Sommerliche Verstörungen
Zwillingsgeschichte
Zwillingsgeschichten erzählen sich von selbst. A und B gleichen einander aufs Haar. A sitzt zu Hause, liest, sieht fern. B ist derweil auf einer Verabredung. Er geht mit der Frau fein essen, danach noch in eine geduldige Bar etwas trinken. A isst allein eine aufgewärmte Mahlzeit. B küsst die Frau und streichelt ein Knie. Ihr gefällt sein Vorschlag, doch mit zu ihm zu gehen. Sie zahlen und machen sich auf den Weg, im Taxi wird umständlich geküsst. B gibt seinem Zwilling A Bescheid, dieser zieht sich in den Keller zurück. (Die beiden bewohnen ein stattliches Einfamilienhaus irgendwo am Stadtrand, wo es immer Nacht ist.)
Dort angekommen, zieht B sich kurz in den Keller zurück, um eine besondere Flasche Wein zu holen. A hält sich bereit, ihre Outfits sind identisch. B gibt ihm einen kurzen Abriss der Verabredung und fasst die wichtigsten Details ihres Gesprächs zusammen. Doch um Gespräche geht es ohnehin nicht mehr. B bleibt im Keller zurück, stattdessen geht A mit der Flasche Wein zurück hinauf. Die Frau bemerkt nicht, dass ein fliegender Wechsel stattgefunden hat. Der eine Mensch entspricht dem anderen.
A ist zufrieden mit der Wahl seines Bruders, der die Vorarbeit leistete. B harrt still im Keller aus. Er hört die Geräusche der Nacht. Nächstes Mal ist wieder er an der Reihe.
Klongeschichte
Jemand lässt einen Klon von sich selbst herstellen, als wandelndes Ersatzteillager für Spenderorgane. Gemeinsam bewohnen sie ein modernes, geräumiges Haus. Geld spielt keine Rolle. Der neue Mensch wurde bereits ausgewachsen geliefert. Eine Zeitlang lebt es sich recht komfortabel dahin. Dann jedoch beginnt jemand eine Liebesbeziehung mit dem eigenen Klon – also mit sich selbst. Die Verstörung nimmt ihren Lauf.
Ein solches Verhalten stößt die Gesellschaft vor erhebliche Probleme. Gewisse Paragraphen greifen nicht. Der Gesetzgeber wird neue Regelungen finden müssen. Philosophen und Psychologen schalten sich ein, auch sogenannte Liebesgelehrte. Manche argumentieren, dass jeder doch verfahren könne wie er wolle mit dem eigenen Klon, andere sprechen diesen Kunstmenschen die gleichen Rechte zu wie jedem sonst, wieder andere – vor allem Strenggläubige – finden allein den Aspekt der gleichgeschlechtlichen Sexualität verwerflich. Die Welt ist in Aufruhr. Endgültige Antworten lassen sich nicht finden.
Grundsätzlich ist die Herstellung von zweckgebundenen Zuchtmenschen ethisch abgesegnet und staatlich sanktioniert. Was aber, wenn die Grenzen des Vorstellbaren weiter ausgelotet werden: Klone, die Nachwuchs zeugen; den eigenen Klon verletzen oder sogar töten, das Klonfleisch zubereiten und verspeisen. Ist das der Wille Gottes? Nicht nur Religionsführer fragen es sich empört. Schlussendlich werden Gesetze verschärft und deren Einhaltung streng kontrolliert, Zuwiderhandlung hart bestraft – was nicht wenige Klonpaare zur Flucht zwingt an freie Orte fernab der Zivilisation. Für den Leser der Klongeschichte macht es einen Unterschied, ob es sich beim Protagonisten um Mann oder Frau handelt. (Wird nichts dazugesagt, dann setzen wir uns selbst in der Geschichte aus.)
Die Willkür der Metzger
Nichts erschreckt uns so sehr wie die Willkür der Metzger. Unter keinen Umständen dürfen wir ihnen in die Hände fallen – in Hände, die grobe Pranken sind, mit rauer, schwieliger Haut. Die Metzger, haben wir gehört, sind alle gleich. Für uns gibt es nur einen Ort, an dem wir zerlegt und zubereitet werden wollen.
