Der Tag steht ganz im Zeichen des Bundeskanzlers. Für eine seiner vielen Dauerwahlkampfveranstaltungen hat er das Vorarlberger Kleinwalsertal besucht, welches ausschließlich über Deutschland zu erreichen ist. Den Anrainern wurden im Vorfeld Beflaggung empfohlen und Bekundungen ans Herz gelegt. Der Bundeskanzler hat sich feiern lassen wie es seine Art ist – als Heiland und Gesandter einer besseren Zukunft. Es scharten sich die Menschen um ihn bei der Verkündigung baldiger Grenzöffnungen zu Bayern, vielleicht auch deshalb, weil es zum Interessantesten gehört, das jemals im Kleinwalsertal stattgefunden hat (seit der Hubschrauberlandung von Bruno Kreisky im Jahre 1973). Der Bundeskanzler ging Schulter an Schulter mit dem grübchenkinnernen Landeshauptmann, und Atem an Atem mit dem schnauzbärtigen Bürgermeister. Er winkte der Menge, ließ sich bereitwillig ablichten von hochgereckten Handykameras. Dabei wurde jede Abstandsregel missachtet, und damit jede Anstandsregel. Ich möchte dem Bundeskanzler ins Gesicht schlagen. Ich werde dem Bundeskanzler nicht ins Gesicht schlagen.
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Verordnung des Bundesministers für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz betreffend Lockerungen der Maßnahmen, die zur Bekämpfung der Verbreitung von COVID-19 ergriffen wurden (COVID-19-Lockerungsverordnung – COVID-19-LV):
§ 1. (1) Beim Betreten öffentlicher Orte im Freien ist gegenüber Personen, die nicht im gemeinsamen Haushalt leben, ein Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten.
§ 10. (1) Veranstaltungen mit mehr als 10 Personen sind untersagt.
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Ich möchte dem Bundeskanzler ins Gesicht schlagen und kann niemanden verstehen, der dem Bundeskanzler nicht ins Gesicht schlagen möchte. Dafür verstehe ich plötzlich, wie Gewalt in die Welt kommt. Es gibt einen Bundeskanzler, der sich nicht an die eigenen Regeln hält, und das ohne jede Scham, direkt vor den Augen der Öffentlichkeit. Es gibt einen Koalitionspartner, der hörig dazu schweigt. Es gibt einen Gesundheitsminister, der sich bei einer Pressekonferenz diesbezüglich nicht äußert. Es gibt das abgeschnittene Mittelberg, in dem die Menschen Transparente in die Höhe halten wie zappelige Teenager bei der Schulsprecherwahl, die eine bedenkliche Politikerverehrung an den Tag legen, wie sie einer aufgeklärten Wählerschaft unwürdig ist. Ich werde dem Bundeskanzler nicht ins Gesicht schlagen.
Vielleicht ist er sich seiner Handlungen bewusst, vielleicht ist er sich ihrer nicht bewusst; vielleicht ist er ein bedauerlicher Einzelfall, vielleicht ist er das Symptom einer selbstgerechten Machtelite, die sich für unangreifbar hält, weil sie es zu oft war. Seelenruhig spazierte der Bundeskanzler durch die Gemeinde Mittelberg zum Walserhaus, um bei Tischrunden seine wichtigen Gespräche über Tourismus zu führen.
Ich sehe mir das mehrminütige Video seines Besuches an, spule vor und zurück, springe an bestimmte Stellen, dorthin, wo er sich für ein Selfie zärtlich in die Menschen lehnt, dorthin, wo er verschämt die abgelegte Maske in die Jackentasche steckt; ich spule und springe und sehe, wie er sich grinsend neben dem Bürgermeister postiert, wie die herausgeputzten Kleinwalsertaler und vor allem die verliebt strahlenden Kleinwalsertalerinnen hektisch werden beim großen Besuch aus der Hauptstadt, wie sie jauchzen und jubeln und jodeln, wie sie applaudieren und pfeifen und ihrer unermüdlichen Begeisterung durch enthemmte Bravo-Rufe Ausdruck verleihen. Ich möchte nicht nach Mittelberg auf Urlaub fahren. (Noch dazu, wo es dort keine Polizei gibt, die nach dem Rechten sieht.) Ich möchte dem Bundeskanzler ins Gesicht schlagen.
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Bundeskanzler: Jetzt sind viele Leute, ich bitt euch alle a bissl an Abstand zu halten, so gut als, so gut als möglich.
