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76 Sonntag, 31.05.2020

Die Dinge pendeln sich ein. Bald herrscht an Schulen keine Maskenpflicht mehr. Kommende Lockerungen für die Gastronomie, auch was die Sperrstunde angeht. Hotels erleben ein verregnetes Pfingstwochenende. Um bei allen Entwicklungen auf dem neuesten Stand zu bleiben, wäre man mit nicht mehr viel anderem beschäftigt. Ich erlange bloß einen Teil-Überblick. Die Entscheidungsträger überholen sich selbst.
Auch Konzerte und Theatervorstellungen sind unter Einhaltung von Schutzmaßnahmen wieder möglich, wenn sich auch vielerorts noch die Frage stellt, wie sinnvoll eine Veranstaltung überhaupt wäre, ob es sich finanziell auszahlen und den Gästen Vergnügen bereiten würde. Kollektive Verwirrung, was genau unter welchen Voraussetzungen erlaubt ist: Im Stehen, im Sitzen, mit wie viel Abstand und/oder Maske? Das Lachen zu verstecken, wäre der Tod des Kabaretts. Singen ist giftig, Chorproben arten aus zur Farce. Wer kann, der wandert ab ins Freie.
*
Leute, die ich kenne, teilen Bilder von Musikern auf Bühnen. Ich selbst habe noch keine Lust darauf, nicht unter solch erschwerten Bedingungen. Nicht um jeden Preis, denke ich, obwohl ich schneller sein sollte im Reagieren auf die neuesten Entwicklungen. Jeder wartet ab, was die anderen tun.
Kinos dürfen wieder aufsperren, was selbst für die Betreiber aus heiterem Himmel geschieht. Sie fühlen sich überrumpelt, die meisten peilen einen tatsächlichen Neustart erst in etwa zwei Wochen an. Alles will mit den Verleihern koordiniert, die Angestellten klug eingeteilt werden. Eine komplexe Maschine setzt sich träge in Gang. Ich muss noch nicht ins Kino. Auch die Filmlust hält sich derweil noch in Grenzen. Vielleicht muss man das Leben erst wieder lernen.

