Die Dinge pendeln sich ein. Bald herrscht an Schulen keine Maskenpflicht mehr. Kommende Lockerungen für die Gastronomie, auch was die Sperrstunde angeht. Hotels erleben ein verregnetes Pfingstwochenende. Um bei allen Entwicklungen auf dem neuesten Stand zu bleiben, wäre man mit nicht mehr viel anderem beschäftigt. Ich erlange bloß einen Teil-Überblick. Die Entscheidungsträger überholen sich selbst.
Auch Konzerte und Theatervorstellungen sind unter Einhaltung von Schutzmaßnahmen wieder möglich, wenn sich auch vielerorts noch die Frage stellt, wie sinnvoll eine Veranstaltung überhaupt wäre, ob es sich finanziell auszahlen und den Gästen Vergnügen bereiten würde. Kollektive Verwirrung, was genau unter welchen Voraussetzungen erlaubt ist: Im Stehen, im Sitzen, mit wie viel Abstand und/oder Maske? Das Lachen zu verstecken, wäre der Tod des Kabaretts. Singen ist giftig, Chorproben arten aus zur Farce. Wer kann, der wandert ab ins Freie.
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Leute, die ich kenne, teilen Bilder von Musikern auf Bühnen. Ich selbst habe noch keine Lust darauf, nicht unter solch erschwerten Bedingungen. Nicht um jeden Preis, denke ich, obwohl ich schneller sein sollte im Reagieren auf die neuesten Entwicklungen. Jeder wartet ab, was die anderen tun.
Kinos dürfen wieder aufsperren, was selbst für die Betreiber aus heiterem Himmel geschieht. Sie fühlen sich überrumpelt, die meisten peilen einen tatsächlichen Neustart erst in etwa zwei Wochen an. Alles will mit den Verleihern koordiniert, die Angestellten klug eingeteilt werden. Eine komplexe Maschine setzt sich träge in Gang. Ich muss noch nicht ins Kino. Auch die Filmlust hält sich derweil noch in Grenzen. Vielleicht muss man das Leben erst wieder lernen.
Ich erinnere mich an einen Winterabend im Innenstadtkino. Nachdem ich die Karte geholt hatte, nahm ich Platz auf einem der unbequemen Holzsessel im Foyer, um zu lesen. Bald setzte sich ein Senioren-Paar neben mich. Der Mann schien wesentlich älter als die Frau zu sein, der Bart war kantig und weiß wie ein ramponierter Heizkörper. Er knabberte Popcorn. Die Frau zückte ihr Handy, wischte daran herum, auf der Suche nach etwas, dann begann sie zu lesen.
Es war die Inhaltsangabe des südkoreanischen Films, den ich in einer Viertelstunde sehen würde. Ihr Mann hörte knabbernd zu und wirkte dabei so zufrieden, als hätte er es sich nach einem anstrengenden Tag im eigenen Wohnzimmer bequem gemacht. Die Frau las so laut, dass es mir unmöglich war, mich auf das mitgebrachte Buch zu konzentrieren. Ich hatte mir absichtlich keinen Trailer angesehen und jede Beschreibung gemieden, welche über die Grundkonstellation der Geschichte hinausging, schließlich wollte ich mir den Film möglichst frisch und überraschend halten. Die Frau drang im Vorlesen immer tiefer in die Handlung ein, und mir wurde sehr unwohl, denn ich war mir nun sicher, dass sie sich auf einer dieser Spoiler-Seiten befand, die einem Filme zur Gänze nacherzählten, mit allen Wendungen und in allen Details. Erschrocken setzte ich mich weg.
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Doch selbst der am weitesten entfernte Holzsessel war noch zu nah an dem Paar, um nicht klar und deutlich alles mitzubekommen, schon ging es um ein Video, um eine Überschwemmung, um einen Polizeieinsatz. Ich schätzte, dass wir uns bereits im letzten Drittel des Films befanden. Die Frau las mit lauter, ruhiger Stimme. Der Mann mampfte seine dummen Popcorn und bröselte sich in den Bart. Wahrscheinlich war er schwerhörig, und blind musste er auch sein, dass seine Begleiterin ihm vorlas wie einem Kind. Sie erlebten den Film vor dem Film. Es hielt mich nicht mehr am Sitz und ich ging hinüber zu den beiden.
Entschuldigung, sagte ich, kann es sein, dass Sie da den Inhalt des Films lesen, der gleich beginnt? Ja, nickte die Frau begeistert, um sechs. Den wollte ich mir nämlich anschauen, sagte ich. Den schauen wir uns auch an!, sagte sie strahlend. Wahrscheinlich freute es sie, einen jungen Menschen mit ähnlichem Filmgeschmack vor sich zu haben. Ich möchte nicht wissen, was alles passiert, und wie er ausgeht, sagte ich. Da verdüsterte sich ihre Miene.
