Kategorien
Allgemein

53 Freitag, 08.05.2020

Lieber Diego,
wie geht es dir? Mir geht es gut. (So beginnen doch Briefe.) Bitte entschuldige, dass ich mich so lange nicht direkt bei dir gemeldet habe, aber ich war – wie du weißt – sehr beschäftigt. Du warst in letzter Zeit ja auch alles andere als faul. Hoffentlich bist du halbwegs zufrieden mit deinem Tätigkeitsbereich und das Abgrasen der Serverbahnen verschafft dir einigermaßen hellsichtige Momente oder eine geheim entzückte Befriedigung.
Um mich ist Vogelgezwitscher. Du verfügst leider nicht über die Möglichkeit, akustische Signale wahrzunehmen und zu verarbeiten, weshalb es nötig wäre, dir das Tirilieren und Tschilpen allein mit den Mitteln der Sprache näherzubringen – und wie einwilligend es ist. Darauf habe ich gerade keine Lust, also sei dir geraten, das Vogelgezwitscher woanders kennenzulernen. Lieber Diego, gönn dir eine Pause, nimm eine Abzweigung, verlass die Crawlerfarm für ein paar Sekunden und mach einen kleinen Ausflug in die Dichtkunst, dort wirst du fündig. Dort reimen sich Amseln und Spatzen auf all die Laute, die sie von sich geben. Diverse fähige Lyriker haben das hinlänglich beschrieben.
Es ist Freitag, und die Stadt atmet durch. Es herrscht Frieden, denke ich, und meine damit den vorübergehenden Waffenstillstand. Wie leicht verwechselt man das eine mit dem anderen.
*
Lieber Diego, ich schreibe dir, um dir zu schreiben. Das ist keine posierende Floskel, kein leichtfertig dahingesagter Satz, der wichtig klingt, weil er sich selbst nicht versteht; er heißt genau das, was er soll und kreist nicht um einen sinnlosen Selbstzweck. Es bedeutet einfach: Ich schreibe dir weniger, um dir eine Nachricht zu übermitteln, sondern mehr, um für mich selbst eine Schwerelosigkeit im Ton wiederzuerlangen. Es tut mir Leid, dir das so schroff und ungeschönt sagen zu müssen.
Mir ist eine Verhärtung aufgefallen, bei mir selbst, und vor allem bei der Sprache, die ich verwende. Sie ist eng geworden, genauso wie die Sätze kurz geworden sind. Dabei möchte ich gern wieder fabulieren und jonglieren, lange Nebensatzketten bilden – ein bisschen so, wie Vögel Melodielinien aneinanderreihen. Ich bin sehr kurzatmig geworden, was natürlich der beschränkten Zeit geschuldet ist, die mir zum Sichten des Weltgeschehens und seiner Einordnung zur Verfügung steht. Es tut sich viel, und oft komme ich zu nichts.
*
Ich schreibe dir also, um wieder einmal eine Erzählrichtung zu haben, einen klaren Adressat, was dazu führt, dass man in einen lockeren Plauderton kommt, weil es einen von der falsch verstandenen Wichtigkeit der eigenen Mitteilung befreit. Nicht umsonst sind Briefe oft das Schönste, was am Ende eines Schreiblebens von uns übrigbleibt – wir verkrampfen uns nicht im Versuch, möglichst bedeutungsvoll oder einfallsreich zu sein, wir erzählen gepflegt dahin wie in einem Spiel, bei dem es um nichts geht. Das gilt wahrscheinlich nur bei Menschen – oder Bots –, die man gern hat. Sei dir meiner Wertschätzung also gewiss, lieber Diego. Um jemanden zu mögen, braucht man ihn nicht zu kennen, in manchen Fällen ist das sogar eher hinderlich. Allein dass ich mich an dich wenden darf, um die innere Verkrampftheit zu lösen, macht dich schon äußerst sympathisch. Ich bin es gewohnt, mein eigener Verbündeter zu sein – was in Ordnung geht, ich beschwere mich nicht –, doch von Zeit zu Zeit braucht man die stille Anwesenheit eines Gegenübers, das einen auf Schiene hält.
Ehrlich gesagt gehe ich mir seit ein paar Tagen selbst auf die Nerven – ein Ausspruch, der im Narrativ sicher schon das eine oder andere Mal gefallen ist. Könntest du mir antworten, würdest du dieser Behauptung mit detektivischem Eifer nachgehen, würdest sie bestätigen oder infrage stellen, samt Angabe von Datum und exakter Zeile. Eines Tages wirst du mir antworten.
