Beim Überqueren der Straße beobachte ich den Ausgleichsblick. Die vorbeiradelnde Frau wird von einem Mann in kurzen Hosen auffällig gemustert, woraufhin er demonstrativ in die Gegenrichtung blickt, zu stillstehenden Autos. Seiner Umwelt signalisiert er damit, dass er die Radlerin eben nicht bewusst angesehen hat, sondern sich bloß einen groben Überblick verschaffen und das allgemeine Verkehrsaufkommen einschätzen wollte. Es funktioniert.
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In einem Blickbuch könnte man die verschiedenen Arten von Blicken beschreiben und archivieren; auch Länge und Intensität sollten ihre Berücksichtigung finden. Der Ampelblick – wenn man aufs Umspringen wartet. Der Horizontblick – wenn man andächtig am Meer steht und sich die großen Fragen des Lebens stellt. Der Buffetblick – wenn man sich aus der Fülle an Häppchen die besonders schmackhaften herauspicken will. Der Kussblick – wenn man im Begriff steht, zu küssen oder geküsst zu werden; hier eine differenzierende Zweiteilung des Eintrages vornehmen.
Der Leseblick – wenn man angeträumt in ein Buch versunken ist. (angeträumt zu gebrauchen wie angetrunken.) Der Gitarrenblick – wenn man über die Nase hinweg aufs Griffbrett linst. Der Bastelblick – wenn die Falttechnik beim Origimai leichter aussah, als sie ist. Der Motorhaubenblick – wenn man den Füllstand der Kühlflüssigkeit kontrolliert. Der Tankstellenblick – wenn man die Benzinanzeige auf eine runde Zahl bringen will.
Der Münzfachblick – wenn man beim Einkaufen Kleingeld sucht. Der Angstblick – wenn man Angst hat. Der ungestillte Lustblick – wenn man erregt ist. Der Tunnelblick – wenn eine zornige Gewissheit einrastet. Der Liebesblick – wenn etwas bei uns stimmt. Der Vergewisserungsblick – wenn man sich die wohlwollenden Erwiderung des Gegenübers einholt. Der Verschwiegenheitsblick – wenn man die kriecherische Einhaltung eines unausgesprochenen Gesetzes signalisiert. Der Verdachtsblick – wenn man jemandem etwas zutraut, das man sich selbst niemals zutrauen würde. Der Aufzählungsblick – wenn man nach Neuankömmlingen in der fortgesetzten Reihe Ausschau hält.
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Man könnte jetzt hergehen und alle Blicke der Welt aufzählen – es wären Millionen und Abermillionen – und dann noch weitere dazuerfinden, die es gar nicht gibt. Man könnte in alle Ritzen und Nischen des Zwischenmenschlichen eindringen und auch alle Berufszweige abdecken – der Mikroskopblick, der Vertragsblick, der Fluglotsenblick aus dem Tower. Man könnte das tun und hätte ziemlich Vergnügen damit. Aber man wird es nicht tun – weil es zu einfach ist. Deshalb wird es das Blickbuch niemals geben.
Rechtschaffen müde – gibt es das in unseren Breiten heutzutage noch?
Um den Wirtschaftseinbruch abzufedern, wird begeistert Geld erfunden. Die Notenbanken drucken es, die Staaten überweisen es, die Betriebe verbrauchen es. So bleibt das Vertrauen erhalten. Es kommt aus der Luft und bleibt reine Idee. (Ob Geld oder Vertrauen gemeint sind, lässt diese Formulierung offen. So entsteht ein feiner Doppelsinn.)
Die wundersame Geldvermehrung ist eine Fortsetzung oder hintergründige Parallelgeschichte zur wundersamen Brot- und Fischvermehrung, wie sie Jesus Herkules Christus am Nordwestufer des See Genezareth bei der Speisung der Fünftausend herbeigebetet haben soll. Da sage noch einer, Kapitalismus sei keine Religion.
Von einem Klügeren habe ich gelernt, dass man für Gehässigkeit keine Zeit haben darf.
Pierre heißen ist sicher auch nicht leicht.
Verhandlungen immer so führen, als wären sie aussichtslos.
Lieber ein stiller Riese als ein vorlauter Zwerg.
Die Werbeindustrie hat auf die seltsamen Zeiten schnell reagiert. Neue Slogans spielen mit unseren Ängsten und dem dringenden Bedürfnis nach Sicherheit und Erholung.