Kleinwalsertaler: (Erheitertes Gelächter)
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Der in mir keimende Zorn ist nicht mein eigener, sondern ein Zorn der anderen. Mir geht es gut, ich habe keinen Grund, wehleidig zu sein. Die Absagen und Einbrüche und Einschnitte sind schmerzhaft und bedauerlich, aber zu verkraften; trotz Wegbrechens vieler Möglichkeiten des Kunstschaffens fehlt es mir in materieller Hinsicht an nichts. Ich bin aus eigener Kraft in der Lage, über die Runden zu kommen und könnte im Notfall jederzeit mit Hilfe aus dem familiären Umfeld rechnen. Als geübter Durchschwindler bin ich es gewohnt, in Lebensritzen einzudringen und dort das Nötigste zusammenzuklauben. Ich führe ein vergleichsweise komfortables Leben. Es geht mir so gut oder schlecht wie allen jetzt, sicher um einiges besser.
Doch es gibt andere, die sich in ihrer Existenz bedroht sehen und nicht wissen, wie es weitergeht, weil es ihnen nicht gesagt wird, andere, die seit Wochen und Monaten ihre älteren Angehörigen nicht im Pflegeheim besucht haben oder denen es sogar verboten war, sich bei einem Begräbnis von einem Verstorbenen zu verabschieden. Beim Anblick des Bundeskanzlers, wie er frohgemut durch angeheizte Schaulustige stolziert, wird mir schlecht.
Ich studiere das Gesicht jeder einzelnen Person, um mir all die Gesichter zu merken, und erkenne in einer Frau mit lilafarbener Handyhülle und Schal vor dem Mund nichts als eine degenerierte Fahnenschwenkerin, dabei ist sie so viel mehr. Ich sehe die Menschen, und dass erlaubt ist, was eigentlich verboten sein sollte. (Von mir aus soll es ja wieder erlaubt sein, aber dann für alle und nicht bloß für manche, und nicht nur, wenn es gerade genehm ist und vermarktbare Bilder produziert.) Immer und immer wieder sehe ich mir die Aufnahmen an, bewegt und unbewegt, sehe mir aus mehreren Winkeln das immergleiche verwerfliche Schauspiel an, das eine Verhöhnung der Geduldigen ist. Ich kann mir nicht helfen. Ich möchte dem Bundeskanzler ins Gesicht schlagen.
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Man sollte die Kirche im Dorf lassen. Ich balle die Faust und kann sie nicht mehr öffnen, und will sie auch gar nicht mehr öffnen. Ich lasse sie eine Zeitlang geballt und sehe mir in Endlosschleife das Video aus dem mittelbergischen Kleinwalsertal an. Dann öffne ich sie doch wieder, die Faust, wenn auch unwillig, um zu schreiben, dass ich dem Bundeskanzler ins Gesicht schlagen möchte. Ich kann den Blick nicht mehr abwenden von den Bildern des Bundeskanzlers und des Landeshauptmannes und des Bürgermeisters, suche immer wieder nach ihnen, und steigere mich in eine zornige Erregung, die kein Ventil findet. Wenn die Faust auch nach außen hin offen ist, so bleibt sie innerlich doch geschlossen, um dem Bundeskanzler ins Gesicht schlagen zu können, weil ich ihm ins Gesicht schlagen möchte.
Ich sehe die Bilder der Veranstaltung und denke an die Menschen in einer existenzbedrohenden Notlage, und möchte dem Bundeskanzler ins Gesicht schlagen. Ich kann es nicht ändern. Ich möchte dem Bundeskanzler ins Gesicht schlagen. Gleichzeitig weiß ich, dass ich es niemals tun werde. Unter keinen Umständen würde ich dem Bundeskanzler ins Gesicht schlagen, wie ich auch sonst niemals jemandem ins Gesicht schlagen würde, und noch nie in meinem Leben jemals irgendjemandem ins Gesicht geschlagen habe. (Als Kind vielleicht, denke ich, ja, ganz sicher einmal als Kind. Das gehört doch dazu. Dem Bruder wahrscheinlich im Streit. Aber sonst?) Vielleicht ist es nötig, seine Affekte zu kennen, um eben nicht nach ihnen zu agieren. Morgen werde ich die Kirche dann wieder im Dorf lassen, aber heute möchte ich dem Bundeskanzler ins Gesicht schlagen.