Ich erinnere mich an einen Winterabend im Innenstadtkino. Nachdem ich die Karte geholt hatte, nahm ich Platz auf einem der unbequemen Holzsessel im Foyer, um zu lesen. Bald setzte sich ein Senioren-Paar neben mich. Der Mann schien wesentlich älter als die Frau zu sein, der Bart war kantig und weiß wie ein ramponierter Heizkörper. Er knabberte Popcorn. Die Frau zückte ihr Handy, wischte daran herum, auf der Suche nach etwas, dann begann sie zu lesen.
Es war die Inhaltsangabe des südkoreanischen Films, den ich in einer Viertelstunde sehen würde. Ihr Mann hörte knabbernd zu und wirkte dabei so zufrieden, als hätte er es sich nach einem anstrengenden Tag im eigenen Wohnzimmer bequem gemacht. Die Frau las so laut, dass es mir unmöglich war, mich auf das mitgebrachte Buch zu konzentrieren. Ich hatte mir absichtlich keinen Trailer angesehen und jede Beschreibung gemieden, welche über die Grundkonstellation der Geschichte hinausging, schließlich wollte ich mir den Film möglichst frisch und überraschend halten. Die Frau drang im Vorlesen immer tiefer in die Handlung ein, und mir wurde sehr unwohl, denn ich war mir nun sicher, dass sie sich auf einer dieser Spoiler-Seiten befand, die einem Filme zur Gänze nacherzählten, mit allen Wendungen und in allen Details. Erschrocken setzte ich mich weg.
*
Doch selbst der am weitesten entfernte Holzsessel war noch zu nah an dem Paar, um nicht klar und deutlich alles mitzubekommen, schon ging es um ein Video, um eine Überschwemmung, um einen Polizeieinsatz. Ich schätzte, dass wir uns bereits im letzten Drittel des Films befanden. Die Frau las mit lauter, ruhiger Stimme. Der Mann mampfte seine dummen Popcorn und bröselte sich in den Bart. Wahrscheinlich war er schwerhörig, und blind musste er auch sein, dass seine Begleiterin ihm vorlas wie einem Kind. Sie erlebten den Film vor dem Film. Es hielt mich nicht mehr am Sitz und ich ging hinüber zu den beiden.
Entschuldigung, sagte ich, kann es sein, dass Sie da den Inhalt des Films lesen, der gleich beginnt? Ja, nickte die Frau begeistert, um sechs. Den wollte ich mir nämlich anschauen, sagte ich. Den schauen wir uns auch an!, sagte sie strahlend. Wahrscheinlich freute es sie, einen jungen Menschen mit ähnlichem Filmgeschmack vor sich zu haben. Ich möchte nicht wissen, was alles passiert, und wie er ausgeht, sagte ich. Da verdüsterte sich ihre Miene.
Es ist nicht böse gemeint, sagte ich, aber Sie müssen ja nicht mitten im Kino den kompletten Inhalt des Films laut vorlesen. Dumpfe Betretenheit. Das machen wir immer so, murmelte die Frau. Der Mann knabberte seelenruhig weiter. Ich solle mir eben die Ohren zuhalten, kaute er mir feindselig entgegen. Es war sinnlos. Ich zog mich auf meinen Fluchtplatz zurück. Den Rest des Inhalts trug die Frau mit etwas leiserer Stimme vor. Ich gab mir Mühe, wegzuhören.
*
Später im Saal waren die beiden direkt vor mir. Irgendwie köstlich, dachte ich. Allein die Vorstellung, dass es Leute gab, die sich in ein Innenstadtkino setzten und mit lauter Stimme völlig zwangslos den nächsten Film spoilerten. Worin lag überhaupt für sie beide der Genuss, vorher schon alles zu wissen? Noch dazu bei einer wendungsreichen Geschichte, die mit einigen ausgetüftelten Spannungselementen aufwarten konnte. Wahrscheinlich schlief er manchmal ein, dachte ich. Oder der Mann war tatsächlich so blind, dass er nicht alles mitbekam, was auf der Leinwand vor sich ging. Das machen wir immer so, hatte die Frau gesagt – gratuliere! Mir eben die Ohren zuhalten – das wäre ja noch schöner! Auf die Idee muss man auch erst einmal kommen. Eine äußerst originelle Art, sich bei den Mitmenschen unbeliebt zu machen.
Die zwei waren Filmverderber. Und Raschler waren sie auch – mit der Tüte Popcorn und diversen kleinen Sackerl. Ständig reichten sie einander irgendetwas, eine Wasserflasche ging hin und her. Plauderer waren es sowieso, die das Geschehen wortreich kommentierten; alles andere hätte mich auch gewundert. Noch während der stimmungsvollen Anfangssequenz beschloss ich, die beiden zu verschriftlichen, sie als Filmverderber und Kinozerstörer und Gesellschaftsdilettanten zu verunglimpfen, sie mit meinen bescheidenen Mitteln und in meinem beschränkten Rahmen als abendlange Erzfeinde zu verewigen, wie nachtragend und kleinbürgerlich es auch sein mochte. Die Rache des Schreibenden, dachte ich während des von Popcorn-Rascheln begleiteten südkoreanischen Films, die süße Rache des Schreibenden, lächelte ich, sie ist alles, was man hat.

