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47 Samstag, 02.05.2020

Die U-Bahn ist gut gefüllt wie schon lange nicht mehr, und es verunsichert mich. Wir haben uns den neuen Rundblick angewöhnt, der nach dem Einsteigen die Lage sondiert: Wie viele Personen befinden sich in umittelbarer und erweiterter Umgebung, auf welche Weise kann es gelingen, den anderen großräumig auszuweichen? Und vor allem: Wer verstößt gegen die Maskenpflicht? Nicht, dass es einem zustände, jemanden zu ermahnen – im Gegenteil, das wäre eines alltagstauglichen Menschen nicht würdig –, es ist mehr ein geisitges Skizzieren, wie es um das Pflichtbewusstsein der Leute steht sowie ein kritisches Hinterfragen, wie man selbst sich zu den Maßnahmen verhält.
Der Waggon ist so voll, dass die derzeit geltende Abstandsregel für den öffentlichen Raum, nicht einzuhalten wäre. Jeder fragt sich: Wer kommt wem zu nah? Bei Doppelsitzen bleibt einer stets frei, es sei denn, zwei Menschen gehören zusammen. Das durchgängige und sich selbst zitierende Muster der diagonal besetzten Viererplätze ist eindringlich.
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Es gibt Regeln, die man für nicht sinnvoll oder ungerechtfertigt hält. Nach Kenntnisnahme der mir als Laie zur Verfügung stehenden Informationen, gehört die flächendeckende Maskenpflicht dazu. Daran halten möchte ich mich trotzdem, aus Angst vor Sanktionen. Das Anlegen eines Stücks bedruckten Stoffes in Verkehrsmitteln und Geschäften ist eine kleine Regel, die mich in meiner Bewegungsfreiheit selbst nicht einschränkt und mir keine Schmerzen zufügt. Sie zu befolgen, bedeutet keine moralische oder ideologische Verrenkung. Dennoch ist sie ein guter Ausgangspunkt, um die Frage des Regelbefolgens an sich weiterzudenken.
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In der U-Bahn befindet sich ein Mann, der bewusst gegen die Maßnahme verstößt. Die Gummibänder der Einwegmaske sind zwar um die Ohren geschlungen, doch der Stoffteil selbst bleibt unters Kinn geklemmt. Der Mann tut dies im Wissen, dass es verboten ist. Sein Anblick löst bei mir eine Fülle von Reaktionen aus.
Ich frage mich, weshalb er es tut: Er möchte uns – den anderen – signalisieren, dass er kein Schaf ist wie wir, dass er es nicht nötig hat, sich an Regeln zu halten, die er für unsinnig hält. Beim Einfahren in jede Station blickt er kurz von seinem Smartphone auf, um Nachschau zu halten, ob Polizisten oder Sicherheitsleute der Wiener Linien zusteigen – wäre das der Fall, würde er sicher einknicken und rasch die Maske hochschieben, bei einer Ermahnung kleinlaut seine Entschuldigung murmeln. Er möchte uns anderen zeigen, was wir nicht sind: Ein Outlaw, für den nur die eigenen Gesetze gelten, gerissen und verwegen. Ich bin es nicht.
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Ich bin böse auf den Mann. Wahrscheinlich beneide ich ihn um seinen kaltschnäuzigen Mut und seinen selbstbewussten Eigensinn. Er tut, was ich mich nicht traue, weil ich mich vor einer Geldstrafe und der Ermahnung einer Autoritätsperson fürchte. Ich empfinde leichte Scham, während ich mir heiße Luft auf meine immer mehr beschlagenden Brillengläser schnaufe. Gleichzeitig verurteile ich den Mann dafür, dass er durch sein Protestverhalten den Regelbefolgern das Leben schwermacht: Er beschämt sie und torpediert ihre Bereitschaft, auch andere Regeln einzuhalten, die womöglich sinnvoller und wirkungsvoller wären.
Andere kommen sich durch seine zur Schau gestellte Wurstigkeit – beispielhaft für vergleichbares Gebaren – insgeheim und stückweise verarscht vor, was die Akzeptanz des Regelbefolgens an sich mindern wird. (Die Lust, mit der er von den verhöhnten Schafen neidvoll beäugt wird, macht ihn zum Wolf.)
Deshalb müssen Regeln sichtbar kontrolliert und Verstöße offen geahndet werden – um die Kooperation der Gemeinschaft insgesamt nicht zu gefährden. Wir betreten das Terrain eines fragilen Gleichgewichts; wird das eigene Gerechtigkeitsempfinden empfindlich gestört, ist es nur mühsam wieder aufzubauen. (Er nicht? Und wieso dann ich?) Sein Verhalten zähneknirschend anzupassen, selbst wenn es einem widerstrebt, kann andere dabei unterstützen und erbauen, es ebenfalls zu tun; darin liegt oft ein anderer Sinn. Alles natürlich nur bis zu einem gewissen Grad, innerhalb eines zulässigen Rahmens, der fallweise und im Detail stets neu verhandelt werden muss. (Wer bin ich, den anderen vorzuleben, wie es anders ginge?)