Es ist nicht böse gemeint, sagte ich, aber Sie müssen ja nicht mitten im Kino den kompletten Inhalt des Films laut vorlesen. Dumpfe Betretenheit. Das machen wir immer so, murmelte die Frau. Der Mann knabberte seelenruhig weiter. Ich solle mir eben die Ohren zuhalten, kaute er mir feindselig entgegen. Es war sinnlos. Ich zog mich auf meinen Fluchtplatz zurück. Den Rest des Inhalts trug die Frau mit etwas leiserer Stimme vor. Ich gab mir Mühe, wegzuhören.
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Später im Saal waren die beiden direkt vor mir. Irgendwie köstlich, dachte ich. Allein die Vorstellung, dass es Leute gab, die sich in ein Innenstadtkino setzten und mit lauter Stimme völlig zwangslos den nächsten Film spoilerten. Worin lag überhaupt für sie beide der Genuss, vorher schon alles zu wissen? Noch dazu bei einer wendungsreichen Geschichte, die mit einigen ausgetüftelten Spannungselementen aufwarten konnte. Wahrscheinlich schlief er manchmal ein, dachte ich. Oder der Mann war tatsächlich so blind, dass er nicht alles mitbekam, was auf der Leinwand vor sich ging. Das machen wir immer so, hatte die Frau gesagt – gratuliere! Mir eben die Ohren zuhalten – das wäre ja noch schöner! Auf die Idee muss man auch erst einmal kommen. Eine äußerst originelle Art, sich bei den Mitmenschen unbeliebt zu machen.
Die zwei waren Filmverderber. Und Raschler waren sie auch – mit der Tüte Popcorn und diversen kleinen Sackerl. Ständig reichten sie einander irgendetwas, eine Wasserflasche ging hin und her. Plauderer waren es sowieso, die das Geschehen wortreich kommentierten; alles andere hätte mich auch gewundert. Noch während der stimmungsvollen Anfangssequenz beschloss ich, die beiden zu verschriftlichen, sie als Filmverderber und Kinozerstörer und Gesellschaftsdilettanten zu verunglimpfen, sie mit meinen bescheidenen Mitteln und in meinem beschränkten Rahmen als abendlange Erzfeinde zu verewigen, wie nachtragend und kleinbürgerlich es auch sein mochte. Die Rache des Schreibenden, dachte ich während des von Popcorn-Rascheln begleiteten südkoreanischen Films, die süße Rache des Schreibenden, lächelte ich, sie ist alles, was man hat.
Während sich hierzulande die Dinge normalisieren, herrscht in anderen Weltgegenden immer noch Ausnahmezustand. Steigende Infektionszahlen in Südamerika, vor allem Brasilien entwickelt sich zum Sorgenkind der Beobachter. Ich bemühe mich, meinen Nachrichtenkonsum einzuschränken, die Berieselung zu verringern. Gehirnwindungen leiern davon aus.
Als radikalen ersten Schritt ändere ich die Startseite des Browsers – am Smartphone ebenso wie am Laptop –, statt des Onlineauftritts des Österreichischen Rundfunks erwartet mich nun das eintönige Design der Freien Enzyklopädie.
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Trotzdem bekomme ich mit, was sich so tut, auch die Straßenschlachten in den Vereinigten Staaten. Unruhen in mehreren Städten, nachdem ein Afroamerikaner bei der Verhaftung durch vier Polizisten ums Leben kam. Acht Minuten und sechsundvierzig Sekunden – so lange drückte einer der Beamten sein Knie gegen den Hals des am Boden Liegenden, bis dieser keine Regung mehr von sich gab, und darüber hinaus. Im Krankenhaus konnte nur noch der Tod festgestellt werden – eine Phrase, die man nach derartigen Vorfällen viel zu oft lesen muss. Wann geschieht etwas einmal zu oft? Unrecht, erschreckend gut dokumentiert.
Auf dem Handy-Video eines unbeteiligten Passanten ist zu sehen, wie der Mann sagt, er bekomme keine Luft. Selbst als er sich längst nicht mehr rührt, behält der andere das Knie auf seinem Hals. Acht Minuten und sechsundvierzig Sekunden. Bürgerrechtsproteste gehen über in Ausschreitungen, Demonstranten sehen sich einer bis an die Zähne bewaffneten und stark militarisierten Polizeigewalt gegenüber. Die Vermummung gegen den Virus verwandelt sich in jene des wütenden Protests. Wer auf der richtigen Seite der Geschichte steht, hält sehr lange durch. Das Weltgeschehen findet einen, so oder so.