Mit Alpakas hat sich der liebe Gott eine kleine herzliche Spielerei erlaubt.
Jetzt, wo das Publikum wegfällt, machen Talkshows wieder Sinn. Es ist so angenehm, den eloquenten Gesprächen der Gäste zu lauschen, ohne dass sie von zustimmendem Applaus oder ablehnenden Lachern unterbrochen werden. Ich bin kein großer Talkshow- kenner oder liebhaber, weiß aber, wie viele es davon gerade in Deutschland gibt. Kein Tag der Woche, an dem nicht mindestens eine dieser Runden stattfindet, bei denen im besten Fall sehr unterschiedliche Meinungen im freien Austausch und ohne Untergriffigkeit behandelt werden können. Die Abwesenheit des Publikums spart dabei sehr viel Zeit. Im leeren Studio ist es so ruhig.
Ich höre nur zu, das äußere Erscheinungsbild der Anwesenden interessiert mich nicht, hat es doch auf meine Einverstandenheit mit dem von ihnen Gesagten keinerlei Einfluss, genauso wenig wie auf den Grad des Erkenntnisgewinns. In letzter Zeit mache ich es so: Zum Einschlafen lege ich mir das Handy aufs Nachtkästchen und lasse eine Gesprächsrunde laufen. Den Bildschirm decke ich mit dem Notizbuch ab, da er sich aus unerfindlichen Gründen abschaltet, sobald ich die Hülle zuklappe. (Noch bin ich mit den Eigenheiten des neuen Smartphones nicht vertraut; das alte ist mir einmal zu oft heruntergefallen und hat den Geist aufgegeben.)
Ich liege also im Bett und lausche einer spannenden Diskussion, was das Einschlafen natürlich nicht erleichtert, da mich die Aussagen sehr fesseln, nicht zuletzt von Wissenschaftlern zitierte Modelle und Statistiken, die ich mich trotz mangelhafter Rechenkünste nachzuvollziehen bemühe. Ich liege konzentriert im Bett, und vom Nachtkästchen plaudert das Smartphone, und redegewandte Leute sagen sehr kluge Dinge, die wieder ein neues Licht auf alte Fragen werfen, die man für sich selbst schon als beantwortet abgehakt hat, sie lassen einen an schlüssigen Denkvorgängen teilhaben und ordnen Informationen anders ein. Und hält man etwas für abwegig oder nicht sonderlich geistesgegenwärtig, dann ist auch das lehrreich, weil man sich im Abgrenzen zu anderen seiner eigenen Grenzen und Positionen bewusst wird.
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Das Studio ist leer. Eine Handvoll Menschen sitzen darin auf großzügig im Raum verteilten Stühlen. Ein Gesprächsleiter oder eine Gesprächsleiterin steckt die Bereiche des Besprochenen ab, erteilt und entzieht den Teilnehmern das Wort. Die Abwesenheit des Publikums führt auch dazu, dass die Talkgäste nicht zu sehr versucht sind, jemandem gefallen zu wollen. Natürlich müssen sie bis zu einem gewissen Grad auch eine Klientel bedienen – gerade Politiker –, doch ohne Gleichgesinnte direkt vor Ort sind sie weniger krampfthaft darum bemüht, das Gegenüber zu provozieren oder eine heftige Reaktion bei der in den Zuschauerreihen sie anfeuernden Zielgruppe auszulösen.
Manchmal rattern die Münder in Talkshows, es werden regelrechte Salven auf den Gegner losgelassen, aber jetzt, in den seltsamen Zeiten, ist die Stimmung merklich beruhigter, bei allem Ernst, der im Diskutieren von Fallzahlen, einer schwierigen Wirtschaftslage oder fragwürdigen Demonstrationen angebracht scheint. Nicht nur in Deutschland, auch hierzulande, gibt es eine solide Gesprächsbasis unter den Menschen, man kann noch miteinander diskutieren, ohne gleich in Streit verfallen zu müssen, man kann noch unterschiedlicher Meinung sein, ohne den anderen gleich zu verdammen.
