Prozesse und Strukturen I
Manchmal ist die Welt sehr einfach. Zum Beispiel, wenn man still dasitzt oder einen Maispaziergang macht. Die Welt sagt dann zu einem: Es gibt nur Prozesse und Strukturen. (Die Eisgeschäfte haben auch wieder geöffnet, was die Dinge noch viel einfacher macht.)
Jede Handlung ist Prozess: Wenn ich mich fertigmache zum Hinausgehen, erst Schuhe und Jacke anziehe, dann die Kopfhörer einkable und den Schlüssel aus der Holzschale nehme; wenn ich mich um den halbwöchentlichen Einkauf kümmere; wenn ich Büroaufgaben erledige oder ein paar behaglich aufgekratzte Schreibstunden absitze. Und alles geschieht innerhalb von Strukturen: Im Vorzimmer der Wohnung; auf der Straße und im Supermarkt; am Arbeitsplatz oder am Schreibplatz. Es gibt nur Prozesse, die innerhalb von Strukturen ablaufen. Alle Geschehnisse in der Welt lassen sich darauf reduzieren.
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Wir neigen dazu, auch in Krisenzeiten – gerade während solchen – in altbekannte Verhaltensmuster zurückzufallen und auf lang erprobte Verhaltensweisen zurückzugreifen. Warum sollte das, was immer schon funktioniert hat, nicht auch jetzt funktionieren? Dass sich etwas ändert, geschweige denn wir etwas an uns selbst, dafür braucht es schon einen triftigen Grund – eine unleugenbare Notwendigkeit. (Wer ansteht, dreht um.) Kommt der Wille zum Neudenken der Prozesse von außen, dann tritt er zwingend als Forderung auf. Bis sich entweder der eigene oder ein Fremdwille artikuliert, bleibt alles so, wie es ist. Für Strukturen besteht selten ein Drang; sich aufzugeben, widerspricht ihrer inneren Logik.
Jede Krise verstärkt bis auf Weiteres das Vorhandene. Wir beharren darauf und vertrauen auf den erstbesten Lösungsansatz, der sich früher schon als zielführend erwiesen hat, wir nutzen jene Werkzeuge, die wir bereits kennen und als sinnvoll abgespeichert haben. Erfahrung heißt auch, nichts dazulernen müssen. Sie hinterfragen oder abstreifen, bedarf einer Anstrengung.
Wie bei Teilchen in der Physik, so gibt es auch eine emotionale, psychologische und philosophische Trägheit, eine soziale, ökonomische und politsche sowieso. Jede Anpassung einer Geschwindigkeit, einer Richtung, eines Zustands, eines Denkmusters bedarf entweder einer inneren Notwendigkeit oder einer äußeren Forderung. (Es gibt Zeiten, da beides zusammenfällt; im großen Maßstab wird darauf das Zeitalter.)
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Ein Bild: Es gibt das Meer, darin sind viele Schiffe, kleine und große. Dem Meer wird der Stöpsel gezogen, es rinnt aus in einem Rutsch. Die riesigen Tanker laufen auf Grund und sitzen fest, es dauert ein wenig, sie freizubekommen. Doch die wendigen Schnellboote sausen durch die innerhalb der Unebenheiten entstandenen Kanäle. Schließlich ist das Meer kein Swimmingpool mit rechten Winkeln und ebenem Grund, sondern ein natürlicher Raum mit Bergen und Tälern, mit einer insgesamt sehr rasanten Durchhügelung.
Dem Meer wird der Stöpsel gezogen und die Karten werden neu gemischt. Manche, die nicht mitkommen, bleiben dabei auf der Strecke, doch die Wendigen und Unabhängigen reisen plötzlich frei auf der zum Bersten gespannten Oberfläche der seltsamen Zeiten. Es bedeutet, sich in Gefahr zu begeben und etwas aufs Spiel zu setzen. Das Sausen kostet Kraft. (Sich vorsagen: Ich habe sie oder kann sie für die Zukunft aufbringen. Ich kann und will und werde.) Die Tanker sind träge. Die Schnellboote sind neu. Das Wasser ist eine Struktur. Die Herstellung von Speiseeis ist ein Prozess.
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Wir lernen dazu. Die Auslandskorrespondenzen des Österreichischen Rundfunks lernen, dass sich auch mit einem handelsüblichen Smartphone ein brauchbarer Beitrag filmen lässt und man nicht für jede albanische Flohmarktszene ein lokales dreiköpfiges Team buchen muss, in dem der Stärkste einen wuchtigen Kameraziegel schultert. Die Reisefreudigen lernen, dass es Expeditionen in die eigene Stadt gibt, und die Geselligen lernen, mit sich allein zu sein. Die Konsumhörigen lernen, dass man es aushält, nicht ständig Dinge zu kaufen, die niemand braucht, dass es zwar schmerzhaft ist, aber vorbeigeht. Die Eitlen lernen, dass ihr Haaransatz grau ist, wenn man ihn nicht regelmäßig neu kaschiert. Die Altmodischen und Analogen lernen, eine Webseite einzurichten und mit Inhalten zu befüllen, und im Hintergrund tüftelt die komplexe Vertracktheit des Codes. Die Musiker lernen, mit Streamingsoftware umzugehen, und die Geschädigten lernen, Formulare für Einreichungen auszufüllen. Die Niedergeschwiegenen lernen, wie laut sie sein können, und die Übersehenen lernen, sich ganz groß zu machen. Die Zurückhaltenden lernen, mit der Faust auf den Tisch zu hauen, und die Verstreuten lernen, mit einer Stimme zu sprechen. Die Kinder lernen ihre Eltern kennen. Eisgeschäfte sind eine Struktur.
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Corona bedeutet, dass für einen begrenzten Zeitraum die Dinge in einem Ist-Zustand eingefroren sind. Prozesse, die bereits in Gang gesetzt wurden, kommen zum Erliegen, fieberhaft wird nach Möglichkeiten gesucht, sie in eine andere Richtung umzulenken oder behelfsmäßig weiterzuführen. Wer sich jetzt inmitten einer Lebensveränderung befindet, ist im Nachteil: Der Wohnsitzwechsel ins Ausland muss warten, die Trennung wird vertagt, die beschlossene Kündigung erst später ausgesprochen. (Scheidungs- und Geburtenrate werden gleichermaßen steigen und sich die Waage halten; eine seltsame Balance des Beziehungsgeschehens.)
Gleichzeitig erlaubt Corona dem Fixierten, sich weiter zu festigen. Die eingespielte Bürogemeinschaft erlebt im Teamwork ein anpackendes Hoch, das zufriedene Paar kostet sich in warmer Heimeligkeit durch gemeinsam erfundene Rezepte, der Einzelgänger geht noch einzelner.
Wer sich beruflich oder privat in einem Übergangsstadium befindet, betritt durch die Krise ein Zwischenreich, tänzelt und rudert im luftleeren Raum. Ein Aufenthalt darin ist nur begrenzt möglich – hinaus führen zwei Türen, die eine an einen hellen, die andere an einen sehr dunklen Ort. Welche man zur Freiheit hin öffnet, ist nicht allein Entscheidung, sondern nicht zuletzt dem Zahlenraten der Akteure unterworfen. Veränderung ist ein Prozess. Gesellschaften sind eine Struktur. Manchmal ist Mai. Die Welt war niemals so einfach, wie sie gewesen sein wird.