Prozesse und Strukturen II
Die Einschränkungen werden auch deshalb gelockert, weil sie nicht mehr neu sind und damit nicht mehr interessant. Anfangs war es spannend, zu Hause zu bleiben und ein paar Konservendosen einzuschlichten, es war aufregend, für ein paar Tage im Supermarkt keinen Germ kaufen zu können, nachzufragen, wann es wieder welchen gäbe, zu hören, dass es wohl am Montag wieder so weit sein könne – sicher wäre sich der Antwortende jedoch nicht. Wann habe ich zuletzt nach einem ausverkauften Produkt gefragt und erfahren, dass es nicht sofort wieder verfügbar sein wird? Das war einmal etwas anderes. Ich habe mir darin gefallen, meine Bedürfnisse nicht in der Sekunde befriedigt zu kriegen und damit erwachsen umzugehen ohne Murren. Ich habe erst ein paar Tage später Pizza gemacht und bin bis dahin auch nicht verhungert.
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Die intakten Familien haben sich an den Händen genommen und beschlossen, alles mit einem Lächeln zu meistern. Diejenigen in schwierigen Lebenslagen haben sich bemüht, das Beste daraus zu machen, den Kopf eingezogen und die Zähne zusammengebissen. Wir alle hatten etwas zu erzählen – es war immer das Gleiche: Zukunftshoffnung, Geldsorgen, Kochrezepte, Existenzbedrohung, Freundschaften, Familienbande, Ferngefühle.
Wir haben abendlange Kurvendiskussionen geführt und unsere nationale Situation mit den Mitteln einer internationalen Perspektive näher in Augenschein genommen – was einerseits aufschlussreich und andererseits verwirrend war. (Die unterschiedlichen Heransgehensweisen bei der Eindämmung zeugen neben finanziellen und strukturellen auch von Mentalitäts- und Kulturunterschieden.) Wir sind geschwankt zwischen Verachtung und Zufriedenheit gegenüber den Entscheidungsträgern und wollten uns möglichst nur mit Gleichgesinnten abgeben, die unsere derzeitigen Meinungen teilten. Die Verlautbarungen der Krawattenmenschen und Weißkittel sind zum tagesbestimmenden Ereignis geworden, von dem unsere Stimmung abhing. Wir haben uns ein stattliches Halbwissen angeeignet und können noch nicht sagen, was jetzt kommt.
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All das erzähle ich mir selbst in der Vergangenheitsform, obwohl die Geschichte weitergeht und höchstens ihre Einleitung zu Ende ist. Die Prozesse sind in Gang gesetzt und laufen weiter. Vorbei ist nur die erste Welle an Bildern, die über uns hinweggeschwappt ist, der erste Schwung an Aktionen, zu der wir die passende Reaktion finden mussten. Auch für die Medien ist bloß das Neue interessant; treten sie auf der Stelle, haben sie etwas von allen Winkeln betrachtet, dann braucht es andere Überschriften. Sie lassen nicht zu, dass wir unseren Zweifel abwarten.
Es tut gut, ein bisschen durchzuatmen und den nötigen Abstand zu gewinnen, die nächsten Schritte zu planen. Ich weiß, dass die Schwarzmaler Unrecht haben mit ihren düsteren Prognosen, und ich weiß, dass die Verharmloser Unrecht haben mit ihren fragwürdigen Auslegungen. (Dass die Wahrheit in der Mitte liegt, war immer schon genauso richtig wie banal.) Ich weiß, dass die Statistiken sich winden unter der unsachgemäßen Betrachtung so mancher Volksaufklärer und Zwietrachtstreuer. Ich weiß aber auch, dass gesetzten Handlungen allein schon Tatsachen sind, und dass Entscheidungen getroffen werden müssen – weil keine zu treffen, auch eine ist. Mit dem Uneigentlichen – den Möglichkeiten und Mutmaßungen – kann man denken; auf das Eigentliche – die Fakten und Formen – muss man reagieren. (Eines wird zum anderen.)
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Die Gesellschaft gibt ein erstes Lebenszeichen von sich, doch sie erkennt sich kaum wieder. Wir können einen Friseurtermin ausmachen und im Buchgeschäft verweilen, ins Kaffeehaus gehen noch nicht. Wer löscht den Schmerz der Kellner? Wer zahlt den Hoteliers die offenen Rechnungen? Theater und Kinos bleiben verboten leer, Konzertbesuche sind reine Zukunftsmusik. Als Künstler wird es eng. Viele stellen sich nicht mehr die Frage, wie es weitergeht, sondern ob es weitergeht. (Gefährlich wird es immer dort, wo die Menschen sich fragen, warum es überhaupt noch weitergehen soll.) Wir warten darauf, in die Lage versetzt zu werden, aus eigener Kraft eine Lösung zu finden.
Ich weiß, dass es zwar interessant und auch wichtig ist, aus welchen Gründen eine Maßnahme gesetzt wird – ob es falsche oder richtige sind, ob sie auf korrekt durchgeführten Rechnungen und seriös erstellen Modellen basieren –, ich weiß aber auch, dass die Existenz der Maßnahme selbst nicht bestritten und bei Widerspruch sehr begrenzt und dann nur zeitversetzt bekämpft werden kann. Die Antwort darauf ist mein Umgang damit; so gibt es zu den Entscheidungen anderer über mich meine Entscheidungen – als mitexistierende Gegentatsache. Und da spielt es sich dann dementsprechend ab.
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Rezept für Pizza: Einen halben Kilo Mehl (griffig oder glatt) in eine ausreichend große Schüssel leeren. Sechzig Milliliter Olivenöl und dreihundertfünfzig Milliliter lauwarmes Wasser dazugießen. Abschließend ein Päckchen Germ und eine Prise Salz hinzugeben. Die Masse mit der bloßen Hand vermischen, wobei angefeuchtete Handflächen das Festkleben verhindern. Die Arbeitsfläche mit etwas Mehl bestreuten und den Teigbatzen einige Minuten lang kneten, dabei nach Gutdünken weiter einmehlen. Hat der Teig eine knetige, nicht übermäßig zähe Konsistenz, einen formschönen Ball formen und diesen wieder in die Schüssel setzen. Diese aufs Fensterbrett stellen und mit einem feuchten Küchentuch abdecken, um Krustenbildung zu verhindern. Den Teig leicht gewärmt von Heizkörper oder Sonneneinstrahlung mehrere Stunden gehen lassen.
Beim Zubereiten der Pizza nach Bedarf eine kleine Faust Teig abzupfen, mit eingemehltem Nudelwalker dünn ausrollen und aufs Backblech setzen, Backpapier schützt vorm Anhocken. Als Grundschicht Tomatensauce mit dem Löffel glattschmieren, leicht salzen und mit Oregano bestreuen. In Scheiben geschnittenen Mozarella gleichmäßig verteilen. Nun nach Wunsch weiter belegen. Das Endprodukt ins vorgeheizte Backrohr schieben. (Achtung: Die Pizza nicht totbacken, also zu trocken werden lassen. Den Prozess des Backens aufmerksam begleiten.)
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Ich weiß, dass ich von mir handle. Es muss uns wieder gelingen, unsere Geschichte in der Gegenwart zu erzählen.