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46 Freitag, 01.05.2020

Auch Österreich ist ein Zwergstaat, nur vielleicht etwas weniger übersichtlich als Liechtenstein oder San Marino.

Unerbittlicher Begriff: Angststrategie (der Regierung)

Die Aufpasserin beim Eingang zur Post ist eine mittelalte Frau, die eine angenehme Ruhe ausstrahlt. Sie achtet darauf, dass sich nur eine bestimmte Personenanzahl gleichzeitig im Inneren der Filiale aufhält. Ihr Vorgänger war ein junger Mann, der über eine externe Sicherheitsfirma hinzugezogen worden sein musste. Er wirkte eher fahrig und schien mit dem Unmut der Kunden überfordert, denen er einzeln erklären musste, dass man sich erst anstellen und dann eine Nummernkarte ziehen sollte, und nicht umgekehrt. Die Menschen waren frisch nervös von der Umstellung, sie wollten noch nicht einsehen, für seine alltäglichen Erledigungen – ob nun Einkäufe oder Dienstleistungen – im Zweifelsfall ein bisschen mehr Zeit einplanen zu müssen. Der Sicherheitsmann tat mir Leid, denn er konnte nichts dafür. (Mir kam vor, dass vorübergehend viel weniger Schalter als sonst geöffnet waren, wahrscheinlich hat man Leute in Kurzarbeit geschickt.)
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Jetzt steht vor der Filiale eine gepflegte Dame im Hosenanzug, bei der ich davon ausgehe, dass sie direkt vom Postkonzern hierher abkommandiert worden ist. Allein vom Dastehen wirkt sie gebildet und kompetent, doch bereitet es ihr kein Unbehagen, diese eher einfältige Aufgabe souverän zu erledigen. Nach dem zweiten oder dritten Besuch ist mir ihr Anblick bereits vertraut – ich ihr umgekehrt sicher nicht, gibt es doch zu viele (verhüllte) Gesichter, die Tag für Tag an ihr vorüberziehen. Auf jedem einzelnen verweilt sie kurz mit einem Lächeln, das man trotz Mundschutz bemerkt. Ich komme an die Reihe, trete vor und werde hineingelassen. Eine Person von ansteckender Gelassenheit, denke ich. Freundlich sagt die Frau: Eine schöne Maske haben Sie. Ich bedanke mich und finde, dass es stimmt.
Mein Gesicht wird bedeckt von einem verkehrten Hasen, der aussieht wie ein Hamster, was auch daran liegt, dass im unaufgefächerten Stoff die Ohren deutlich schrumpfen. Hasen-Bedruck, weil es ein Ostergeschenk war, und verkehrt, weil sie so besser sitzt und passgenauer an die Nasenwurzel gedrückt werden kann, sodass die Brille weniger beschlägt – wenn auch nur marginal. (Der Versuch, unterwegs den Atem zu zügeln, erweist sich als kaum praxistauglich.) Die Hasenmaske war das Geschenk einer steirischen Schneiderin. Sie verwendete das Reststück eines tierlieben Vorhangs. Die Maske ist schön, wenn auch nicht sehr erwachsen.

Unerbittlicher Begriff: Viruslast

Das Kribbeln des Verbotenen, als würde er gleich in Dinge eingeweiht, die ihm nicht zustanden, die mächtige Weltenlenker ihm vorenthalten wollten. Etwas war versehen mit dem Stichwort Leak, einem magischen Begriff, der jedes Fundstück mit dem Lockstoff des Geheimen ausstattete. Er klickte es an, und es offenbarte sich ihm eine versteckte Wahrheit.

