Es ist Samstag und die Sonne scheint. Menschen genießen die neu gewonnene Freiheit, sitzen draußen an Tischen vor kühlen Getränken. Am Bauernmarkt werden Kostproben verteilt. Ich freue mich mit. Ganz dazugehören kann ich noch nicht – aber möchte ich das? Meine Lust, ein Restaurant oder Lokal zu besuchen, hält sich in Grenzen. Es wird ganz normal eingekauft und zu Hause gekocht. Es ist nicht so wichtig, wieder gesellig an Tischen zu sitzen, aber es ist schön, wie gut es vielen tut. Die Menschen atmen den leichten Samstag ein. Wer darin eine bedenkliche Sorglosigkeit erkennt, hat sich in der Zeit geirrt, das Sitzen und Trinken ist hart erkämpft und wohlverdient.
Im Podcast der New York Times geht es um den Unterschied zwischen Mysterium und Geheimnis. Und zwar speziell in Bezug auf Geheimdienste und die Lücken in deren Informationshaushalt. (Ich höre die Folge mit einiger Verspätung, weil ich insgesamt bei vielen stützenden Routinen und liebgewonnenen Gewohnheiten im Verzug bin.) Es gibt Dinge, die wir nicht wissen, weil sie von sich aus im Verborgenen liegen, so der eingeladene Interviewpartner – dabei handelt es sich um ein Mysterium. Es gibt Dinge, wir wir nicht wissen sollen, weil uns jemand etwas vorenthält oder uns sogar aktiv davon abschirmt – dabei handelt es sich um ein Geheimnis.
Stammt der Virus aus einem Labor in China? Das ist die Frage, die im Moment vor allem in den Vereinigten Staaten heiß diskutiert wird. Nur wenige erwiesene Sachverhalte lassen auch nur an die Möglichkeit denken, die Pandemie sei keine Laune der Natur, sondern menschengemacht und freigesetzt worden, ob aus Versehen oder absichtlich. Im chinesischen Wuhan, das nach allgemeinem Dafürhalten als Ursprung des Erregers gilt, existiert ein Labor für Virologie – diese Tatsache allein darf noch kein Grund sein, mutwillig Verschwörungstheorien in die Welt zu setzen, jemandem verbrecherische Absichten oder leichtfertige Missachtung von Sicherheitsstandards vorzuwerfen.
Die sogenannte Labortheorie bleibt ein sehr durchschaubares Ablenkungsmanöver eines amerikanischen Kabinetts, das in weiten Teilen mit dem Krisenmanagement im eigenen Land überfordert ist. (Das Mundtotmachen von warnenden Stimmen durch Handlanger des chinesischen Regimes wiederum gilt weitgehend als erwiesen.) Die Frage nach dem Ursprung des Virus schafft Raum für eine weitere, eine Übersichtsstufe höher angesiedelte: Ist die Frage, ob der Virus künstlich hergestellt wurde, das Eindringen in ein Mysterium oder ein Geheimnis? – abgesehen davon, dass es unwahrscheinlich bleibt. Mindestens kann es förderlich sein, fest nachzudenken, worüber wir uns eigentlich Gedanken machen.
*
Ein Mysterium liegt im Dunkeln, wahrscheinlich werden wir niemals die Antwort erfahren. Ein Geheimnis, das ein andere gezielt vor uns verbergen möchte, kommt irgendwann ans Licht. (Je länger ein Ereignis zurückliegt, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass irgendjemand auspacken wird, nicht zuletzt jemand, der sich bedroht fühlt oder der nichts mehr zu verlieren hat. Eine Hoffnung, die auch Verschwörungsjünger haben: Könnte nicht einer am Sterbebett verraten, wer die Mondlandung inszeniert, wer Kennedy erschossen hat? Findet nicht der Enkel eines verstorbenen Generals am Dachboden die Schachtel mit Erinnerungsfotos aus der Area 51 mit ballonköpfigen Außerirdischen?)
Die Arbeit von Geheimdiensten besteht darin, diese Suche nach der Wahrheit zu forcieren, sie sich also dort, wo sie nicht von sich aus vor den Vorhang tritt, zu erschleichen oder zu erpressen. Im besten Fall geschieht dieser Vorgang hinter verschlossenen Türen, unbemerkt vor den Argusaugen der investigativen Presse. (Bleibt die Wahrheit durch Gewalteinwirkung intakt oder wird sie verfälscht und kontaminiert, angereichert mit Fragmenten der Lüge? Ein durch Waterboarding und andere Techniken aus dem Lehrbuch für erweiterte Verhörmethoden herausgefoltertes Geständnis kann zur Gänze falsch sein. So mancher redet sich um Kopf und Kragen, um ersteren zu retten.)
*
Julian Barnes: Well, what happens next is there’s some intelligence that comes in on March 30, some new intelligence that Chinese officials have discussed the possibility that the virus came from the lab.
Michael Barbaro: Wow.
