Die Nachrichtensendung geilt sich auf am Fetisch der kleinen Zahl.
Wiederholte Selbstermahnung: Nicht im Konjunktiv leben. Nicht sich vorjammern, wie schade es ist, dass die Geburtstagsfeier abgesagt werden muss, nicht sich selbst erzählen, wie wichtig es ist, zum Release des Albums auch Konzerte zu spielen, nicht sich überlegen, was alles besser hätte sein können, wenn die Dinge anders gewesen wären.
Die Pandemie wird noch in einigen Jahren herhalten als ewige Ausrede: Mein Start-Up war gerade am Abheben, und dann – Corona. Mein Restaurant hat gerade begonnen, schwarze Zahlen zu schreiben, und dann – Corona. Meine Musikerkarriere ist gerade voll angelaufen, und dann – Corona. Ich kann es jetzt schon nicht mehr hören, und es beginnt gerade erst. Vielleicht wäre es möglich, sich so beschäftigt zu halten, dass man gar keine Zeit mehr findet, wehleidig zu sein.
Traumbild: Wir wohnen auf einem Klostergelände. (Wer sind wir?) Es klingelt, ich gehe durch den Garten zur Sprechanlage. Im Gras streiten Enten. Der Weg ist ganz verschlungen von den Limousinen, die darauf fahren, wenn jemand einen Milliardär besucht. Er endet an einem schmiedeeisernen Tor, das so groß wie Löwen ist. Ich nehme den Hörer ab und ziehe die Augenbrauen zu einer Frage hoch. Es ist ein Taxifahrer, der wissen möchte, wann er kommt. (Wer ist er?) Eine Nonne sagt, dass ich auflegen soll, was ich tue.
Etwas fehlt. Dann gehe ich ins Büro. Zuerst ist es ganz ruhig, doch dann kommt Leben in den Traum und es wird hektisch. Der Taxifahrer wartet auf jemanden, der einen Hund hat. Wir stehen in einem Saal und tanzen, weil eine bekannte Person aus dem Gefängnis entlassen wurde. Jemand mit weißen Haaren kommt endlich frei. Die Zeit hat es eilig. Ich entferne mich aus den Menschen und rücke die Kamera zurecht, die uns beim Tanzen filmt. Vor lauter Schweiß ist der Boden aus Holz.
Die Nonne wird zu mehreren Nonnen, die sechsunddreißig sind, aber wie mindestens fünfzig aussehen. Die Nonnen werden zu einer einzigen Nonne, im Gesicht hat sie eine Brille und eine Warze, die zusammengehören. Als sie einen Schluck aus einer Dose nimmt, fragt jemand gemein, ob sie das als Nonne denn eigentlich darf. Beleidigt trinkt sie weiter. Limonade, denke ich, und habe Durst. Im Büro war der Papierkorb voll.
Ein Mensch befindet sich mit anderen in einem Raum. Er steht an der Schwelle zum Nichts.
Vor Betreten des Tankstellenshops setze ich brav die Hasenmaske auf. (Schafsbrav?) Der Betreiber trägt keine, ebensowenig der sich entfernende Kunde. Ich suche im Kühlregal nach einem Zwickel, weil ich ewig schon keines mehr hatte. Eine Frau stöckelt herein, ein bisschen fahrig, als hätte ihr Tag zu wenige Stunden. Ohne danach suchen zu müssen, greift sie nach einer kleinen Flasche Sekt, auch sie ohne Maske. Ich zweifle an meinem Verhalten, wahrscheinlich bin ich schlecht informiert und nicht mehr auf dem neuesten Stand. (Es ändert sich alles so schnell.) Der Shop ist sehr klein, die Regeln für gewisse Verkaufsflächen wurden sicher gelockert.
Unsicher führe ich die Hand zur Masche am Hinterkopf, um sie zu öffnen, wende mich dem Chef zu und frage: Muss man hier nicht? Er zuckt ertappt die Schultern und antwortet: Doch, muss man schon. Verschämt greift er zur neben der Kassa abgelegten Einwegmaske und legt sie an. Ich entferne meine Hand von der Masche. Nein, ich wollte es Ihnen nicht sagen, erkläre ich, sondern war mir nur unsicher. Aber es hilft nichts: Ich bin ein Klugscheißer, der andere belehrt.