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Es gibt Regeln, die man sogar für kontraproduktiv hält, bei denen man davon ausgeht, dass sie unter Umständen mehr Schaden anrichten als sie nutzen. (So manche medial transportierte Aussage von Experten aus dem Gesundheitsbereich bringen die Problematik von unsachgemäßer Handhabe der Gesichtsmasken auf den Punkt. Als Laie fällt es schwer, da ein Urteil zu fällen. Was andere wissen, das kann man nur glauben.) Bis zu welchem Grad hält man eine solche Regel, die man als schädlich für sich oder die Allgemeinheit erachtet, trotzdem ein?
Auch hier ist die Maskenpflicht selbst kein taugliches Beispiel einer die Lebensqualität erheblich mindernden Einschränkung, sie kann nur Samenkorn eines Gedankenbaums sein. Was beim einen das schwammig argumentierte Verhüllungsgebot, ist beim anderen die tatsächliche Bevormundung. Was im einen Land das unliebsame Umbinden eines Stofflappens ist, kann anderswo das Beschneiden der Redefreitheit oder das Schädigen demokratischer Strukturen sein.
Mit einem Mal verstehe ich zivilen Ungehorsam: Wie er zustande kommt – so leicht und so schnell – und mit welcher Alternativlosigkeit man sich unverhofft darin wiederfindet. Eine U-Bahn lang jedenfalls habe ich das Gefühl, etwas zu verstehen, das über meine Lebenswirklichkeit hinausreicht.
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Wie es bei Inkraftsetzen und Kontrolle von Regeln stets eine Verhältnismäßigkeit zu berücksichtigen gilt, so trifft das auch beim Widerstand gegen Regeln zu. Man muss schon sehr genau wissen, aus welchen Gründen man sich mit welcher erhofften Wirkung gegen wen und wie sehr in den Ring wirft. Wir sollten abwägen, welche Unliebsamkeit unsere Verbitterung wert ist. Der Mann mit freigeschobenem Gesicht weiß die bösen Blicke der Leute auf sich. Ich rücke mir schamhaft die Maske zurecht.
Es gibt Regeln, bei denen man sich lächerlich macht, wenn man sie einhält oder deren Einhaltung man sich von anderen sogar vorwerfen lassen muss. (Einmal kam die Frage, wann ich mich denn wieder trauen würde, jemanden zu besuchen – als das Vermeiden von persönlichen Kontakten gerade mit jemandem aus der Risikogruppe nach abgewogenem Wissensstand noch sehr unvernünftig schien.)
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In der U-Bahn herrscht fröhliches Misstrauen. Ich bin einerseits eingeschüchtert von der Menschenfülle, und gleichzeitig hingerissen von der Kreativität bei der Maskengestaltung; die Mannigfaltigkeit der Farben und Muster stimmt mich richtungslos zuversichtlich. (Eine solche Tendenz zur Individualisierung habe ich bei asiatischen Maskenträgern in Nachrichtensendungen nie gesehen; vielleicht tun wir uns so viel damit an, weil es neu ist, und weil wir glauben, dass es ja nur für ein paar mickrige Wochen sein wird. Wir wollen herausstechen und subtile Botschaften über unsere Persönlichkeit ausstreuen. Vielleicht ist hier ein europäischer Geist am Werk.)
Eigentlich schön, dass der Einzelne selbst bei dieser auferlegten Gesichtslosigkeit noch in Nuancen durchblitzen will. (Man vergegenwärtige sich das aufmüpfige Element bei Schuluniformen: die kaugummifarbene Haarspange, das sternfunkelnde Armband, die gottesfürchtige Halskette.)
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Eine zittrige Oma trägt übergroße durchsichtige Plastikhandschuhe, wie man sie in der Brotabteilung mancher Filialen einer bestimmten Supermarktkette mitgehen lassen kann. Sie knistern ihr um die verdorrten Altfrauenfinger. Eine Hand umfasst die Hältestange, der Nebensteher weicht respektvoll einen Schritt zurück. Beim Aussteigen teilen wir das Meer der Wartenden. Die Welt ist wieder hochgefahren. Es gibt Regeln, die einen lächerlich machen.