Während sich hierzulande die Dinge normalisieren, herrscht in anderen Weltgegenden immer noch Ausnahmezustand. Steigende Infektionszahlen in Südamerika, vor allem Brasilien entwickelt sich zum Sorgenkind der Beobachter. Ich bemühe mich, meinen Nachrichtenkonsum einzuschränken, die Berieselung zu verringern. Gehirnwindungen leiern davon aus.
Als radikalen ersten Schritt ändere ich die Startseite des Browsers – am Smartphone ebenso wie am Laptop –, statt des Onlineauftritts des Österreichischen Rundfunks erwartet mich nun das eintönige Design der Freien Enzyklopädie.
*
Trotzdem bekomme ich mit, was sich so tut, auch die Straßenschlachten in den Vereinigten Staaten. Unruhen in mehreren Städten, nachdem ein Afroamerikaner bei der Verhaftung durch vier Polizisten ums Leben kam. Acht Minuten und sechsundvierzig Sekunden – so lange drückte einer der Beamten sein Knie gegen den Hals des am Boden Liegenden, bis dieser keine Regung mehr von sich gab, und darüber hinaus. Im Krankenhaus konnte nur noch der Tod festgestellt werden – eine Phrase, die man nach derartigen Vorfällen viel zu oft lesen muss. Wann geschieht etwas einmal zu oft? Unrecht, erschreckend gut dokumentiert.
Auf dem Handy-Video eines unbeteiligten Passanten ist zu sehen, wie der Mann sagt, er bekomme keine Luft. Selbst als er sich längst nicht mehr rührt, behält der andere das Knie auf seinem Hals. Acht Minuten und sechsundvierzig Sekunden. Bürgerrechtsproteste gehen über in Ausschreitungen, Demonstranten sehen sich einer bis an die Zähne bewaffneten und stark militarisierten Polizeigewalt gegenüber. Die Vermummung gegen den Virus verwandelt sich in jene des wütenden Protests. Wer auf der richtigen Seite der Geschichte steht, hält sehr lange durch. Das Weltgeschehen findet einen, so oder so.

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75 Samstag, 30.05.2020

Bustalk

Host scho ghört
Wegen dem Schlaganfall
Jo wors in da Gefäßambulanz
Dass so zittert
Wegen der Suppe
Das is ja das Problem
Das tut bald amal einer
Sog i
Oba an dem stirbst ja ned
Derf mas bsuchn
Mit de gonzn Corona wos is
Ja
Mhm
Mit da Moskn
Jo jo i waas eh
*
Jo jo
Und i foar im Stadioncenter
Weil i wolltat mir ja
A Sachen kaufn
A so a Jeansjacken
Oba i hob scho überall gschaut
Beim Ding und bei dem andern
Homs zwar eine die mir passt
Oba die is so
So waasd eh
So wie halt a Jean is
So ausgwoschn
Jo des is jo so scho gmocht
Des waas i scho
Oba des gfoit ma ned
Des gfoit ma ned
*
Und bei der
Jo oba wie gsogt
In meine Größe
Und dann des is so ausgwoschn
Hots gsogt
Zwanzig Euro hätt die kost
Sogts da kriegen Sie noch dreißig Prozent drauf
Sog i die dreißig Prozent konna sie am Bauch haun
I wüs ned
Und wonns füffzig Prozent san
Jo na
Des schaut so
Wasd eh so
Abgwohnt aus
Also abgwohnt ned oba
Oba abtrogn aus
Ned so
I brauch des ned
*
Und dann hob i gschaut bei da Bonita
Die hom durt ane
Oba die is lachsfarben
Hob i gsogt heans is des a Jeansjacken
Unter Jeansjacken stell i ma a blaue oder schwarze vor
Nein eine lachsfarbene
Und eine grüne
Oba die Sechsavierzger hot ma ned passt
Und i wü ned unbedingt a lachsfarbene
Die grüne steht ma zum Gsicht ned
Weil i eh so blass bin
Und die lachsfarbene waas i ned
*
Na im Herbst werd i dort dann schaun
Waas i eh
Jetzt schau i oba dort no runter
Wos i find
*
Aha
Mhm
Aha
Jo gut also dann wünsch ich dir
Jo
Heit regnets oba ned
Jo is jetzt auch vorbei
*
Jo jo
Na guat
Also dann viel Vergnügen
Viel Vergnügen
Pfiat di

