Jedes Mal, wenn ein Virologe davor warnt, den neuartigen Coronavirus mit herkömmlichen Grippeviren zu vergleichen, weil das so sei, als würde man Äpfel mit Birnen vergleichen, stelle ich mir Äpfel und Birnen vor und erschrecke, wie ähnlich sie sich sind. (Sympathisch ist mir die Aussage eines Grazer Infektionsmediziners – Gewinner des Österreichischen Infektionspreises 2016 –, wonach man diese Diskussion unbedingt führen müsse und beim Vergleich womöglich feststelle, dass in unseren Breiten die Grippe bedenklich verharmlost werde.)
Ich bin kein begeisterter Obstesser und habe diese Redensart noch nie verstanden. Es ist doch nicht nur zulässig, sondern äußerst hilfreich, Äpfel mit Birnen zu vergleichen, um sagen zu können: Hier sind sie sich ähnlich, hier unterscheiden sie sich. Das einzige, was nicht geschehen darf: Äpfel mit Birnen gleichsetzen. Vielleicht wäre es gut, die Redensart dementsprechend abzuwandeln.
HIER KÖNNTE IHRE WERBUNG STEHEN.
Ich erinnere mich an Innsbruck Ende Februar. Vor der Mittagszeit, so gegen halb zwölf, schlug ich in einem Restaurant mein Leselager auf. Zum amerikanischen Roman bestellte ich mir eine Melange. (Der Roman liegt jetzt geschlossen vor mir. Das Lesezeichen verharrt stur auf Seite 144, seit damals bin ich keine Zeile weitergekommen. Habe ich nicht schon längst den Faden verloren? Werde ich in die Geschichte der zwei schrulligen New Yorker Junggesellen so leicht zurückfinden können?) Ich nippte also an meiner Melange, blätterte erheitert im Buch und kritzelte beiläufig ins Notizbuch. Innsbruck zeigte sich derweil von seiner schönsten und sonnigsten Seite. Noch war Corona nur ein Wort, das die Runde machte und einander in unterschiedlichen Graden der Aufgeregtheit zugeraunt wurde. Ein zentral gelegenes Hotel war kurz davor geschlossen und abgeriegelt worden, nachdem es erste positive Tests gegeben hatte.
(Erstaunlich, wie viel klarer der Blick zurück sein kann als jener aus dem eigenen Fenster.)
*
Mein Platz war so gewählt, dass ich den Eingang sehen konnte, da ich ein gemeinsames Mittagessen ausgemacht hatte. Der Tisch befand sich direkt neben dem Tresen, hinter dem der Chef den zwei Kellnerinnen letzte Anweisungen fürs Mittagsgeschäft gab. Auch aus der Küche hörte man es klappern und plaudern. Die Menüplan war hinreichend erklärt. Die Kellnerinnen hatten alles zurechtgelegt und betreuten die nach und nach eintröpfelnden Gäste. Zwischendurch blieb ihnen Zeit, ein paar Worte zu wechseln. Die Sorge der einen war unüberhörbar, sie war regelrecht aufgedreht vor Nervosität.
Sie sei in die Drogerie gegangen, aber Desinfektionsmittel sei ausverkauft gewesen, leider ausverkauft, habe man ihr gesagt, und in der nächsten auch. Sie habe sich um einen Mundschutz gekümmert, eine Atemmaske, oder wie man das nenne, jedenfalls werde sie sich mit Schutzmasken eindecken, sagte sie, eindecken werde sie sich, sobald das wieder möglich sei, denn zurzeit würde auch da alles knapp werden. Schon bei den Eingängen zu Apotheken seien Schilder angebracht, die darauf hinweisen würden. (Ich erinnere mich, bald darauf in einem Fernsehbericht die Aussage einer Apothekerin gehört zu haben, wonach sie normalerweise schätzungsweise so zwischen fünfzig und hundert Stück Masken verkaufen würde, und jetzt, sagte sie, könne sie wohl ein paar Tausend verkaufen, wenn sie diese denn hätte, so groß sei die Nachfrage. Wenn ich sie hätte, sagte die Apothekerin, und schaute ganz betreten vor entgangenen Einkünften. Ihre Aussage war höchstwahrscheinlich übertrieben – aber wohl gar nicht so sehr.)