Ich höre den Bericht eines Hamburger Rechtsmediziners, wonach von über einhundert obduzierten Verstorbenen, die offiziell als Corona-Tote gezählten werden, nach seinem Dafürhalten kein einziger den Tod ausschließlich durch den Virus selbst fand; es handelte sich um ältere bis sehr alte Patienten mit schwerwiegenden und teils mehreren Vorerkrankungen. Ich lese von der Mehrheitsmeinung abweichende Nischenansichten, manche obskur, andere nachvollziehbar und berechtigt – wir werden erleben, wie eines zum anderen wird und Verwirrung entsteht. (Wissenschaft schließt Meinung aus; das Eingestehen der Wissenslücke ist ihre Grundvoraussetzung.) Ich sehe Wortmeldungen durchaus seriöser und anerkannter Wissenschaftler, die in den klassischen Medien Sprechzeit bekommen, und fühle mich um mein Vertrauen in die Maßnahmen betrogen, das im Nachhinein womöglich zu unkritisch war. Hätte es jemand besser wissen können oder müssen? Und falls ja, wäre ich derjenige gewesen, oder die Entscheidungsträger samt Beraterstäben mit ihren voreiligen Gewissheiten?
Die vertrauenswürdigen und ernstzunehmenden unter den Meinungsabweichlern bestreiten keineswegs Gefährlichkeit und teilweise Neuartigkeit der Erkrankung oder die Sinnhaftigkeit von einschränkenden Maßnahmen, jedoch geben sie zu bedenken, dass es nach einer ersten Welle der schnellen Reaktion längst geboten scheint, das mittlerweile vorhandene Zahlenmaterial auszuwerten, um daraus Schlüsse zu ziehen und Handlungsanweisungen abzuleiten.
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(Vielleicht ist Corona weniger eine Gesundheitskrise als eine Systemkrise – ein Benchmark-Test für die Belastbarkeit des Krankenhauswesens. Tote gibt es dort, wo Strukturen verkleinert und kaputtgespart wurden. Die Menschen sterben bekanntlich weniger an der Schwere der Erkrankung als an unzureichender Versorgung.)
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Was beim mutwilligen Jonglieren mit Zahlen unterschlagen wird, ist der Unterschied zwischen Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit. Der Bundeskanzler lässt sich zur Aussage hinreißen, in wenigen Wochen werde jeder Einwohner des Landes jemanden kennen, der an den Folgen einer Infektion gestorben sei; Minister sprechen in frühen Statements inbrünstig von zehntausenden Toten. Es wäre möglich, dass jeder jemanden kennt, der am Virus stirbt – aber wie wahrscheinlich ist es? Auch dreißigtausend, fünfzigtausend oder hunderttausend Tote sind möglich, aber wie wahrscheinlich sind sie?
Was im Umgang mit der Krise immer offenkundiger wird, ist die fahrlässige oder mutwillige Verwechslung dieser zwei so verschiedenen Dimensionen. Es wäre möglich, dass ich einen Spaziergang mache und mir am Gehsteig ein Klavier auf den Kopf fällt – gestehe ich dem Ereignis eine hohe Wahrscheinlichkeit zu, die jeglicher faktischen Grundlage entbehrt, und passe ich davon ausgehend mein Verhalten in extremer Weise an, verzichte also auf meinen Spaziergang, dann bin ich möglicherweise oder sogar sehr wahrscheinlich verrückt.

War denn alles ganz anders, als wir niemals gedacht haben?

Es gibt eine letzte Gruppe, für die sich in den seltsamen Zeiten nichts geändert hat: Demenzkranke. Ihnen braucht man gar nicht erst zu erzählen, was vor sich geht, es sei denn, sie bemerken eine Veränderung und stellen Fragen, dann bringt man ihnen die neuen Tatsachen behutsam und geduldig näher. Sie bleiben umnachtet – und auf eine Weise stärker verankert in der Normalität, als viele von uns vermeintlich Klarsichtigen.

Wann werde ich einfach wieder etwas durcherzählen?