Ich habe nichts zu erzählen.
Mir fällt auf, dass es Notizen gibt, die ich zwar entschlossen angehäuft habe, bei denen ich aber keinerlei Lust empfinde, sie abzuarbeiten und ins öffentliche Notizbuch zu schaufeln, sie also dem Narrativ einzuverleiben. (Alles Geschriebene geht seinen mühseligen Weg durch die Instanzen.) Nicht jede Begebenheit ist erzählenswert, nicht jedes Bild stimmig, nicht jeder Gedanke interessant. Man kann gar nicht streng genug filtern, was vom lokalen Weltgeschehen man überhaupt absorbiert, und was davon weitertransportiert werden soll an verschiedene Zielorte. Was schließlich andere Menschen erreicht, darf nur ein schlüssiger Bruchteil sein, die zu Ende verdichtete Essenz. (Hemingways berühmtes Eisbergmodell ist ungebrochen gültig und ragt mahnend aus dem Meer.)
Ich will Fremden nur das erzählen, was ich auch mir selbst erzählen würde. Wenn man sich selbst mit etwas langweilt, kann man nicht davon ausgehen, dass es anderen so anders damit geht. (Die Grundannahme muss lauten, dass es sehr wenig Interessantes und sehr viel Langweiliges gibt auf der Welt.) Ausgehend von der Selbstbelustigung findet eine Fremdbespaßung statt. Sich verständlich auszudrücken, kann dabei hilfreich sein.
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Ich erzähle nicht vom ersten Freundestreffen, vom ersten Abend beim Anwalts-Freund, der Essenseinladung, bei dem auch der Arzt-Freund dabei war. Es ist zwei Wochen her, und ich kann es nicht erzählen, und das ist schön, denn ich brauche es nicht zu erzählen. Es war einfach und es war normal. Nichts daran war spektakulär. Ich erzähle nicht, dass wir einander scheu hergedrückt haben, ein bisschen unbeholfen und ziemlich belustigt, dass ausgiebig getrunken und geplaudert wurde.
Hier bewahrheitet sich die alte Behauptung vom Unglück, dass es braucht, um kreativ sein zu können – sie stimmt insofern, als dass es eine Lücke braucht, die befüllt werden will. (Ausnahmen bestätigen die Regel.) Beim Abend mit Freunden hat nichts gefehlt, er war so wie immer, also genau richtig; er stellte keine Herausforderung oder Zumutung dar. Er ließe sich erzählen, aber warum? Es war nach all der Zeit nicht seltsam, sich wieder in Fleisch und Blut gegenüberzustehen, wenn überhaupt, dann war es normaler als es jemals gewesen ist. Große Erleichterung stellte sich ein.
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Ich erzähle nicht, dass es israelisches Huhn gab, dass der Weißwein gut war, dass ich Gin und Tonic und ein halbes Netz Zitronen mitgebracht habe, und dass der Gastgeber – das Geburtstagskind – sich bloß noch um ausreichend Eiswürfel kümmern musste. Ich erzähle nicht, dass ich alter Geizkragen zur Feier des Tages nicht den billigsten Gin gekauft habe, sondern den zweitbilligsten – und nicht bloß deshalb, weil der billigste ausverkauft war. Ich erzähle nicht, dass ich zwar ein paar Gin Tonics zusammengekippt, selbst aber keinen getrunken habe, weil ich bereits genug hatte.
Ich erzähle nicht von der ansehnlichen Himbeertorte, die eine Himbeerbombe war, ein rosaroter Mehlspeisgupf. Ich erzähle nicht, dass wir haltlos gelacht haben, dass ich irgendwann so lachen musste, dass ich kurz befürchtete, mich in den Mund zu erbrechen, weil ich ja auch so angegessen war, doch diese Sorge verflog noch in der Blitzsekunde des Herbeidenkens, und ich erzähle nicht, dass ich keinen Schluck hochgelacht habe.