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Ich möchte dem Bundeskanzler ins Gesicht schlagen und frage mich, ob man allein durch eine öffentliche Äußerung dieses Wunsches die Sphäre der gefährlichen Drohung betritt. Allerdings sage ich nicht: Ich werde dem Bundeskanzler ins Gesicht schlagen. Oder: Hiermit rufe ich andere dazu auf, dem Bundeskanzler ins Gesicht zu schlagen. Ich sage lediglich, dass ich dem Bundeskanzler in einem Anflug von menschenverachtender Geistesgegenwart ins Gesicht schlagen möchte. Die Tatsache, dass ich dem Bundeskanzler ins Gesicht schlagen möchte, verknüpfe ich mit dem Hinweis, es niemals zu tun, was einer unverrückbaren Festlegung gleichkommt.
So kommt Gewalt in die Welt. Ich verstehe, dass es Menschen gibt, die anderen nicht nur ins Gesicht schlagen möchten, sondern die es eines Tages auch tun. Vielleicht ist es die Hilflosigkeit des Machtlosen gegenüber dem Machthaber, die nur bis zu einem gewissen Grad noch zu ertragen ist, vielleicht kommt eines Tages eine himmelschreiende Ungerechtigkeit ans Licht, und man weiß sich nicht mehr anders zu helfen, als jemandem ins Gesicht zu schlagen. Ich bleibe geballt.
Ich möchte dem Bundeskanzler ins Gesicht schlagen. Ich möchte nicht, dass irgendjemand dem Bundeskanzler ins Gesicht schlägt. Ich möchte nicht, dass dem Bundeskanzler jemals ins Gesicht geschlagen wird. Ich werde dem Bundeskanzler nicht ins Gesicht schlagen.
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Ich möchte dem Bundeskanzler ins Gesicht schlagen und bin nicht stolz darauf. Ich möchte dem Bundeskanzler ins Gesicht schlagen und habe heute aufgewärmte Spaghetti zu Mittag gegessen. Ich möchte dem Bundeskanzler ins Gesicht schlagen und höre draußen das heisere Krächzen einer Krähe. Ich möchte dem Bundeskanzler ins Gesicht schlagen und wollte mir auf der Heimfahrt in der U-Bahn die bescheuerte Maske vom Kopf reißen. Ich möchte dem Bundeskanzler ins Gesicht schlagen und finde langsam, dass es reicht. Ich möchte dem Bundeskanzler ins Gesicht schlagen und habe mich zwanzig Minuten vor der Post angestellt. Ich möchte dem Bundeskanzler ins Gesicht schlagen und wollte mir auch am Schalter die Maske vom Kopf reißen. Ich möchte dem Bundeskanzler ins Gesicht schlagen und habe mir weder in der U-Bahn noch in der Post die Maske vom Kopf gerissen. Ich möchte dem Bundeskanzler ins Gesicht schlagen und möchte wahrscheinlich nur mir selbst ins Gesicht schlagen.
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Ich möchte dem Bundeskanzler ins Gesicht schlagen und schäme mich dafür. Ich möchte dem Bundeskanzler ins Gesicht schlagen und werde es nicht tun. Ich möchte dem Bundeskanzler ins Gesicht schlagen und werde dem Bundeskanzler niemals ins Gesicht geschlagen haben. Ich möchte dem Bundeskanzler ins Gesicht schlagen und stehe dazu. Ich möchte dem Bundeskanzler ins Gesicht schlagen und möchte nicht, dass ihm jemals ins Gesicht geschlagen worden sein wird. Ich möchte dem Bundeskanzler ins Gesicht schlagen und möchte nicht, dass ich dem Bundeskanzler ins Gesicht schlagen möchte. Ich möchte dem Bundeskanzler ins Gesicht schlagen und frage mich, wie ich dafür sorgen kann, dass ich dem Bundeskanzler nicht mehr ins Gesicht schlagen möchte.
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Was müsste passieren, dass mein Wunsch, dem Bundeskanzler ins Gesicht zu schlagen, verfliegt? Grundsätzlich sollte ich mich abreagieren, zum Beispiel durch körperliche Ertüchtigung, vor allem sollte ich dringend an die frische Luft und ein paar Mal tief durchatmen. Der Wunsch könnte verfliegen durch ein winziges Schuldeingeständnis des Bundeskanzlers oder des Landeshauptmannes oder des Bürgermeisters. Er könnte verfliegen durch Klarheit, wie es weitergeht. Solange aber Theaterarbeiter bedrohlich in der Luft hängen und am Strick ihrer Zukunftsangst baumeln, solange es keine Erklärung oder Entschuldigung des Bundeskanzlers und seiner Gefolgsleute gibt, werde ich ihm womöglich noch länger ins Gesicht schlagen wollen – ohne es jemals zu tun –, solange also bleibt der Wunsch aufrecht und verschafft sich Gehör.