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74 Freitag, 29.05.2020

Der Abend beginnt auf der nur zögerlich belebten Einkaufsstraße, mit einem Dosenbier beim Inder, dessen winziges Restaurant den Geruch von hausgemachtem Curry verströmt. Da die Supermärkte bereits geschlossen haben, sind mein Bekannter und ich gezwungen, auf solche Läden auszuweichen, in denen noch eine Kühltruhe summt. Der Curryduft lässt einem das Wasser im Mund zusammenlaufen, doch mein Bekannter ist nicht hungrig und ich habe etwas anderes im Sinn. Wir spazieren mit unserem Bier die Straße entlang, nehmen kaum wahr, wie sich die Fußgänger- in eine schwammige Begegnungszone verwandelt, und wieder zurück. Beim Westbahnhof haben wir ausgetrunken und betreten ein Fastfoodrestaurant.
Hier esse ich mit ungewaschenen Händen einen kleinen Burger und große Pommes Frites, was in Zeiten wie diesen wahrscheinlich noch weniger klug ist als sonst. Leider habe ich kein Feuchttuch im Außenfach des Rucksacks. Die eiskalte Limonade stört angenehm den Magen auf. Wir sprechen über alles.
*
Das nächste Bier gibt es im angrenzenden Bahnhofssupermarkt, hier darf man länger offenhalten, wohl bis zweiundzwanzig oder dreiundzwanzig Uhr. Wir trinken und durchstreunen den Bahnhof, wie wir es schon manchmal getan haben. Durchgangsorte wie Bahnhöfe, Flughäfen oder Einkaufszentren sind romantisch, sie verströmen eine heimelige Melancholie. Sich dort aufzuhalten, ohne einen Grund dafür zu haben, ohne also eine Reise anzutreten, jemanden nach langer Abwesenheit in die Arme zu schließen oder einen Kauf zu tätigen, ist wie der Besuch in einer Nebengasse der Zeit. Irgendwie hat man sich aus dem Spiel genommen und darf Gedanken nachhängen, die einem sonst nicht zustehen. Man verweilt sinnlos und grundlos an Orten mit besonderer Funktion, ohne sie in Ansrpuch zu nehmen: so geht Freiheit. Begegnungsorte des Städters mit sich selbst. Wir gehen die Einkaufsstraße zurück, ungefähr in der Mitte biegen wir ab.
*
Das dritte Bier gibt es beim Pub am Eck, in dem auf einigen Tischen Billard gespielt werden kann. Wir gehen auch deshalb hinein, weil wir mittlerweile beide aufs Klo müssen. Nur wenige Plätze sind belegt. Schweißgeruch liegt in der Luft, der vermutlich vom Barmann ausgeht. Als er uns bedient, zieht er eine Schweißfahne nach. Doch insgesamt sitzt im Holz ein Müffeln, das bis letztes Jahr vom Zigarettenrauch hinreichend übertüncht wurde. So riechen Pubs eben.
Für meinen Bekannten ist es das allererste gezapfte Bier seit Beginn der seltsamen Zeiten, für mich bereits das zweite, oder, wenn man es genau nimmt, eigentlich das dritte, denn beim allerersten Essen in einem türkischen Restaurant habe ich mir zwei hintereinander genommen. Wir schauen auf die Uhr, es ist bald elf. Heutzutage muss man sehr aufpassen, sich nicht zu verplaudern. Zwei Minuten vor – oder zwei Minuten nach? – der offiziell gültigen Corona-Sperrstunde verlassen wir das Pub, vor dem sich eine Traube angeheiterter Raucher versammelt hat. Auch im Inneren des Lokals sind noch ein paar Gäste, von denen manche recht volle Gläser auf dem Tisch stehen haben.
*