(Vor allem erzähle ich nicht, dass ich damals am Schulskikurs in der dritten Klasse Gymnasium so viele Mandarinen gegessen habe, dass ich mich tatsächlich einmal vor Lachen übergeben musste, wenn man so will, dass ich wohl acht oder neun Mandarinen in ein Sackerl geschält und mir zugeführt habe, und dass ich genau in dieses Schalensackerl dann ein bisschen speiben musste, weil wir so gelacht haben, dass wir am nächsten Tag allesamt Bauchmuskelkater davon hatten. Jedenfalls wird es sich so oder so ähnlich abgespielt haben, denn so wird es seither erzählt. Doch das erzähle ich nicht.)
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Ich erzähle nicht, dass ich mich kurz vor Mitternacht verabschiedet habe, weil ich Sorge hatte, ob es denn noch eine Nacht-U-Bahn gibt, obwohl es der Vortag zum Wochenende war. Ich erzähle nicht, dass der Anwalts-Freund gut kochen kann, und dass der Arzt-Freund schon reichlich entspannt war, weil sich im Krankenhaus die Dinge längst gut eingependelt hatten.
Ich erzähle nicht, dass es schöner ist, einander als echte Menschen zu begegnen als mit ruckelnden Bildschirmgesichtern in Kacheln zu sprechen. Ich erzähle nicht, wie steril das einsame Anstoßen ist, und wie klingend das herkömmliche überm Tisch im menschenwarmen Wohnzimmer. Ich erzähle es deshalb nicht, weil das jedem klar ist.
Ich erzähle nicht, dass es zum Leben gehört, ein paar Abendstunden mit Freunden zu verbringen, zu essen und zu trinken und zu reden und zu lachen und zu diskutieren, und sich dann satt und träge und zufrieden auf die weiche Couch zu schleppen, weil jeder weiß, wie es ist. Deshalb brauche ich es nicht zu erzählen.
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Ich erzähle auch nicht vom ersten Familienbesuch im Schrebergarten, von der herrlichen Schrebergartenmelancholie, wenn draußen die Sonne scheint und man im Inneren des Hauses am Esstisch hockt, um Briefe an Bots in den Laptop zu klopfen. Ich erzähle nicht, dass ich im Prater spazieren war und das Gefühl hatte, die ganze Welt würde auch dort sein – oder jedenfalls ganz Wien. Ich erzähle nicht, dass es mich einerseits beschwingt und andererseits gelangweilt hat, so viele Menschen zu sehen, die irgendeine Sonne oder irgendeine frische Luft genießen mit irgendwelchen Ballspielen oder Slacklines, und so viele Kinder feierten den Nachmittag mit Seifenblasen oder Sand. Ich brauche es nicht zu erzählen, weil alle im Prater waren und mit irgendwelchen Bällen gespielt und irgendein Picknick gemacht haben, und jeder hat sich irgendwann angestellt fürs Klo, außer ein paar ungenierte Männer, die sich irgendeinen abseits stehenden Baum gesucht haben, was gar nicht so leicht war.
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Ich erzähle nicht, dass die Leute jetzt wieder an wackligen Kaffeehaustischen sitzen und sich etwas zu sagen haben, dass die Aschenbecher gefüllt sind und die Wasserpfeifen gründlich und entspannt vor sich hin gurgeln. Ich erzähle nicht, dass ich zum ersten Mal seit Beginn der seltsamen Zeiten in einem Gasthaus war, dass ich nach acht Wochen wieder einmal von einem anderen Menschen bedient worden bin, dass mir das aber nicht gefehlt hat.
Ich erzähle nicht, wie sehr ich mich stattdessen auf das erste frisch gezapfte Bier gefreut habe, und dass meine Vorfreude auch eingelöst wurde. Ich erzähle nicht, dass ich dem ersten Bier vom Fass zur Sicherheit noch ein zweites nachschicken musste, um sicherzugehen, dass ich mich in meinem Genuss auch nicht getäuscht habe, dass es auch wirklich so bitter und durstlöschend war, wie ich es bei der verhaltenen Kostprobe empfunden habe. Ich erzähle nicht, dass es ein türkisches Restaurant war, in dem ich vorher noch nie gewesen bin, oder dass es sehr gut geschmeckt hat und die Preise fair waren, dass ofenwarmes Brot im Korb serviert wurde, das ein Gedicht war. Ich erzähle nicht, dass ich vorhabe, wieder dort einzukehren, dass ich es damit aber nicht sonderlich eilig habe.