*
Es sollen also Hinweise oder sogar Dokumente existieren, die nahelegen, chinesische Behörden würden untersuchen, ob der Virus aus dem Labor in Wuhan stammen könnte. Meinungsmacher und Nachbeter stürzen sich darauf mit Schaum vor dem Mund. (Es gibt die Verwalter unseres Hasses.) Viele Anhänger der Labortheorie sehen sich in ihren Wunschvorstellungen eines perfiden Plans bestätigt. Dabei bedeutet diese Information – so sie denn durch die Wirklichkeit gedeckt ist – eher das Gegenteil, nämlich dass die chinesischen Machthaber eben nicht bewusst einen Erreger freigesetzt haben.
Was mir sofort dämmert und worauf auch der Moderator eifrig hinweist: Das bedeutet doch nichts anderes, als dass man in China ja genauso ratlos ist und der Sache nachgehen will. Damit hätte sich der Vorwurf einer absichtlichen Freisetzung weitgehend in Luft aufgelöst. (Einschub für Zweifler: Was lokale Behörden untersuchen, ist die eine Sache, das Gottgebaren der höheren Instanzen eine andere. Es gibt Informationsdefizite innerhalb von Strukturen der Macht.)
*
Die Frage der künstlichen Herstellung an sich ist damit noch offen; wer will, kann es erfreulich finden, dass ihr offensichtlich auch in China nachgegangen wird. Hat es nachweisliche Verfehlungen gegeben, werden Köpfe rollen. (Vielleicht nicht nur im übertragenen Sinn.) Wenn sich die Frage überhaupt stellt, dann haben wir es also nicht mit einem Geheimnis zu tun, das jemand für sich behalten will; und mit einem Mysterium wohl genauso wenig. Die Zusammensetzung des Virus wurde von Forscherteams analysiert, auch gezielt daraufhin, ob es sich um das Produkt fehlgeleiteter Wissenschaft handeln könnte. Nach derzeitigem Wissensstand ist das nicht plausibel und kann mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden.
Es müssen nicht immer finstere Mächte am Werk sein, wenn wir Leid erfahren; die Natur kommt dabei ganz gut alleine zurecht. Wer es aber glauben will, das Schauermärchen von der großen Übeltat, der wird es auch weiterhin glauben, mit wachsender Begeisterung.
*
Jetzt, im Beschreiben des Gehörten, setze ich über aus dem Faktengrau des seriösen Journalismus und der Wissenschaft hinüber ins Erzählen, wo es mir viel besser gefällt. Was man hier vorfindet, sind alle benötigten Zutaten für einen unterhaltsamen Spionagethriller. Gerade die Welt der Geheimdienste kennt den double bluff und die false flag operation, deren Protagonisten sind geübt im Tarnen und Täuschen, sie schlagen Haken, dass einem schwindlig wird.
Mein Erzählgehirn denkt: Was, wenn die Chinesen eben doch Dreck am Stecken haben und einen barbarischen Akt sehr einfallsreich vertuschen, oder wenn es sich um einen fahrlässigen Forschungspatzer handelt, für den die Parteifunktionäre nicht zur Rechenschaft gezogen werden möchten – und man die Unwissenheit nur behauptet? Die Geschichte könnte lauten: Jemand fälscht Dokumente oder inszeniert eine Untersuchungskommission, um den Anschein zu erwecken, selbst herausfinden zu wollen, was sich zugetragen hat. Teil der Geschichte ist das gezielte Leaken vermeintlicher Abhörprotokolle, in denen angeheuerte Schauspieler die Rollen von integren Behördenvertretern übernehmen. So hört jeder: Wir wissen nichts. So denkt jeder: Dem ungeschickten Praktikanten ist kein Reagenzglas heruntergefallen. So weiß jeder: Das mit dem biologischen Kampfstoff muss Blödsinn sein. (Was ist das überhaupt – China? Und wer sind die Chinesen?)
Solche Gedankenfäden zu spinnen und aus ihnen einen kuscheligen Thriller zu stricken, macht Spaß. Die Geschichte funktioniert jedoch nur als Geschichte und ist im Reich der Phantasie am besten aufgehoben. Hier gelten andere Gesetze, nämlich jenes der Spannung und des Effekts, glaubwürdig oder faktenbasiert braucht das Erzählte nicht zu sein. Geschichten sind mysteriumsaffin und veranschaulichen eine Möglichkeit; die Quellen, aus denen wir unsere Schlüsse ziehen und Entscheidungen treffen, sollten mit Wahrscheinlichkeiten operieren.
*
(Auch im zwischenmenschlichen Umgang kann die Meinung anderer über uns durch drastische Mittel gezielt manipuliert werden. Seinfeld-Miterfinder Larry David erläutert in seiner Comedy-Serie Curb Your Enthusiasm – sechste Episode der neunten Staffel – die Technik des accidental text on purpose: Eine Kurznachricht absichtlich falsch versenden; also zum Beispiel der missgestimmten Partnerin eine Textmitteilung zukommen lassen, die vermeintlich an den besten Freund hätte gehen sollen, in der man ihm berichtet, wie sehr man sein Verhalten gegenüber dem geliebten Menschen bedauert und wie glücklich man über eine baldige Versöhnung wäre. Eine solche Gefühlsregung kann um die Ecke gespielt viel wirkungsvoller sein als die plumpe und direkte Zuneigungsbekundung. Komödientaugliches Verhalten, das man sich im Liebesalltag eher verkneifen sollte.)
Es gibt das Wort hineingeheimnissen.