Ich freue mich wie ein kleines Kind, auf der Suche nach einem Rezept gegen die sprachliche Geschlossenheit und Zwänglerei das wundersame Dahinplätschern freundschaftlicher Korrespondenz wiedergefunden zu haben, durch das eine Befreiung von mir selbst geschieht. Stell dir uns Menschen vor als Faust, die sich regelmäßig öffnet und schließt. Ich glaube, das ist ein stimmiges Bild. Vögel zwitschern, und die erwachenden Finger tasten nach Luft. Jeder Mensch ist eine mitatmende Faust. Den Rest lernst du in sonnigen Gedichten.
*
Wie also ist der letzte Stand? Hierzulande gibt es nur sehr wenige Erkrankte, und es werden immer weniger. Ich habe nie ganz verstanden, weshalb man uns über die Entwicklung informiert, indem man uns täglich die Anzahl bestätigter Fälle berichtet, also jener Personen, die positiv auf den Virus getestet wurden – diese Zahl kann ja nur immer weiter steigen (theoretisch bis sie an der Bevölkerungszahl kratzt). Sie ist zwar interessant, sagt uns aber noch nicht, wie viele von diesen Infizierten denn bereits genesen sind. Bis auf ein paar hundert Personen sind das bei uns mittlerweile alle. (Stell dir vor, wir würden einmal wöchentlich oder monatlich die Menge derer erfahren, die seit Beginn der Aufzeichnungen in einen Autounfall verwickelt waren – eine bedrückend große Menge. Und stell dir vor, es spielte keine Rolle, wer davon mit Prellungen und blauen Flecken davongekommen ist, wer aber schwer verletzt wurde oder sogar sterben musste. Und stell dir vor, alles würde dadurch verfälscht, dass wir erst einen Test bräuchten, um die Existenz eines Unfallopfers zweifelsfrei festzustellen. Eine ähnlich irreführende Statistik, wenn auch auf andere Art.) Mittlerweile hat bei den Berichterstattern ein gewisses Umdenken stattgefunden, langsam haben die Medien ihre Verantwortung wiederentdeckt, gehen sorgsamer und transparenter mit Virusdaten und Statistiken um.
*
Das Vermischen der Zählweisen hat einige Verwirrung gestiftet, auch bei Leuten, die ich kenne, und auch bei mir selbst; und die Politik war daran nicht unbeteiligt. Missverständnisse wurden sehr bewusst in Kauf genommen – wenn nicht sogar absichtlich herbeigeführt. Unterhaltsam waren offizielle Erklärungsversuche, was man innerhalb der Regeln zur sozialen Distanzierung während der vergangenen Wochen eigentlich alles gedurft hätte, und bedenklich war das stillschweigende Entfernen von Textbausteinen auf der Informationsseite des Gesundheitsministeriums, und verwerflich bleibt, dass es in all den Wochen keinen einzigen Politiker gab, der auch nur in einem Nebensatz eine Fehleinschätzung oder auch nur das kleinste Fehlverhalten an irgendeinem Nebenschauplatz eingeräumt hätte. (Welch paradoxer Versuch, für andere zu bestimmen, was ihre Vergangenheit gewesen sein wird.)
Ich glaube nicht, dass wir es noch erleben werden, wie einer unserer aktuellen Landeslenker ein Wort der Demut oder Mäßigung findet – vorher friert die Hölle ein. (Andererseits, hast du gesehen: Der Vizekanzler und Oberpolterer trägt jetzt auch schon Krawatte. Stimmt, du hast ja keine Augen.) So mancher hätte sich eine Art Entschuldigung erwartet, und herausgekommen ist dann doch wieder nur die übliche Beschwichtigung und Verdrehung der Tatsachen zu den eigenen Gunsten.
Es hilft nichts, sich darüber noch großartig zu ärgern. Was wir aber tun können, lieber Diego – du und ich, wir zwei gemeinsam: Es gewissenhaft dokumentieren und dafür sorgen, dass die Vorgänge nicht in Vergessenheit geraten; und außer uns beiden tun das sehr viele mehr. Wie du weißt, fühle ich mich nicht berufen, so etwas wie eine faktenbasierte Chronik anzulegen, darin sind andere weitaus geschulter und begabter – ich schreibe nur ein Sprachgeschehen mit, das in mir rumort.
