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48 Sonntag, 03.05.2020

Es war einmal eine Welt.

Bis jetzt ist es mir nicht gelungen, zu den Vorgängen eine sinnvolle Haltung einzunehmen. Ich taumle durch die seltsamen Zeiten wie jeder andere auch, mal verbissener, mal gelassener. In Wahrheit weiß ich nichts. Es gibt nur Tage, an denen es mich weniger stört als sonst. Je mehr ich mich informiere, desto weniger habe ich erfahren. Je konzentrierter ich dazulerne, desto ungebildeter werde ich. Je sicherer ich mir mit einem Standpunkt bin, desto eher wird er bald darauf wieder infrage gestellt.
In mir sind zwei Stimmen. Die eine sagt: Du nimmst es viel zu ernst. Das ist doch alles nicht so schlimm, wenn man die Zahlen nüchtern betrachtet und in Ruhe alles durchdenkt.
Die andere sagt: Du nimmst es nicht ernst genug. Du wiegst dich in einer falschen Sicherheit, lehnst dich zurück und machst dich lustig über den Ernst, mit dem du manchmal die Dinge betrachtest.
Wir alle tragen diese zwei Stimmen in uns.
*
Zu keinem Zeitpunkt bin ich den Dingen auf die richtige Weise begegnet, nämlich mit gelassener Sorge oder kritischer Zuversicht. Nie habe ich es geschafft, eine Ausgewogenheit herzustellen, immer bin ich geschwankt zwischen Ignoranz und Eifer, zwischen gefährlicher Leugnung und entstellender Fehldeutung. Immer bin ich meinen eigenen Lügen aufgesessen, habe den Märchen geglaubt, die ich mir erzählt habe, den beschwichtigenden genauso wie den aufstachelnden. All das ist Ausdruck einer Überforderung.
In mir sind zwei Stimmen. Die eine sagt: Munter bleiben. Die andere sagt: Geh schlafen. Die eine ist der alte Vater Angst, die andere der kluge Bruder Schlaf. Die eine sagt: Es ist zu viel. Die andere sagt: Es ist zu wenig. Die zwei Stimmen sprechen aus zwei Mündern. Die zwei Münder sind Teil der zwei Köpfe, die in meinem Kopf wohnen. Ich kenne sie, kann sie aber nicht sehen. Der eine denkt: Es geht nicht mehr. Der andere sagt: Es geht noch.
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Ich habe immer untertrieben und gesagt, dass es eh nicht so schlimm wird, dass alles Blödsinn ist, dass alle durchdrehen, und wenn ich nicht untertrieben habe, dann habe ich übertrieben und gesagt, dass es viel schlimmer ist, dass die Leute es nicht verstehen, dass wir bitte endlich aufwachen sollen. Ich habe alles unterschätzt, mich den Dingen angenähert, bin am Kern der Sache vorbeigeschrammt, und dann habe ich alles überschätzt. Immer habe ich alles entweder unterschätzt oder überschätzt, und niemals richtig eingeschätzt. Ich habe nie das Maß gefunden, mit keinem meiner Sätze jemals ins Schwarze getroffen. Ich habe bloß den Wechsel dokumentiert, das Hin und Her. Manchmal ist man reif für eine Selbstbezichtigung. Es gibt kein Maß. Was gibt es eigentlich? Etwas gibt es: Abbilden des Zweifels.