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Ich erzähle nicht, dass die Auferstehung der Stadt vollzogen wird, Straße um Straße, Haus um Haus, und des ganzen Landes, Schanigarten um Kirche um Sportplatz. Jeder weiß es, jeder kann es sehen; jeder kann es trinken, jeder kann es essen; jeder kann es riechen, jeder kann es schmecken.
Ich erzähle nicht, dass viele immer noch nicht wissen, wie es weitergeht, zum Beispiel jene, die im Veranstaltungsbereich beschäftigt sind, dass die Clubszene gefährlich in der Luft hängt, dass es sorgenvolle Unternehmer und Arbeitslose gibt. Ich erzähle nicht, dass sich in die Erleichterung über den fliedernen Sommerduft ein leiser Zukunftszweifel schleicht. Ich erzähle nicht den Tag ohne die Nacht.
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Ich erzähle nicht, dass die Schule wieder begonnen hat mit strengen Vorschriften, dass in manchen Stockwerken Direktoren auf Knien rutschend Bodenmarkierungen mit Klebeband anbrachten, um nach Geschlechtern getrennte Laufwege zur Toilette vorzugeben, was ich für reichlich überzogen hielt. Ich erzähle nicht, dass heute Montag ist oder dass ich mir später ein Schnitzel mit Pommes holen möchte, weil Schnitzelmontag ist und es da beim Schnitzelhaus ein gutes Angebot gibt. Ich erzähle nicht alle Nachrichtenüberschriften oder alle neuen Erkenntnisse über den Virus. Ich erzähle nicht das Echo eines fremden Rufs, sondern möglichst nur den eigenen Ruf – mit Rückkopplung.
Ich erzähle nicht, dass mir der neue Haarschnitt eine Kraft gibt, weil wieder Ordnung herrscht auf meinen Kopf, die sich auch auf dessen Innenleben überträgt, dass auch die Gedanken an Struktur gewonnen haben, dass sich der Haarschnitt tageweise sogar auf die Körperhaltung überträgt und ich ein bisschen weniger schlurfend ins Büro spaziere, und ein bisschen weniger lümmelnd an der roten Ampel warte. Ich erzähle nicht, dass es uns gibt. Ich erzähle nicht, wie befreiend es sein kann, nicht mehr weiter zu wissen. Ich erzähle nicht, dass die Welt ist, wie sie ist. Ich habe nichts zu erzählen.
Betroffenheit beim Anblick eines gebückt stehenden Alten, der eine Maske trägt. Für sich genommen wirkt er schon sehr verletzlich, die Maske unterstreicht diesen Eindruck noch. Was hat es damit auf sich? (Deshalb tragen Despoten keine Masken – sie erkennen es als Zeichen von Schwäche. Wer sich vor etwas schützt, ist auch nur ein Körper, in den etwas Unliebsames eindringen kann. Der Präsident der Vereinigten Staaten wird niemals eine Maske tragen. Allein der Gedanke dieses Anblicks passt nicht in den Kopf.)
Trotz ausgerufener neuer Normalität herrscht wieder die alte Unverbindlichkeit: Es scheint unmöglich, eine feste Vereinbarung zu treffen, die dann auch eingehalten wird. Zeitliche Verschiebungen und Nachfragen sind nötig. Ein gutes Zeichen: Alles ist wie vorher.
Ein Mann telefoniert in ungesunden Krächzlauten – tut das nicht weh?
Jemand ist ein pragmatischer Romantiker.
Nach der Lösung suchen, als ob es sie gäbe.