Ich bin kein Mensch, der anderen ins Gesicht schlägt oder auch nur schlagen möchte, und entdecke etwas an mir, dass mich verstört. Ich frage mich aber, inwieweit der Grund für meine Erregung in mir selbst zu finden ist und inwieweit beim Verhalten des Bundeskanzlers und seiner Sprecher, die alles relativieren und abstreiten und umerzählen, obwohl Bilder nicht lügen. Ist es die Schuld des Bundeskanzlers, dass ich ihm ins Gesicht schlagen möchte? Hat er es sich selbst zuzuschreiben, dass jemand den Wunsch verspürt, ihm ins Gesicht zu schlagen?
Bestimmt liegt es an mir. Ich sitze einer Blendung oder einer Fehlsicht auf. Welche zusätzlichen Informationen, die mir derzeit aus unerfindlichen Gründen nicht zur Verfügung stehen, bräuchte es, damit ich dem Bundeskanzler nicht mehr ins Gesicht schlagen möchte? Welches Detail des Besuches im Kleinjubeltal bei den Kleinjubeltalern wurde in der Berichterstattung verkürzt dargestellt? Die Bilder sprechen für sich.
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Ich merke, dass ich dem Bundeskanzler so sehr ins Gesicht schlagen möchte, dass sich im rechten Ohr eine Taubheit einstellt. Mein Gehörgang dröhnt davon, dass ich dem Bundeskanzler ins Gesicht schlagen möchte. Ein dumpfes Klingeln setzt sich fest, ein taubes Dröhnen wie von Tinnitus. Ich frage mich, wer dem Bundeskanzler sonst noch ins Gesicht schlagen möchte. Gibt es eigentlich jemanden, der dem Bundeskanzler nicht ins Gesicht schlagen möchte?
Ich kenne Leute, die ihren Mut verloren haben, für die Zukunft keine Zeit mehr ist und die Welt kein Ort mehr. Ich kenne welche, die alles schlucken und alles mitmachen, die alles akzeptieren und alles schultern, die jeden Spießrutenlauf mitstolpern und jeden Eiertanz mitmachen, die nicht murren, obwohl sie verzweifelt sind. Ich kenne Wahrheiten, die kein Geheimnis sind, weil sie offen auf dem Tisch liegen. Es ballt sich etwas fest und es bahnt sich etwas an. Wie ist es möglich, dem Bundeskanzler nicht ins Gesicht schlagen zu wollen?
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Es dröhnt. Ich kann mich nicht sattsehen an den Bildern des Bundeskanzlers, wie er sich in den Bekundungen der Kleinwalsertaler suhlt vor ihren kurzfristig beflaggten Häusern. Ich kann mich nicht sattfragen an der Frage, wer ihnen die kleinen rot-weiß-roten Fähnchen in die Hand gedrückt hat, um sie im Antlitz des Gesandten zu schwenken. Ich kann mich nicht sattdenken an den Gedanken, welch himmelschreiende Ungerechtigkeit und Verlogenheit und Unverfrorenheit hier am Werk ist. Ich kann mich nicht sattschreiben am Satz, dass ich dem Bundeskanzler ins Gesicht schlagen möchte. Ich kann mich nicht sattlesen an den Kommentaren unter dem Video seines Besuches, an den Foreneinträgen auf Zeitungsseiten, an den Artikeln und Häppchen und Posts. Ich kann mich nicht sattverlieren in einer contentgenährten Empörungsspirale. Ich kann mich nicht sattwünschen am Wunsch, dem Bundeskanzler ins Gesicht zu schlagen. Es dröhnt so schön.
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Ich möchte dem Bundeskanzler nicht mehr ins Gesicht schlagen. Ich erinnere mich, dass ich dem Bundeskanzler ins Gesicht schlagen wollte, dass ich davon erzählt habe, wie ich ihm ins Gesicht schlagen möchte, und dass im Erzählen der Wunsch abgeklungen ist. Es war nötig, davon zu erzählen, dass ich dem Bundeskanzler ins Gesicht schlagen möchte, weil ich ihm jetzt nicht mehr ins Gesicht schlagen möchte. Es ist besser, davon zu erzählen, dass man dem Bundeskanzler ins Gesicht schlagen möchte, als dem Bundeskanzler tatsächlich ins Gesicht zu schlagen. Ich werde dem Bundeskanzler nicht ins Gesicht geschlagen haben. Ich möchte dem Bundeskanzler nicht ins Gesicht schlagen.
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