Vor den geschlossenen Lokalen stehen Menschen, die Minuten zuvor hinausgeworfen oder immerhin hinauskomplimentiert worden sind. Sie wirken unschlüssig, wie der Abend weitergehen soll, hat er doch für einige gerade erst begonnen. In den mitgehörten Gesprächsfetzen ist die Rede von Parks, in die man sich stattdessen verziehen könnte, oder jemand lädt in seine Privatwohnung ein. Die Menschen finden immer einen Weg, sich in geselliger Runde alkoholische Getränke zuzuführen, das ist eine der Grundkonstanten unserer Zivilisation.
Mein Bekannter und ich, wir haben Hunger, er wieder und ich noch, also gehen wir zum Pizzastand, der ebenfalls bereits am Zusperren ist. Wir legen rasch die Stoffmasken an, ganz routiniert, wie für einen spontanen Überfall zwischendurch. In der Vitrina warten Pizzaschnitten hinter Glas. Der Pizzabäcker schiebt unsere Bestellungen ins Rohr, um sie aufzuwärmen. Da es bereits so spät ist und er die Ware loswerden muss, spendiert er uns zu den bezahlten zwei Schnitten gleich zwei weitere. Wir geben Trinkgeld und nehmen aus Dankbarkeit und Freude jetzt doch noch ein Bier, um die viele Pizza hinunterspülen zu können. Jeder von uns spaziert mit übergroßem Pappteller und kalter Dose weiter. Ungesunder Abend, denke ich.
*
Wir überlegen, uns irgendwo auf eine Parkbank zu setzen. Oder sollen wir rasch zu mir?, fragt mein Bekannter. Nein, sage ich, bleiben wir hier. Wir finden eine Hausecke mit einem schmalen Fensterbrett, das uns als behelfsmäßige Ablage dient, sie ist leicht angeschrägt, jedoch eben genug, um ein Dosenbier hinstellen zu können. Im Gehen oder im Stehen zu essen, ist ein großes Vergnügen. Sandler-Style, sage ich, als Verballhornung des berühmten südkoreanischen Pop-Hits und deute die dazugehörigen Tanzschritte an, ohne dabei etwas fallenzulassen.
Wir scherzen, dass eine Coverversion samt entsprechendem Video mit Sicherheit ein großer Erfolg werden würde, allerdings sehen wir schon die empörten Schlagzeilen vor uns, und die Pressemitteilungen von Nichtregierungsorganisationen, in denen sie anprangern, wie respektlos und zynisch es sei, aus einer derart marginalisierten Bevölkerungsgruppe auch noch Profit zu schlagen. Angehängt an solche Aussendungen wären umfangreiches Zahlenmaterial und ein Forderungskatalog zur Armutsbekämpfung. Dabei wollten wir doch nur ein unterhaltems Lied darüber machen, wie schön es ist, auf der Straße etwas zu essen und ein Bier zu trinken. Wir lassen das mit der Coverversion.
*
Die Pizza schmeckt vorzüglich. Als mein Teller leer ist, falte ich ihn in den Mistkübel. Da mein Bekannter nicht mehr alles schafft, klaube ich mir auch von seinem noch ein letztes Stück. Ich wusste gar nicht, wie verfressen ich bin. Wir haben über alles gesprochen. Manchmal reißt uns jemand den Boden unter den Füßen weg, und es bleibt einem nichts anderes übrig, als wild mit den Armen zu fuchteln, um nicht in den Abgrund zu fallen. Wer immer behauptet hat, die Zeit mache Dinge besser, hat sich geirrt. Sie gibt einem nur Gelegenheit, sich über die Ausmaße einer Verdunkelung im Klaren zu werden. Wenn überhaupt, dann ist Zeit die grausame Einübung von Gleichgültigkeit. Man erreicht dann einen Punkt, an dem Worte keinen Unterschied mehr machen. Entscheidungen werden getroffen. Die Stille dröhnt.
Als wir ausgetrunken haben, geht mein Bekannter nach Hause, und ich biege ab zur Station. So endet der Abend.