Ich nippte weiter zögerlich an der Melange, las aber gar nicht mehr richtig, weil ich mich auf das Geschriebene nicht mehr konzentrieren konnte, so interessant war das Gespräch der Kellnerinnen, welches hauptsächlich aus dem Reden der einen und dem aufmerksamen Zuhören der anderen bestand. Ich legte einen Zettelabriss als Lesezeichen ein – auf Seite 144 – und verabschiedete mich vorerst von meinen New Yorkern. Stattdessen klappte ich endgültig das Notizbuch auf, um mir ungeniert einzelne Fragmente des Gesagten mitzunotieren, also selbst Geschriebenes herzustellen. Auf diesen Innsbrucker Satzfetzen beruht meine Erinnerung, der Rest bringt sich selbst zur Welt, wie das eben so ist.
*
Die besorgte Kellnerin berichtete, sie gehe nicht mehr weg. Am Wochenende bleibe ich zu Hause, sagte sie, auf jeden Fall zu Hause, da gehe ich sicher nicht fort, auch wenn es schade ist, das ist einfach zu viel, das traue ich mich einfach nicht, egal, was an dem Wochenende ist, eine Party oder was auch immer, und hat da nicht der du schon Geburtstag, aber das muss jetzt einfach nicht sein. Am Abend vor dem Schlafengehen noch einmal ordentlich die Hände desinfizieren, sagte sie, das tut richtig gut, das mache sie jetzt bereits seit einigen Tagen, das ist so befriedigend, sagte sie, vor dem Bett noch einmal alles so richtig durchdesinfizieren, nach dem Händewaschen, als neue Abendroutine, erst die Hände waschen, dann sie desinfizieren, und danach ein bisschen Feuchtigkeitscreme, damit der Handrücken nicht austrocknet, sagte sie, sonst leidet ja die Haut.
Die Kollegin nickte dazu und zeigte sich verständnisvoll. Hin und wieder streute sie aufmunternde Sätze ein, die der anderen ein bisschen die Angst nehmen sollten, war dabei jedoch niemals besserwisserisch und belehrend. Sie nahm die geäußerten Sorgen so ernst wie den beschriebenen Umgang damit, bemühte sich lediglich, eine optimistische Perspektive für den weiteren Verlauf der Ausbreitung zu liefern. Ich erinnere mich, dass ich die Angst der Kellnerin zwar verstehen konnte, ihren Desinfektionswahn jedoch für schrecklich übertrieben hielt und mich insgeheim darüber lustig machte, so wie über die Tatsache, dass sie das kommende Wochenende allein verbringen wolle, während ich noch unbefangen mit dem Zug durch die Gegend fahren würde, erst die Heimkehr nach Wien, dann bald weiter in ein rätselhaftes Burgenland.
*
Ich ekle mich schon so vor den Menschen, sagte die Kellnerin, und da tat sie mir Leid, weil sie ja kellnerte und mit nichts anderem zu tun hatte als mit Menschen, bestand doch ihre einzige Aufgabe darin, andere zu begrüßen, zu bedienen und zu verabschieden, was dauerhafte Nähe bedeutete. Ich konnte ihren Menschenekel nachvollziehen, wo sie doch solche Angst hatte, sich anzustecken. Da wurde mir bewusst, dass dieser in aller Ehrlichkeit ausgesprochene Ekel ja alle miteinschloss, dass sich die Kellnerin also auch vor mir ekelte. Das gab mir zwar zu denken, nur konnte ich zum gegebenen Zeitpunkt nichts dagegen tun.
Während die Kellnerin ihrer Kollegin die steigende Verunsicherung im Umgang mit anderen beschrieb, lächelte sie nervös. Sie traue sich nicht mehr unter Menschen, sagte sie, gleichzeitig müsse sie hier stehen und arbeiten und so tun, als wäre nichts. Und so viele Touristen, sagte sie, wie viele schätzt du, oft sicher die Hälfte oder mehr, oft sechzig Prozent oder siebzig Prozent Touristen. (Das Restaurant befand sich direkt neben einem Museum, war vielleicht sogar gleichzeitig das obligatorische Museumskaffeehaus.)