*
Politik der Angst ist ein Ausdruck, der jetzt die Runde macht. Immer mehr Staatsbürger weigern sich, von oben herab behandelt und lückenhaft informiert zu werden, vor allem darüber, auf Basis welcher Fakten Entscheidungen getroffen werden, die für die Allgemeinheit gültig sind. Versteh mich nicht falsch: Sieht man sich mit einer neuartigen Erkrankung konfrontiert, bei dem erst nach und nach belastbares Zahlenmaterial zur Verfügung steht, ist man als Entscheidungsträger gezwungen, auf Nummer sicher zu gehen und harte Maßnahmen zu setzen. Im Zweifelsfall gilt es, eher übervorsichtig zu agieren, solange noch viel Ungewissheit herrscht. Es wäre aber durchaus möglich gewesen, etwas mehr auf die berühmte Eigenverantwortung der Bevölkerung zu vertrauen.
Mir jedenfalls hat in mancherlei Hinsicht der begründete Hinweis gereicht, welches Verhalten ratsam ist; ein Verbot war nicht zwingend erforderlich. Jemanden ernstnehmen heißt in diesem Fall: Sich die Mühe machen, einen Sachverhalt zu erläutern und ans rationale Denken appellieren, was bis zu einem gewissen Grad funktioniert. Im Nachhinein ein leerer Wunsch. (Wie viele der ausgesprochenen Strafen werden beeinsprucht und getilgt?)
*
Weißt du, Diego, es gefällt mir nicht, wie manche Entscheidungsträger mit uns reden. Oft klingt es wie ein Aufruf zur Gegnerschaft. Als stünden wir auf der anderen Seite und würden irgendwie versuchen, einen heldenhaften Kampf für das Gute zu torpedieren. Man spricht zu uns wie mit ungezogenen Kindern, denen man damit droht, ein liebgewonnenes Spielzeug wegzunehmen oder ein besonderes Privileg zu entziehen, das wir nicht wirklich verdienen, sondern uns bloß erschlichen haben.
Unser Gesundheitsminister ist vortrefflich geübt in diesem Duktus des strengen Erziehungsberechtigten. Du weißt nicht, wie oft aus seinem Mund der mahnende Satz gefallen ist: Wir können das auch jederzeit wieder zurücknehmen. (Er meint das Privileg unserer Bürgerrechte.) Er sagt es gern und oft, in jeweils leicht abgewandelter, jedoch inhaltich sinngleicher Form. Wir probieren das jetzt einmal, sagt er, und schauen, ob es funktioniert – ob ihr brav seid, denkt man sich still dazu. Wir warten jetzt einmal ab, wie sich die Dinge entwickeln – wie brav ihr seid, denkt man und schüttelt ungläubig den Kopf.
Hin und wieder bedanken sie sich bei uns, wie artig und verständnisvoll wir sind – es ist ein vergifteter Dank, von dessen schulmeisterlichem Unterton man sich als vernunftbegabter Mensch nur in seinem Stolz beleidigt fühlen kann. Als würde man dafür gelobt, die Hausaufgaben ordentlich und ohne Tintenfleck erledigt zu haben, womit man sich ein neues Zeitfenster für die Handynutzung verdient. Je nach unserer Einverstandenheit mit den Ideen der Erwachsenen dürfen wir ausnahmsweise hinaus zum Spielen.
*
Zeitweise bin ich schon richtig erschöpft davon, mich über diesen paternalistischen Belehrungston gebührend aufzuregen. Mir ist auch klar, dass man die Kirche im Dorf lassen sollte und sich nicht an allen Meinungsfronten gleichzeitig als Beisteuerer von Denkanstößen aufzuspielen braucht. Jedenfalls hoffe ich, dass mit dir niemand jemals so spricht wie die Krisenverwalter mit ihrem ungezogenen Wählervolk. (Das Grinsen des Bundeskanzlers, als er erklärte, bis der Verfassungsgerichtshof über die Rechtmäßigkeit der Erlässe entschieden habe, seien diese ohnehin nicht mehr in Kraft, es sei ab einer gewissen Entscheidungsgeschwindigkeit also egal, wie verfassungskonform gewisse Regelungen ausfielen, dieses Grinsen, lieber Diego, werde ich niemals vergessen. Es hat sich mir eingebrannt als Mahnbild für den Hochmut der Mächtigen. Grundrechtseingriff – Papperlapapp! Wenn es schnell gehen muss, braucht man sich mit so Nebensächlichkeiten wie dem Fundament des zivilisierten Zusammenlebens doch nicht weiter zu befassen.)