Ich lese von moralischer Erschöpfung und finde mich in dem Begriff wieder. Entscheidungsmüdigkeit ist noch so ein Begriff, der mir dazu in den Sinn kommt – wahrscheinlich habe ich ihn einmal irgendwo mutwillig aufgeschnappt. Mit einem Mal haben wir Probleme, die immer gelöst waren. Jedes Hinausgehen, jeder Supermarktbesuch, jeder Spaziergang ist verbunden mit Entscheidungen und bedeutet ein Abwägen in vielerlei Hinsicht: gesundheitlich, sozial, politisch und nicht zuletzt moralisch. Jede der eigenen Handlungen schafft Tatsachen für einen selbst und andere, wir erleben uns als Zelle der Gemeinschaft. (So ist es ja immer, doch neuerdings wird es schrecklich konkret.) Gleichzeitig schätzen wir das Verhalten unserer Mitmenschen ein, erlauben uns Urteile und Belehrungen, oder teilen sogar verbale Ohrfeigen aus. Verhalten sie sich richtig? Muss ich jemandes falsches Verhalten durch mein richtiges auf eine Weise ausgleichen? All das macht müde.
Es zu benennen, ändert nichts daran, ist aber immerhin etwas. So können wir uns gegenseitig versichern, dass keiner in seiner Müdigkeit allein ist, und einander darin bestärken, die Ärmel hochzukrempeln und weiterzumachen. Wir dürfen uns nicht beleidigt und erschöpft zurückziehen aus dem Abwägen oder die Entscheidungsprozesse ohne uns stattfinden lassen.
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Als ich so herumstreune im Narrativ, fällt mir auf, wie früh von einer Anstrengung die Rede ist und wie oft gemutmaßt wird, dass etwas anstrengend sein werde. (Einmal heißt es wo, die Dinge seien lohnenswert anstrengend; ein andermal geht es um die kollektive Kraftanstrengung, die nötig sei, um einem vielgestaltigen Input standzuhalten.) Wahrscheinlich war auch diese Form der Erschöpfung gemeint.
Das Narrativ ist jetzt schon doppelt so lang wie mein letztes Buch, und ich weiß nicht, welcher Schluss daraus zu ziehen wäre, außer, dass es mit Sicherheit zu lang ist und ich mich ermahnen sollte, noch dichter zu werden. Dabei kommt mir vor, es zu jedem Zeitpunkt versucht zu haben; selbst auf die Gefahr hin, einen Gedanken nur anzureißen, ohne ihn gemächlich auszubreiten und an den Endpunkt zu führen. Manches ist sehr verkürzt dargestellt, Eindrücke und Begebenheiten nur in Streiflichtern wiedergegeben. Es ist schlicht und einfach zu viel Material vorhanden.
Ich freue mich über jeden Tag, an dem nichts Neues anfällt, kein neues Bild und kein neuer Satz; ein solcher Tag erlaubt mir das Abarbeiten des bereits gesammelten Materials. Ich bin dankbar für jeden Spaziergang, bei dem mir keine novellentaugliche Straßenszene unterkommt, bei dem ich keinem Passanten begegne, der sich allein im Vorbeigehen als ergiebige Romanfigur entpuppt. (Dieser nonchalante Gang, dieses aufgetollte Haar, dieses freigiebige Telefonieren.) Ich wäre einverstanden, vom Narrativ nicht verschlungen zu werden. Es geht immer noch dichter. Ich muss besser filtern.

In der U-Bahn höre ich ungläubiges Lachen. Ein Mann telefoniert mit jemandem. Er sagt: Alle Polizisten gehören infiziert, und alle Lehrer auch. Wieder dieses Lachen. Als wäre er sich selbst nicht sicher, ob er das gerade so gesagt hat, denke ich.

