam zu machen. Mit nervösem Blaulicht sowieso. Es wirkt planlos und sinnlos. Bei jedem Transport, der so laut vorbeirauscht, zucke ich vor Schreck zusammen, und gleichzeitig ist mir das übertriebene Krawallschlagen der Einsatzkräfte furchtbar peinlich. Wir haben es doch längst gecheckt.

Ein erster Museumsbesuch. In den Prunkräumen geht es um Nachtleben, Kaffeehauskultur und Clubs, um Kabaretts und schummrige Kaschemmen, und die sich daraus entwickelnden Kunstströmungen. Es geht um Schattentheater, Filmexperimente, Literatur und Tanz und Malerei. Eine Weltreise durch verrauchte Etablissements auf den Spuren einer trinkfesten Avantgarde. Neben Paris, Wien oder Zürich führt diese auch in den Iran, nach Harlem und Nigera. In Afrika traut man sich Farbe, denke ich.
Dass etwas anders ist als sonst, erzählen einem gleich zu Beginn zwei getrennte Sortierbügel für die Museumshocker. Links die gebrauchten, rechts die desinfizierten. Unter keinen Umständen darf eine Verwechslung und Vermischung passieren. (Jedenfalls nicht vom einen zum anderen, vom anderen zum einen spielt es keine Rolle.) Eine Kleingruppe wird durchs Museum geführt. Alle tragen wir durchgehend Masken, und an der Oberlippe schwitzt sich der Schweiß fest. Eigenhigh vor Luftknappheit, denke ich.
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Information zu den Schutzmaßnahmen:
Auch bei geöffneten Museen ist es weiterhin wichtig, dass wir aufeinander achten und uns gegenseitig schützen. Da unsere Aktivitäten von der Begegnung mit unserem Publikum leben, haben wir gemäß den aktuellen behördlichen Vorgaben folgende Maßnahmen für Ihre Sicherheit getroffen:
– Unsere Kunstvermittler_innen tragen ein Gesichtsvisier und verwenden sorgfältig desinfizierte Silent Systems.
– Geführte Touren finden in Kleingruppen von maximal neun Personen statt.
– Während der Führungen vermeiden wir Aufenthalte in kleinen Ausstellungskabinetten und an Engstellen.
Zudem ersuchen wir Sie, während der gesamten Führungsdauer die Besuchsregeln einzuhalten.
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Hinweisschild vor Ort:
SILENT SYSTEMS
Die Touren werden mit sorgfältig desinfizierten
Silent Systems unterstützt. Bitte verwenden Sie
aus hygienischen Gründen Ihre persönlichen Kopf-
hörer oder fragen Sie nach unseren Einwegkopf-
hörern.
Geführte Touren finden in Kleingruppen von
maximal 9 Personen statt.
(Es folgt eine Übersetzung ins Englische, die statt sieben Zeilen nur sechs in Anspruch nimmt.)
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Aufsteller am Stiegenabgang zur Garderobe: Bitte achten Sie auf den Gegenverkehr. (Auch Fußgänger brauchen Regeln.)
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Eine etwas ältere, nach wie vor gültige Museumsnotiz: Im Museum werde ich zum Geistergeher, bewege mich also entgegen der von den Ausstellungsmachern angedachten Geh- und Wahrnehmungsrichtung. Wie beflissen manche vor den Bildern verweilen und sie sachkundig mustern, als hätten sie alle ein Kunstgeschichtestudium im Lebensrucksack. Dabei erzählen die Werke ihnen nichts. Leute nehmen auf den großzügigen, mitten im Raum platzierten Sitzflächen Platz, vermeintlich aus Interesse, um in dieser Ruheposition kontemplativ ein Vorzeitpanorama, ein wurlendes Schlachtengetümmel zu studieren, dabei sind es einfach nur übergewichtige britische Touristen, die ihre müdegelatschen Sandalenfüße ausruhen. Ich ziehe weiter gegen den Strom auf der Suche nach dem unerzählbaren Wahrheitskern der Kunst und finde ein paar Pinselstriche lang mich selbst.

Für jede Kunstform gilt: Einfachheit ist etwas, das man sich hart erarbeiten muss.

Der Wind packt einen beim Atem.

Ich habe gelernt, wie Skateboarder bei gelungenen Tricks den Komplizen applaudieren: Sie greifen sich das seitlich abgelegte Board und klacken es zustimmend gegen den Boden. Dieser Skateboard-Applaus kann sehr unterschiedlich ausfallen: Mal ist er zurückhaltend und vorsichtig ermutigend, dann wieder kollegial und pflichtbewusst, und selten auch richtig überrascht und euphorisch, wenn zum Beispiel ein blindes Huhn auch einmal ein Korn findet und dem tollpatschigen Mitläufer ein arger Inward Heel Flip gelingt.

Selbst wenn ich Skateboard fahren könnte, könnte ich nicht Skateboard fahren. Das ist mir viel zu laut.

Der nach vorne hin offene Mönchskranz (wie ihn der ehemalige niederösterreichische Landeshauptmann trägt) ist keine legitime Frisur.

Ausgestorbene Berufe: Ab 1780 wurden unter Friedrich dem Großen etwa 400 Kriegsversehrte als Kaffeeriecher eingesetzt, um in den preußischen Kommunen illegale Röstereien zu erschnüffeln. Zum Schutz der einheimischen Malzkaffeehersteller und -lieferanten war die Einfuhr von Bohnenkaffee streng untersagt.
Auch Perrückenriecher machten sich beim Volk unbeliebt, indem sie das Eintreiben der Perrückensteuer erledigten. Der Perückeninspektor und seine Unterinspektoren durften in der Öffentlichkeit jedweden künstlichen Haarschopf abnehmen und den angebrachten Stempel kontrollieren.
Abtrittanbieter gingen – oft maskiert – mit verschließbaren Holzkübeln durch die Straßen und ermöglichten es den Bürgern, unterwegs ihre Notdurft zu verrichten. Diese wurden dabei mit Umhang oder Mantel vor neugierigen Blicken geschützt.
Vielleicht erlebt die eine oder andere dieser Tätigkeiten eine Renaissance – ausreichend seltsam wären die Zeiten ja.

Verbrannter Kaffee riecht wie nasser Aschenbecher.

Die Straße geht voraus, ich hinterher.