Dieser Tempel der Kochkunst heißt kurz und bündig Fleisch. Halb kulinarisches Labor, halb Speiselokal, ist es hingebungsvoll in eine malerische Küstenlandschaft Südfrankreichs gegossen. Was der Inhaber von Fleisch mit unseren Körpern anstellt, liegt teilweise im Ungewissen, jedoch steht fest, dass er den Gästen erinnerungwürdige Erfahrungen beschert, dass jeder Besuch einen selbst und seinen Blick auf Nahrungsmittel grundlegend verändert. (Wie sich um einen eloquent genutzten Ofen schmackhafte Gerüche ausbreiten, so breiten sich um den Ort Fleisch sehr bunte Gerüchte aus.)
Wir wollen, dass es uns nicht mehr gibt. Man soll uns servieren mit Bratkartoffeln und gedünstetem Gemüse, uns mit herzhafter Sauce beträufeln. Wir sind Menschen, wären aber gern so viel mehr.
Das Zungentier
Es hat eine schwüle Hitze. Ein Mann, der allein in einem abgelegenen Haus lebt, nimmt ein unheimliches Wesen bei sich auf. Es verfügt über eine undefinierbare Körperform und ist unter mysteriösen Umständen zu ihm gelangt. Der Mann nennt es Zungentier, denn es hat längliche Fleischwulste, die nass aus mehreren Öffnungen schlappen. Manche dieser vermeintlichen Zungen leiden unter Pilzbefall. Das Tier hat keine Augen, ist also blind. Der Mann füttert es mit allem, was sich so findet. Es macht dumpf grollende Verdauungsgeräusche und scheidet traurige Klumpen aus.
Der Mann macht sich auf den Weg ins nächste Dorf. Zuletzt kam er hierher, um ein Ersatzteil für seine Mundharmonika zu besorgen. Er betritt den Dorfladen und fragt nach Hausmitteln gegen Zungenpilz. Die Verkäuferin hilft ihm geduldig weiter. Sie ist warmherzig und mütterlich, eine Frau, von der etwas Lebendiges ausgeht. Sie strahlt zu sehr für diesen kleinen Ort, denkt der Mann. Natürlich ist er scheu in sie verliebt. Ich soll das jemandem bringen, sagt er, um jeden Verdacht von sich selbst zu lenken, doch sofort möchte er im Boden versinken, denn sie wird ihn für einen dreisten Lügner halten. Er bringt die Pilzmittel heim.
Das Zungentier hat Unordnung gemacht, es leckt und kaut an Gegenständen. Der Mann ist böse und prügelt das Zungentier blutig. Es gibt eine Art Blöken von sich, windet sich unter Schmerzen. Doch dann scheint dem Mann, als würden es Lustlaute sein. Krankes Blut quillt aus den Öffnungen. Der Mann streichelt es sanft und denkt dabei an die Frau. Er führt seinen Finger in eine der Öffnungen ein. Das Zungentier wird sich in dem Haus versteckt halten. Eines Tages wird ein Verbrechen geschehen.
Der Kampf oder Giltinger und Alexa
Giltinger und Alexa machen sich bereit für den Kampf. Mehrere Waffen stehen zur Auswahl: Brecheisen, Jagdmesser, Schlagring, Maurerhammer. Menschen stehen im Kreis und wollen etwas sehen. Geldscheine wandern. Es klingt der Gong.
Giltinger nimmt den Schlagring, Alexa das Brecheisen. Beide sind zufrieden mit ihrer Wahl. Es wird ein blutiger, brutaler Kampf. Die Menschen im Kreis feuern sie an und zeigen dabei ihr wahres Gesicht – es sind heißgebrüllte Fratzen. Giltinger und Alexa verletzen sich gegenseitig und tropfen in den plattgetretenen Sand. Sie werden träge und verlieren an Treffsicherheit. Bald geht es zu Ende. Es ist ein Kampf bis zum Tod. Die Menschen sind glücklich.