Die Hereingestöckelte verdreht beim Bezahlen die Augen. Die Leute sind so nervös, zischelt sie. Mit Leute meint sie mich, und ich bin nervös. Die kleine Flasche Sekt gehört sicher zu einem gemütlichen Brunch. Ich stelle mir Tischtuch und Sonne vor. Einschüchternd, wie entspannt alle sind. Es gibt kein Zwickel, auch nicht ungekühlt, also verlasse ich den Shop mit leeren Händen.
Sich einfach in die Mitte der Welt stellen, um von jemandem gefunden zu werden.
Vorm Badezimmerspiegel entdecke ich in meinem aufgetollten Haar einen münzflachen, kleinfingernagelgroßen Wassertropfen. Eben habe ich ein paar Minuten lang in meinen Buchbeständen gekramt, und frage mich nun, woher das Wasser kommen soll. Ich werde daraus nicht schlau. Dann der Geistesblitz: Es könnte auch eine reisefreudige Kontaktlinse sein, die sich unverhofft in mein Haar verirrt hat. Ich selbst trage allerdings eine Brille und habe nie Linsen benutzt. Wer hat sie hinterlassen? Und wann? Wie fand sie ihren Weg in mein Haar? Stammt sie womöglich aus einem der Bücher? Es ist runder, nasser Glanz.
Ich traue mich nicht, hinzugreifen und die Konsistenz des Objekts zu prüfen, denn würde es sich doch bloß als ungewöhnlich beständiger Wassertropfen herausstellen, wäre ich darüber tief enttäuscht, so sehr finde ich Gefallen an der Idee, eine fremde Kontaktlinse an mir haften zu haben. Seitdem stehe ich im Bad und habe etwas im Haar, und treffe keine Entscheidung. Meine Lebensführung wird dadurch einigermaßen in Mitleidenschaft gezogen.
Wie schön wäre jetzt eine Polarexpedition. Nach strenger Quarantäne das freie Leben im Eis. Grillen neben dem Wohncontainer, sich glorreich betrinken mit Arktis-Astronauten. Einander um den Hals fallen, sich feiern als einsame Götter des Nichts.
Gehen wir in die Natur, werden wir dort von den Tieren nur geduldet – niemand soll denken, dass sie Gefallen an uns finden.
Wer das Schlaraffenland betreten will, der muss sich zunächst durch einen massiven Schutzwall aus süßem Reisbrei schnabulieren.
Jedes vegetarische Gericht ist eine Vorspeise.
Für etwas brennen heißt nicht, deswegen in Flammen aufgehen. Hitzig diskutieren heißt nicht, jemanden anzünden. (Mahnwort vor einem Streitgespräch.)
Der souveräne Lügner hat sich verschwindelt. Sein Lügenhaushalt ist durcheinandergeraten. Er hat sich verstrickt in einem komplizierten Geflecht aus Unwahrheiten und Erdichtungen, das fällt ihm jetzt auf den Kopf. Die neue Lüge hat nicht auf die alte aufgebaut. Noch im Moment, da er den Fehler beging, wurde ihm dieser ersichtlich. Er hätte es kommen sehen sollen.
Irgendwann verlor er den Überblick, konnte nicht mehr nachvollziehen, wem er nun genau was erzählt hatte. Seine schriftlichen Aufzeichnungen waren lückenhaft. Das eine muss aufs andere aufbauen, denkt er, wie ein Turm aus Holzziegeln, und zieht man irgendwo einen heraus, dann bricht das ganze schöne Bauwerk in sich zusammen. Und das ist jetzt passiert. Und jemand ist sehr böse mit ihm.
Das Notizbuch: Ein handliches Zeitverbringerlein, ein Werkzeug für kodierte Lebensverdichtung.