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73 Donnerstag, 28.05.2020

Unerbittlicher Begriff: Präventionsparadox

In einer Bürolade entdecke ich eine Schachtel mit Visitenkarten meiner Vorgängerin. Es sind viele, sicher hundert Stück. Ich könnte welche einstecken und sie griffbereit halten, mich hin und wieder als diese andere ausgeben. Wer soll mich daran hindern?

An griechischen Stränden werden Plexiglasscheiben aufgestellt, um haushaltsfremde Badegäste von einander zu trennen. Der Sommer kann also kommen. (Ich sehe sie schon brüten in ihren komfortablen Gewächshäusern und sich mit einem Gemisch aus Sand und Sonnencreme einbeizen.)

Globalisierung hat einen schlechten Ruf, dabei ist sie auch nur Völkerverständigung mit anderen Mitteln. (Manchmal kommt es dabei zu Verständigungsschwierigkeiten, die zu Missverständnissen führen. Der Wirtschaftsmotor stottert, und Ausbeutung kommt zum Erliegen.)

April und Mai haben dieses Jahr Wetter getauscht.

Einmal schickte man mir einen Modeberater vorbei, der mir helfen sollte, mich auf ein baldiges Shooting vorzubereiten. Allein beim Gedanken, ihn in die Wohnung zu lassen, begann ich zu schwitzen, doch ließ er sich nicht abwimmeln. Auch mein Versuch, ihn davon zu überzeugen, dass ich längst wisse, was ich für den Anlass tragen werde, ging ins Leere. In der Nacht vor seinem Besuch schlief ich miserabel.
Er kam vorbei und schaute, was ich so im Kleiderschrank hatte, blätterte in den Hemden, und lüpfte die Stapel an Shirts, alles mit sehr kenntnisreicher Miene. Wie ich in vorausgehenden Telefonaten bereits angekündigt hatte, besaß ich lediglich zwei lange Hosen, eine schwarze und eine Jeans, wobei ich die schwarze bevorzugte, weil ich darin seriöser aussehen würde, und ziemlich erwachsen. (Mittlerweile besitze ich auch eine tannengrüne und eine paprikaorange Hose.)
Da meine karierten Hemden für einen Foto-Termin nicht infrage gekommen wären, hatte ich an Oberteilen eine Handvoll langärmeliger Shirts anzubieten, jeweils einfärbig und ohne Logo oder andere Verzierungen. (Ich war und bin ein vehementer Verfechter des sogenannten Normcore.) Am liebsten sind mir die dunkelblauen und schwarzen Shirts.
*
Der Modeberater legte meine zwei Hosen nebeneinander aufs Bett, darüber fächerte er ein paar Oberteile auf. Er runzelte die Stirn, knetete die Finger, zog sich ganz zurück in seinen Kopf. Die schwarze, sagte er, und fegte meine Jeans mit Verve vom Bett. Jetzt legte er abwechselnd ein dunkelblaues und ein schwarzes Oberteil an, um zu sehen, welches sich stimmiger zur Hose fügte. Ich wollte schon den Mund aufmachen und erklären, dass mir beide Recht seien, doch der Modeberater kam mir zuvor, indem er die schwarze Hose mitsamt dem schwarzen Oberteil aufhob und an meinen Körper hielt. Dann nickte er stolz. Wir hatten das Outfit gefunden. Im Nachhinein bin ich für seine Hilfe sehr dankbar. (Diese Geschichte ist erfunden.)

Unerbittlicher Begriff: Mannschaftstrainingsverbot

Wo sich zwei Menschen eine Kaffeemaschine teilen, gibt es immer einen, der sich am späten Nachmittag – wenn er schon allein ist – einen Kaffee macht, und dann vergisst, den Filter herauszunehmen, und es gibt einen anderen, der am nächsten Morgen – wenn er noch allein ist –, diesen kalten, schlaffen Filter entdeckt und ihn entsorgen muss, bevor er sich einen neuen Kaffee machen kann.

Unerbittlicher Begriff: Impfbereitschaft

Bücher als ins Regal geschlichtete Einheiten verbrachter Zeit, jener des Lesens und jener des Schreibens, anhand derer man die erfolgreich absolvierten Kämpfe nachvollziehen kann, eigene und fremde. Jede Buchgeburt ist der Welt abgetrotzt und irgendwie erschlichen. (Im Kinderzimmer damals ein Pickerl am Musikkassettenkoffer: Bücher sind Freunde – Buchhändler auch. Vielleicht deshalb…)

Sich vorauserinnern an eine mögliche Zukunft – als derjenige, der man vielleicht einmal sein wird.

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72 Mittwoch, 27.05.2020

Auf dem Weg ins Büro stehen mir oft die Herzkranken Spalier, die sich vor der kardiologischen Praxis anstellen. Sie halten Abstand zueinander und tragen vorsichtshalber Masken.

