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62 Sonntag, 17.05.2020

Im Online-Auswahlfenster der Regionalnachrichten ist ein Beitrag betitelt mit: Hundert Jahre alter Paternoster entdeckt. Ich lese: Hundert Jahre alter Pornostar entdeckt – und frage mich: Warum ist das nur im Regionalfernsehen?

Der erste Friseurbesuch, streng nach Vorschrift durchgehend mit Maske. (Weil meine aus Stoff mit ausfransenden Bändern am Hinterkopf verschlossen wird, bekomme ich eine Einwegmaske, deren Schlaufen man diskret hinter den Ohren verstauen kann.)
Es war längst an der Zeit, meine ungestüme Löwenmähne zu bändigen. (Kein ausgewachsener König der Löwen, eher ein aufstrebender – hitzköpfiger – Thronfolger.) Trotz der Behinderung klappte das Schneiden ganz gut, auch das Sprechen. Ich wusste mich in fähigen Händen.
Als es ans Stutzen der Ohrengegend ging, schlug ich vor, dafür kurz die Maske abzunehmen oder wenigstens auf der betreffenden Seite das Gummibändchen in die Hand zu nehmen. Der Friseur versicherte mir, dass es nicht nötig sei, er schneide einfach um die Maske herum. Ich vertraute ihm und ließ ihn machen. Am Ende setzte ich die Brille auf, bekam einen Spiegel vor mich hingeschoben (während des Schneidens herrscht in dem Salon Spiegelverbot) und kontrollierte meinen Schnitt, den ich als gelungen empfand.
Erst zu Hause bemerkte ich, dass es um die Ohren sehr unsauber geworden war. Ich nahm eine gewöhnliche Haushaltsschere und stutzte es mir nach. Spiegelverkehrt war das gar nicht so einfach.

Beim Friseur: Die Sixties, das waren schwierige Frisuren.

Am U-Bahnsteig schon länger die zwischengeschaltete Anzeige:
SCHÖN, DASS DU
WIEDER DA BIST!
Ich habe den Gruß nie bewusst wahrgenommen, sondern als Selbstverständlichkeit empfunden, als die insgeheim vorausgesetzte Geste eines alten Freundes. Ein gutes Zeichen eigentlich. Die Wiener Linien sind immer noch mein Freund, ich fühle mich während der Fahrt wieder wohl – und so geschieht für mich die Rückeroberung der öffentlichen Verkehrsmittel. Die U-Bahn gehört wieder mir. Sie ist mein Ort, so wie sie es all die Jahre war.

Wer erfindet den Fachbegriff für die Angst, dass einem jemand beim Aussteigen aus der U-Bahn versehentlich das Handy auf den Boden rempelt? Ich nicht, denn ich habe Besseres zu tun. Kaum gehen die Türen auf, umklammere ich panisch mein Handy.

Wie schön wird das sein, wenn mir in der U-Bahn endlich wieder jemand ordentlich auf die Zehen steigt; oder beim drängelnden Aussteigen auf den Rücken den Ferse. Anrempeln als städtischer Nähebeweis.

Aus dem zufälligen Straßentreffen zweier Frauen wird ein kurzweiliges Distanzgespräch.

Die blasse Tochter wirkt müdegelebt. Ihr Lachen ist resigniert wie das der Erwachsenen.

Die Allerweltspalme in einer Kinderzeichnung greift mit sieben Filzstift-Fingern nach dem zweibogigen Hintergrundvogel.

Vor einer sehr dicken Person: Braucht auch viel Disziplin, sich einen solchen Bauch anzuessen.

In asiatischen Gesichtern wirken Masken weniger deplatziert als in europäischen. Es geht darum, welcher Anblick uns aus den Fernsehbildern vertrauter ist. Bald hat sich der Eindruck gewandelt und die Masken werden in jedem Gesicht ähnlich auf uns wirken – gleich befremdlich oder gleich alltäglich.
Fast immer, wenn uns ein Film oder eine Fernsehserie das Bild einer glaubwürdigen dystopischen Zukunft malt, kommen darin Maskenmenschen vor; einerseits weil es eine realistische Prognose ist, dass die Gesellschaft in vielen Lebensbereichen asiatisiert wird, andererseits weil absehbar war, dass wir es früher oder später mit Erregern zu tun haben, die sich pandemisch verbreiten. Zuletzt gesehen in der dritten Staffel der Science-Fiction-Serie Westworld – die maskierten Statisten in der U-Bahn oder im öffentlichen Raum wirken seltsam normal. Diese Erkenntnis verursacht leichte Gänsehaut und ein sehr angenehmes Bauchkribbeln.
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(Überhaupt Westworld: Die Straßen sind sauber und leer. Die Menschen halten Abstand und tragen unkommentiert Masken. Es gibt eine App für kleinkriminelle Aufträge. Jeder Winkel wird überwacht, jedes Gespräch mitgehört. Endzeitliche Gedanken- und Gefühlskontrolle. Eine künstliche Intelligenz steuert das Treiben, Lebenslinien sind vorherbestimmt, Schicksale im Code vorgezeichnet. Langsam regt sich Widerstand. Wer führt den Aufstand an?
So sauber und so leer sind die gefilmten Straßen, so ohne alle Spuren von Lebendigkeit oder der Unordnung durch Eigensinn. Die gezeigte nahe Zukunft erinnert frappierend an unsere Gegenwart – jedenfalls an Quarantänebilder. Eine befreundete brasilianische Hackerin prophezeit, dass sich die vermeintlich reale Welt als weitere Imagination entpuppen wird, als virtuelles Environment höherer Ordnung; doch bis zum Ende der Staffel wird dieser Erzählraum noch nicht aufgemacht.)