Das stille Gesetz: Je besser eine Struktur funktioniert, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass jeder Eingriff zu einer Verschlechterung führt. (Es gilt für alles, denn alles ist Struktur: Unternehmen, Beziehung, Bürokratie.) Wenn etwas zu achtzig Prozent funktioniert, und man greift ein im Versuch, den Wert auf fünfundachtzig Prozent zu erhöhen, besteht große Gefahr, ihn stattdessen auf fünfundsiebzig Prozent fallen zu lassen. (Perfektion ist fragil; und nichts perfekt.) Bei einem ursprünglich niedrigen Wert ist die Verschlechterungswahrscheinlichkeit gering. Funktioniert etwas zu zehn Prozent, wird der Sprung auf zwanzig oder dreißig leicht gelingen.
Das Gesetz besagt, etwas in Ruhe zu lassen, wenn es ausreichend funktionert. Ist man in seiner Ehe zu neunzig Prozent glücklich – sofern es sich messen und in Zahlen sagen lässt – sollte man Luftsprünge machen und tunlichst davon absehen, zweiundneunzig Prozent erreichen zu wollen; man wird danach mit sechsundachtzig dastehen. Sind Abläufe in einer Produktionsstätte zu fünfundneunzig Prozent zufriedenstellend, sollte man den Teufel tun, sie zu verschlimmbessern; es werden später einundneunzig sein. Sportler wissen: Die letzten zehn Prozent herausholen ist etwas anderes als die ersten zehn Prozent nebenbei mitnehmen.
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Je weiter unten der Optimierungsversuch ansetzt, desto vielversprechender ist er; je weiter oben er ansetzt, desto eher wird das Gegenteil erreicht. Man wende es an auf andere Bereiche und prüfe das Vorhandensein einer Gesetzmäßigkeit – Verwaltung, Schuhfabrik, Krisenmanagement.
(Geh hinaus nachdenken über die Hausaufgabenlaune der Schulkinder oder Gartenarbeit oder deine eigene Lebenszufriedenheit oder Restaurantküchen, und vor allem die Frage, ob es bloß für Strukturen gilt oder auch für Objekte, also Gegenstände und Maschinen – die Reparatur einer kleinen Schramme am Fahrrad geschieht problemlos, das Auffrischen einer Naht bei der Stoffmaske lockert keinen Nachbarfaden. Ist es alltagstauglich? Ist es wahr? Geh davon aus, dass es krude Behauptung ist, dass es – wie alles – jemand vor dir gedacht hat, und besser. Such danach an Orten des öffentlichen Denkens. Spazier ein bisschen herum mit deinem stillen Gesetz und behaupte es vor dich hin. Erfreu dich daran, bis etwas Neues deine Aufmerksamkeit weckt. Denk es nicht fertig, aber denk dich heiter daran fest.)

Die Geschichte eines Musikers, der erwachsen werden muss und beginnt, nach und nach seine Instrumente zu verkaufen. Es sind eine Handvoll Gitarren und einige Keyboards, dazu zwei Dutzend Kabel und gemischtes Equipment wie Bodentreter und Adapter und Netzteile. Was sich mit den Jahren eben so ansammelt in einem durchschnittlichen Musikerleben. Ein Teil nach dem anderen wird er los, die meisten verkauft er online über eine Plattform für Kleinanzeigen. Es ist ein langsamer, stetiger Abstieg, den wir begleiten, oder eher ein geordneter Übergang ins bürgerliche Leben.
Seine Verlobte unterstützt ihn dabei, womöglich war sogar sie es, die eine Änderung des Lebenswandels vehement einforderte. Hat sie ihm gedroht, ihn andernfalls zu verlassen? War das ein im Krach zerschellter Teller? (Dabei hat sie anfangs doch geprahlt, ihr Neuer spiele in einer Band.) Der Musiker gibt sich geschlagen und räumt das Arbeitszimmer, auch die Notenblätter und Aufzeichnungen zerreißt er in kleine Fitzelchen. Er beseitigt alle Spuren einer Lebensmöglichkeit. Die Verlobte knetet aufmunternd seine Schultern. (Wir könnten daraus ein Kinderzimmer machen!) Es ist geschafft. Jetzt betritt er wo ein Büro und unterschreibt mit ernster Miene einen seriösen Arbeitsvertrag. So geht Glück. Damit ist seine Geschichte vorbei.

Tequila wirkt schleimlösend. Er hat eine heimelige Schärfe.

Erfindung: Im Stadtpark am Wasser steht ein Mann. Er trägt einen braven Anzug und hat eine saubere Frisur. Er greift in seine Hosentasche und nimmt das Handy, starrt es eindringlich an. Dann holt er aus und wirft es ins Wasser. Das Gerät verschwindet geräuschlos unter der Oberfläche, nicht einmal ein Glucksen ist zu hören. Konzentrische Kreise gehen von der Stelle aus. Der Mann geht weg.

Was sind wir? Fragen, die sich die Welt stellt.