Taiwan gilt vielen als Musterbeispiel für kluge und sozial verträgliche Eindämmung des Virus. Die Politik verschreibt sich größtmöglicher Transparenz, um Maßnahmen für die Bürger nachvollziehbar zu machen, Geschäftsschließungen samt Wirtschaftseinbruch gibt es nicht, an demokratischen Prinzipien wird konsequent festgehalten. Taiwan ist kein Mitgliedstaat der Weltgesundheitsorganisation, auf Betreiben Chinas wird ihm selbst der Beobachterstatus verwehrt.
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Dass Panama bei Ausgangsbeschränkungen nach Geschlechtern trennt – Frauen dürfen montags, dienstags und mittwochs hinaus, Männer wiederum dienstags, donnerstags und samstags, am Sonntag niemand – erscheint auf den ersten Blick abwegig und richtig ulkig. Auf den zweiten Blick leuchtet es jedoch ein: Die Geschlechtertrennung ist eine simple Möglichkeit, eine Bevölkerung ungefähr in zwei Hälften zu teilen; so jedenfalls ist ausgeschlossen, dass alle Menschen zur selben Zeit das Haus verlassen. Weiters kann die Einhaltung dieser Vorgabe allein durch Blickkontrolle gewährleistet werden, den Polizisten ist keine Bescheinigung vorzulegen, keine Stelle muss vorher Dokumente ausstellen. Alles, was zählt ist: Mann oder Frau? Dass es dabei zu Verwechslungen und sehr peinlichen oder sogar entwürdigenden Situationen kommen kann, ist eine andere Geschichte. Es liegt im Ermessen der zuständigen Beamten, beim Durchsetzen der Maßnahme höchst diskret zu agieren und ihren Mitmenschen den nötigen Spielraum zu lassen. Diese Aufgabe ist eine Übung in Toleranz.
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In Berichten aus den Vereinigten Staaten beobachtet man den Niedergang einer dekadenten Gesellschaft. Groteske Fettwanste geben Interviews. Sie sehen nicht ein, weshalb man auf seinen Spring Break verzichten sollte, schließlich sind sie doch extra nach Florida gekommen, um sich niederzusaufen und wegzukiffen und andere flachzulegen – es steht ihnen zu. Sie machen Party am Strand. (Kompromisslosen Individualisten fällt es schwer, Regeln zu befolgen, auch solche, die ihnen selbst zugute kommen würden; so etwas wie die Allgemeinheit gibt es gar nicht erst.) Strandwächter stellen als Weckruf für die Partymacher verzweifelt Warnschilder auf, gegen die ungetrübte Feierlaune kommen sie jedoch nicht an. Es erschallen die rauen Stimmen trinkfester Amerikaner. Eine Weltmacht gröhlt.

Unerbittlicher Begriff: Familienkohortenstudie

Theaterbild: Eine tote Braut hockt auf einem umgedrehten Tisch, mit dem sie den Unterweltfluss Styx befährt. Als Paddel dient ihr die abgetrennte Hand eines Skeletts. Das Kugelgelenk nutzt sie später als Mikrofon, beim Vortrag eines sprachlich dichten Monologs. Der Tod persönlich – genauer gesagt die Tödin, denn hier ist es eine Frau – zieht ihr den schwangeren Bauch unterm Brautkleid hervor. Jeder weiß.

Die alterslose Dichterin hat einen entzückenden Fehler im Auge.

Eine Lederjacke knarzt und knirscht wie festes Stapfen durch den Schnee.

Vormittäglicher Büro-Spam.
Von: Alberto Giusti
Betreff: Gastbeitrag
Guten Morgen,
ich bin der Manager einer digitalen Medienagentur.
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(Adresse)
Mit freundlichen Grüßen,
Alberto Giusti
Best Regards,
Alberto Giusti
(Ach, Alberto – du hattest mich bei „Guten Morgen“.)
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Der Dramödie zweiter Teil. Unbekannter Absender:
Entdecken Sie, ob die Einnahme von CBD Ihnen beim Entspannen helfen könnte.
Plus 9 Tipps, um Stress besser natürlich zu regulieren.
Fakt ist, dass es wenige Dinge gibt, die schlimmer für uns sind als Stress.
Tatsächlich kann Stress Sie umbringen.
Neue Studien zeigen, dass Stress von Ihrem Gaumen bis zu Ihrem Herzen alles schädigen kann und dass er Sie wesentlich anfälliger für Erkrankungen werden lässt, von der Erkältung bis zu Krebs.
(Ein Werbe-Algorithmus studiert meine Wachzeiten und macht sich Sorgen.)

Zugeflogener Begriff: Corona-Kalifat
(Ihn in die Welt zu setzen, löst Unbehagen und Stolz aus.)

Wenn man etwas schon sagt, dann kann man es ja auch gleich meinen.

Der Trostgedanke, eine Kugel zu sein, jedenfalls ein hermetisches Objekt, in das nichts dringen kann. Ich sehe diese Kugel klar vor mir und lächle still.