*
Ich erinnere mich, dass die Kellnerin, obwohl sie jung war – jünger als ich – und gesund wirkte, panische Angst davor hatte, sich selbst anzustecken und selbst krankzuwerden; es ging ihr nicht um den Schutz von Angehörigen, die Überlastung des Gesundheitswesens oder andere abstraktere Faktoren. Sie hatte tatsächlich Angst um ihr eigenes Wohlbefinden, das sie aufs Spiel zu setzen drohte durch ihr Erscheinen am Arbeitsplatz. Immer wieder brach ein erschrecktes Kichern aus ihr hervor.
Ihre Handtücher, sagte sie, würde sie am allerliebsten mit hundertfünfzig Grad waschen, da wäre ihr wohler, nicht nur mit sechzig, sondern mit hundertfünfzig Grad, aber das sei nicht möglich, denn ihre Waschmaschine gehe leider nur bis fünfundneunzig Grad, und dabei schüttelte sie betreten den Kopf, als hätten die Hersteller bei der Konstruktion ihrer Geräte einen unverzeihlichen Fehler begangen, es gibt nur Kochwäsche, sagte sie, mit fünfundneunzig Grad, so mache sie das, sagte sie enttäuscht, mehr geht leider nicht. Zur Sicherheit, das tötet alle Keime. Die Handtücher mit fünfundneunzig Grad.
*
Ich erinnere mich, dass ich die Aussagen der Kellnerin sehr übertrieben fand und davon peinlich berührt war. Als es Zeit wurde und jene anderen Mittagesser erschienen, mit denen ich mir etwas ausgemacht hatte, bezahlte ich die Melange und wechselte an einen größeren Tisch. Es kann sein, dass ich mich beim Garderobengeraschel in einem Nebensatz liebevoll über die Kellnerin lustig gemacht habe, was ich immer noch für berechtigt halte. (Falls sie es mitbekommen hat, könnte sie verschnupft gewesen sein.) Wahr ist aber, dass die Kellnerin sich mir oder den anderen Gästen gegenüber nichts hat anmerken lassen und durchgehend eine professionelle Freundlichkeit unter Beweis stellte, an der nichts gespielt oder geheuchelt wirkte. Wer es nicht gewusst hätte, der wäre niemals auf die Idee gekommen, wie sehr ihr die Virusangst zu schaffen machte.
Ich erinnere mich, dass der Kaffee stark war und das Essen gut, dass die Gesellschaft angenehm und die Gespräche angeregt waren, und dass jemand gesagt hat, jemand ganz anderer habe einmal gesagt, er lasse sich nicht in die Biographie scheißen, und alle haben wissend genickt, froh darüber, etwas so Wahres in so einfache Worte gekleidet zu hören. Ich erinnere mich, dass ich mich an diesen Satz erinnern wollte, ihn aber dafür nicht aufschreiben musste, und dass ich den restlichen Tag in der Innsbrucker Sonne verbrachte.
Ich erinnere mich, dass die Kellnerinnen einheitlich gekleidet waren und ziemlich sicher Hosenträger hatten. Ich erinnere mich, dass mir später beim Hinsetzen auf Museumsstufen der Rucksack umgefallen und die gläserne Wasserflasche zerbrochen ist, und dass mir jemand geholfen hat, die Scherben aus dem Seitenfach des Rucksacks in den Mistkübel zu leeren, und dass wir versucht haben, uns dabei die Hände nicht allzu schmutzig zu machen.
Ich erinnere mich, dass Innsbruck eine Stadt ist, in der man leben kann, weil sie zwar klein ist, aber nicht zu klein, dass es aber auch eine Stadt ist, in der ich nicht leben könnte, weil sie zwar groß ist, aber nicht groß genug. Ich erinnere mich an den Platz und den Blick und den Tag. Im Zug nach Wien haben welche gehustet, und ich habe mich ein bisschen geekelt.