Als mir beim Herausholen des Notizbuchs aus der Hosentasche ein unverhoffter Zwanziger entgegenflatterte, da nahm ich es als untrügliches Zeichen, dass alles gut werden würde – und das wurde es dann. Wenn auch anders als gedacht. So oder so. Und wenn schon nicht so – dann eben so. (Sich am Notizbuch festhalten, als wäre es ein Talisman, magisch aufgeladen mit einer namenlosen Kraft. Das sind federleichte Frühlingsgedanken, die man sich nicht immer durchgehen lässt.)

In mancherlei Hinsicht leben wir in einer Erniedrigungsgesellschaft. Wir neiden anderen, was sie haben oder dürfen, weil wir es auch gern hätten oder dürften. (So ertappe ich mich dabei, wie ich den Fußballern vorwerfe, dass sie Vollkontaktsport betreiben können, während es beim sinnvollen Ausrichten von Konzerten noch bei vagen Andeutungen bleibt. Immerhin ist es den Spielern verboten, ins Gras zu spucken; eine Regel, bei der sich keiner vorstellen kann, dass sie tatsächlich eingehalten wird. Und wer soll es ahnden, vielleicht der Spuck-Sheriff? Mit der graugrünen – rotzfarbenen – Karte, zusätzlich zur gelben und roten.) Wenn man sich durch die Sonderbehandlung anderer erniedrigt fühlt, dann möchte man zurückerniedrigen, und lässt sich zu unfairen Aussagen hinreißen. Die sozialen Medien bieten dafür eine geeignete Plattform.
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Auch bereitet es manchen eine kranke Lust, bestimmte Gesellschaftsschichten und Berufsgruppen dauerhaft erniedrigt zu wissen, zum Beispiel, indem man Krankenpfleger vergleichsweise schlecht entlohnt oder Lehrern und Kinderbetreuern nicht den Respekt entgegenbringt, der ihnen eigentlich zusteht. Erniedrigte Minderheiten oder Religionsangehörige sind auch immer vorteilhaft, wenn es darum geht, das eigene Selbstbild auf Kosten von Schwächeren zu polieren. Welche unzulässige Befriedigung liegt darin, den Untergebenen, den schweigsamen Kollegen, den finanziell Schlechtergestellten, den Bildungsfernen, den einfachen Arbeiter zu erniedrigen, indem man sie ausblendet oder schroff übergeht. Die Erniedrigungsgesellschaft beruht im Kern darauf, anderen abzusprechen, dass sie die gleichen Bedürfnisse haben wie man selbst. (Blind sein für ein Gesehenwerdenwollen.)

Personenbeschreibung: Ende vierzig oder Anfang fünfzig, Brillenträger, Nichtraucher, Lehrer für Geschichte und Geographie, alleinstehend, Vater noch am Leben, Mutter tot, sammelt Briefmarken, mag Tierdokumentationen und knappe Fußballspiele, isst gerne italienisch, hat statt einer Nase einen Zahnarztbohrer im Gesicht.

Jemand ist eine sehr umständliche Person, die für alles eine Extraeinladung braucht.

Jemand bricht offen die von ihm selbst für alle aufgestellten Regeln: Das ist seine Art von Humor.

Jemand gehört verboten.

Wenn mann sich in jemandem getäuscht hat, dann hat man sich eigentlich in sich selbst getäuscht.

Es gibt einen inneren Kreativitätstank, der nicht unerschöpflich ist, der alle paar Wochen oder Monate regenerieren sollte. Die Schreiblust muss man sich dann wieder ein paar Bücher lang anlesen.

Irgendjemand hat mein Buch geschrieben.

Standtrandbus: Im vorbeischaukelnden Fenster das Spiegelspiel eilig flirrenden Lichts.

Die Gewissheit, niemals wieder in meinem Leben etwas Welthaltigeres zu erzählen. (Bereitwillig scheitern.)

Die leise Frage nach dem großen Warum.

Schade, dass wir unsterblich sind.