Blick nach vorne, sagt die Autowerbung, jetzt losfahren und erst 2012 zahlen. Dieses Angebot, sofort zu konsumieren, aber erst später – oder auch monatsweise – die Rechnung zu begleichen, ist äußerst verlockend. Die Menschen haben keine Disziplin und können nicht warten, vor allem nicht auf eine Bedürfnisbefriedigung, was Studien mit Kleinkindern belegen, denen man die Wahl lässt, entweder ein Zuckerl gleich zu schnabulieren oder nach einer Wartezeit zwei Zuckerl zu bekommen; hier offenbart sich die erste Ausprägung eines Impulskontrollverlusts. Dass eine Ratenzahlung wesentlich teurer kommt, ist schon zu weit in die Zukunft gedacht, und vorausdenken ist furchtbar anstrengend, und eines mündigen Konsumenten nicht würdig. Genau hier lässt sich in unsteten Zeiten andocken, um der ins Stocken geratenen Wirtschaft auf die Sprünge zu helfen.
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Vorfreudezeit, sagt die Tourismuswerbung, das erste Mal wieder an Urlaub denken. Nach der anstrengenden Quarantäne haben sich alle ein bisschen unbeschwerten Sonnensommer verdient, eine Almwiesenwanderung mit abschließender Brettljause, und die Kinder im Bauernhotel einen naturtrüben Apfelsaft, für den die Mehrwertsteuer gesenkt worden ist (wie auf alle alkoholfreien Getränke in der Gastronomie). Alle haben sich jetzt einen erfrischenden Badesee und Fahrradtouren mit Leihrädern verdient, und die verbissene Besteigung von irgendeinem seichten Berg mit nassgeschwitztem Leiberl beim Abnehmen des Rucksacks, wo einem beim Gipfelkreuz-Selfie der Wind schön die Haare verweht.
Wer es sich leisten kann, der braucht jetzt Urlaub. Wer es sich nicht leisten kann, der braucht besser keinen Urlaub, sonst würde er etwas brauchen, das er nicht haben kann, und würde plötzlich neben der körperlichen und geistigen Erschöpfung auch noch traurig sein. Das wäre doch schade. Oft wird durch Spots und Plakate eine Sehnsucht geweckt, die aus eigener Kraft nicht gestillt werden kann.
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Krisen stellen viele Rechtsfragen, sagt die Anwaltswerbung, wir haben die Antworten. Insbesondere in den Bereichen: Arbeits- und Sozialrecht, Miet- und Wohnrecht (Belange von Mietern und Vermietern von Wohn- und Geschäftsräumen), Schadenersatz- und Gewährleistungsrecht, Entschädigung für Betriebsausfall, Versicherungsrecht, Reiserecht, Steuer- und Abgabenrecht, Förderungen und Finanzierungen, Vorsorgevollmacht, Patientenverfügung, Testament, Ehe- und Familienrecht (Scheidungsrecht, denke ich, Besuchserlaubnis von getrennt lebenden Elternteilen), Unternehmens- und Gesellschaftsrecht, Insolvenz- und Exekutionsrecht, Baurecht, Bauvertragsrecht, Konsumentenschutz und Internetrecht, allgemeine zivilrechtliche Angelegenheiten, verwaltungsrechtliche Angelegenheiten, strafrechtliche Angelegenheiten, uvm.
Die österreichischen Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte, sagt die Anwaltswerbung, sind gerade jetzt für Sie da und helfen Ihnen mit fundiertem Rechtsrat. Mir fällt auf, dass die genannten Rechtsbereiche alle Bereiche des Lebens abdecken. Der Rest wird vom abgekürzten und viele mehr abgedeckt. Anwälte sind die Totengräber unter den Büromenschen, jedenfalls was die Jobsicherheit in Krisenzeiten anbelangt, das Aufblühen ihrer Branche in der Krise.
So niese ich mich durch den Tag – jetzt sind die Gräser.
An einem schwülen Dienstagabend mit nacktem Oberkörper im Wohnzimmer arbeiten und billigen Weißwein direkt aus der Flasche trinken – ist das die Show, wie Nachbarn sie sich vorstellen?
Auch Frauen trinken Bier.
Das anstrengende Teppichmuster verkompliziert sich randeinwärts zu abstrakt ausschwingenden Schnörkeln.
Es ist mir schleierhaft, wie jemand etwas anderes als ein Künstler sein kann, oder eine Art Künstler. Wie kann man Anwalt sein oder Lehrer oder Lokführer? Wie leben die Menschen? Wie verarbeiten sie ihre Eindrücke, Erfahrungen, Entsagungen? Warum platzen sie nicht? Vielleicht tun sie es ja. So kommt das Verbrechen in die Welt.
Ich bin ein verlässlicher Umzugshelfer – immerhin das.
Wortreich die Ahnung beschreiben, alles gesagt zu haben.
Irrtum nicht als Endpunkt, sondern als Ausgangspunkt.
Jemand weiß nicht mehr weiter. Aber wohin weiß er nicht mehr weiter?
Neuerdings gebe ich auf.