Vielleicht höre ich deshalb so gern zum Einschlafen Talkshows: Weil es mich beruhigt, dass gebildete Menschen in höflicher und ehrlicher Weise miteinander über gewichtige Sachverhalte sprechen, weil der zivilisierte Umgang zwischen Andersdenkenden ein guter Ausgangspunkt für eine Gesellschaft ist, die vor großen Herausforderungen steht. Und wenn ich nicht einschlafen kann, weil ich den nächtlichen Stimmen lausche und die Runde allzu interessant ist, dann schalte ich die nächste Talkshow ein, decke den Bildschirm mit dem Notizbuch ab, drehe mich auf die andere Seite und erfreue mich ein paar schlaflose Stunden lang am schönen Zufall, dass es mich gibt.
Oh, böses Spiel der Hoffnung!
Ich habe mir selbst gegenüber behauptet, dass jeder kommende Roman, der die Pandemie nicht mitdenkt – wenigstens als Phänomen –, automatisch ein historischer Roman sein wird. Was meine ich damit? Angenommen, nächsten Herbst erscheint ein Roman, der laut Buchrücken in der Gegenwart spielt. Er erzählt das Übliche anhand herkömmlicher Szenen. Die Protagonisten gehen in ein Restaurant ohne Masken zu tragen, sie besuchen Konzerte ohne jede Beschränkung, sie treffen wen sie wollen wann sie wollen ohne jede Distanzmaßnahme. Wie befremdlich wird beim Lesen die Auslassung sein? Welche relevanten Details werden wir in der Wiedergabe des beschriebenen Alltags schmerzlich vermissen? Ein kurzer Flug nach London oder Paris ist das Normalste der Welt, der Arbeitsmarkt ist stabil und bietet Chancen, die Einkaufsstraßen wuseln vor Geschäftigkeit und laden ein zum nachmittäglichen Schaufensterbummel. So war es in der Entstehungszeit des Romans, bevor ein Ruck durch die Länder gegangen ist.
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Werden wir beim Lesen nicht insgeheim spüren, dass die Geschichte zwar in der Gegenwart spielt, aber eben nicht jetzt? Werden wir uns um unsere Empathie, unser Mitfiebern und Mitdenken und Mitleiden betrogen fühlen? Wollen wir nicht über andere lesen, um etwas von von uns selbst zu erfahren? Ein solcher Roman, denke ich, erzählt uns doch nicht mehr unser Leben, wie es ist, sondern einen dumpfen Nachhall des Vergangenen.
Ich bin mir nicht ganz sicher, ob meine Vermutung sich bewahrheiten wird, und freue mich darauf, bald selbst zu entdecken, inwiefern sich dieses stolz Vorgewusste als sorglos Dahingeglaubtes entpuppt. Vielleicht ist es Blödsinn und wir werden uns nichts dabei denken, wenn der Held unbekümmert eine Flugreise plant oder unmaskiert seine Oma im Altersheim besucht.
Es wird auch davon abhängen, wie sich die Dinge weiter entwickeln, wie lange die Zeiten noch seltsam sein werden. Abgesehen davon wäre es ja auch nicht schlimm, einen vermeintlichen Gegenwartsroman als historischen Roman zu lesen, es wäre sogar erfreulich, endlich wieder an etwas anderes zu denken als an das blöde C-Wort.
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Ich stelle mir vor, in ein paar Monaten ein Buchgeschäft zu betreten und mit den Augen die hingeschlichteten Cover abzugrasen. Im Kopf verteilt man unsichtbare kreisförmige Pickerl: Prä-Corona oder Post-Corona, vor oder nach Beginn der Pandemie entstanden, den Virus mitdenkend oder eben auslassend. Auch danach trifft man seine Kaufentscheidung, je nach Wunsch.
Unsere Gegenwart und damit unsere Wirklichkeit haben sich grundlegend gewandelt. Wie so viele bin ich davon überzeugt, dass die grassierende Veränderung irreversibel ist, dass zwar nicht plötzlich alles anders sein wird, aber doch vieles nicht mehr selbstverständlich oder jedenfalls getrübt, oder im Gegenteil sogar offener und von mancherlei Zwängen befreit.
Wir wissen es nicht und können es nicht wissen. Letzte verbliebene Konstante ist die Ungewissheit; mit ihr können wir in jedem Fall sicher rechnen. Das macht den Reiz und das macht die Gewalt der Zeiten aus.
Es gibt überhaupt keinen Grund, man selbst zu sein.
Zum weggelegten Brotanbiss beim Frühabendkaffee: Du bist das Gedichthafte des Tages.