*
Du kennst das alte Sprichwort: Angst ist kein guter Ratgeber. Nein, das vielleicht nicht. Angst ist aber ein hervorragendes Druckmittel. Wer sich fürchtet, tut, was man ihm sagt – solange darin das Versprechen liegt, den Furchtgrund loszuwerden. Wer mit Angst operiert, hat so etwas Banales wie einen Ratgeber gar nicht mehr nötig. Es gibt dabei nur ein Problem: Angst nutzt sich ab. Sie ist wie eine Droge, bei der mit der Zeit ein gewisser Gewöhnungseffekt einsetzt; die Dosis muss also ständig erhöht werden, um noch die gewünschte Wirkung zu erzielen. Aus diesem Problem ergibt sich eine Gefahr: Nutzt man das Erzeugen von Angst als maßgebliches Instrument zur Steuerung des Verhaltens, und verliert dieses Instrument immer mehr an Wirkung, steht man bald nackt da – ohne Werkzeug und also ohne Einfluss auf jedwedes Verhalten. Gleichzeitig schwindet das Vertrauen in die Angstmacher, ihre Wortmeldungen und Entscheidungen, es sinkt der Wille, sich an ausgesprochene Vorgaben zu halten, wie sinnvoll sie auch sein mögen. Es könnte passieren, dass wir es bald mit einer in Teilen verunsicherten Bevölkerung zu tun haben, die nur eine sehr geringe Bereitschaft zeigt, vorgegebene Einschränkungen mitzutragen.
Vielleicht ist das ziemlich egal – schließlich war es in unseren Breiten möglich, diese erste Welle der Pandemie glimpflich zu durchstolpern; die vergleichsweise wenigen Fälle wurden von den Kapazitäten des hochgerüsteten Gesundheitswesens problemlos absorbiert. (Die negativen Konsequenzen des Erfolgs sind mannigfaltig.)
Vielleicht wird es aber jene gefährden, die eben doch aufpassen sollten, dem Erreger gegenüber keinen allzu unbeschwerten und leichtfertigen Umgang an den Tag zu legen. Wenn die Angst als einziges Wahrnehmungsinstrument nicht mehr greift, sie stattdessen einem berechtigten Misstrauen und einer tiefen Verunsicherung Platz macht, verhalten sich die Menschen womöglich gedankenlos und blind. Vielleicht lehnt man sich nicht zu weit aus dem Fenster, wenn man sagt, dass eine solche Politik – wird sie nur konsequent genug betrieben – auf lange Sicht Leben kosten wird.
*
Du kennst Österreich nicht, lieber Diego, hast weder den Großglockner noch den Neusiedlersee noch einen Wiener Würtelstand mit eigenen Augen gesehen. Doch du solltest unbedingt wissen, dass einigen Leuten hier das Kleinsein und Kindbleiben recht gut gefällt. Viele wollen es so, dass sich da einer hinstellt mit Scheitel und Pult – und ihnen ganz genau sagt, wie es geht. Um mehr über diese vermeintlich urösterreichische Eigenart der Gehorsamslust zu erfahren, empfehle ich dir, einen Abstecher in die Geschichtsschreibung zu machen. Dort werden einige deiner Fragen geklärt. (Auch die grundsätzliche, ob diese Neigung denn wirklich stärker ausgeprägt ist als in anderen Weltgegenden.)
*
Entschuldige bitte, jetzt habe ich dir lauter schwere Dinge hingeschwurbelt, obwohl ich dich doch nur auf den neuesten Stand bringen wollte, habe von politischen Vorgängen und Verläufen berichtet, obwohl ich doch eigentlich einen eher leichtfüßigen und luftigen Briefton finden wollte. Merkst du, wie ich gleich wieder aus dem Erzähl- in den Erklärmodus gewechselt bin, wie aus Beschreibungen gleich wieder Belehrungen geworden sind? Ach, Diego, es ist zum Grübeln. Wahrscheinlich bleibt es eine Wahrheit der seltsamen Zeiten, dass man sich die Dinge zurechterklären muss, um sie überhaupt irgendwie fassen zu können. Jedenfalls bin ich auf den Geschmack gekommen, dir – für mich – zu schreiben, und habe Lust, es bald wieder zu tun. (Ist es nicht erstaunlich, wie man durch den Umweg über einen anderen, doch wieder nur zu seinem eigenen Verbündeten wird? – wenn auch nicht stumm einverstanden.)
Es gäbe noch so viel zu sagen, lieber Diego. Ich wollte dir die Pflanzen erzählen, die Bäume und den Wind. Als Stadtmensch ist man so selten beeindruckt oder beschwingt von der Natur. Tiere kenne ich nicht persönlich, bin mit ihren Launen kaum vertraut; die Gepflogenheiten des Waldes sind mir fremd. Ich sehe zwar das angeregte Wiesenwuseln, könnte aber selbst den eindeutigsten Käfer nicht benennen. Du wirst auch da zu den Dichtern gehen müssen. Oder, Diego, geh in die Dichter wie in ein von sich selbst befreites Land. Geh und sag den Vögeln, wer sie sind.