Manchmal ist ein Doughnut-Tag, an dem ich mir für die kommende Büroarbeit ein kleines Frühstück hole. Es scheint eine Art Belohnung im Vorhinein zu sein, die ich mir in den kommenden Stunden dann rückwirkend verdienen muss. Manchmal stellt sich im Nachhinein heraus, dass ich nicht so aufmerksam oder gewissenhaft gearbeitet habe, als ich hätte sollen, um mir einen Doughnut verdient gehabt zu haben. Wenn das der Fall ist, lässt sich der Verzehr des Doughnuts leider nicht mehr rückgängig machen. Dafür bin ich umgekehrt manchmal fleißiger, als von mir hätte erwartet werden können, obwohl ich keine vorausgreifende Belohnung bekommen habe. Unterm Strich gleicht es sich also wieder aus. Ich glaube, das nennt man statistische Einebnung, bin mir aber nicht sicher.

Geisterspiele sind nicht nötig. Fußball ist auch so schon langweilig genug.

Als Hilfsbuchhalter stolpere ich oft über unterhaltsame Adressen. In Bremen existiert ein Erbrichterweg. Wahrscheinlich gibt es den Erb-Richter als Berufsbezeichnung, ich aber lese die Frage: Erbricht er? In Delmenhorst gibt es eine Düsternortstraße. Es klingt erfunden, ist aber wahr. Wer dort lebt, hat sicher ein sehr sonniges Gemüt.
Die lustigsten Adressen findet man in der Schweiz. Hier prüfe ich oft nach, ob sich jemand bei seinem Eintrag verschrieben hat, weil ich mir nicht vorstellen kann, dass es sich um eine tatsächlich existierende Anschrift handelt. Eine Gemeinde im Kanton Schaffhausen heißt Neuhausen am Rheinfall – natürlich mit h, aber trotzdem. Auch Dicken bei Degersheim (Gemeinde Mogelsberg) oder Bitsch im Wallis sind schön. Die Schweizer haben Humor.
Manchmal beim Hilfsbuchhalten schmunzle ich über den Einfallsreichtum der Ortsnamenerfinder, selten lache ich sogar laut auf. So findet eben jeder in der Arbeit seine kleinen Momente einfachen Glücks, auch wenn man sie nicht immer mit jemandem teilen kann.

Eine Dokumentation über Corona-Geisterstädte, also Metropolen im Lockdown. Faszinierende Aufnahmen von menschenleeren Straßen und Plätzen, in Venedig auch von Brücken und Kanälen. Klares Wasser und Laute von Tieren, weder Rollkofferklackern noch Verkehrslärm. Niemand, nicht einmal die Vorväter, haben diese Orte jemals so gesehen. Der Virus hat einem überhitzten Wahnsinn den Stecker gezogen. Es war alles zu schnell und zu viel und zu laut. Die Welt holt Luft. Der Massentourismus hat sich selbst in die Sackgasse manövriert. Bald, wenn sich der Staub gelegt haben wird, setzt er sich ganz langsam und behutsam neu zusammen. Jeder wird wieder als Gast andere Orte besuchen, als Mensch, und nicht mehr als Tourist. Es werden weniger sein, die es dafür wirklich meinen. Es wird einen Grund geben, sich auf die Reise zu machen. Eine Zeitlang jedenfalls, bis wir es wieder vergessen. Die Bilder leerer Städte machen ruhig, beinah schläfrig. An einem Ort ohne Menschen herrscht ausnahmslos Frieden. Es wird helfen, sich hin und wieder daran zu erinnern. Das Blinzeln Londons, das Gähnen New Yorks.

Anleitung für Nachgeborene: Im Fastfoodrestaurant wird am Touchscreen eines Automaten bestellt. Man tapst mit den Fingern auf einem Bildschirm herum, den zuvor unzählige andere Leute berührt haben. Später wird man Burger und Pommes Frites essen, ohne sich dazwischen die Hände gewaschen zu haben.
Nach dem Bestellvorgang bezahlt man an der sogenannten Kioskkassa. Dort wird einem ein Bon mit seiner Abholnummer ausgehändigt. Für die Wartenden steht eine auf Hüfthöhe angebrachte Polster-Schräge zur Verfügung, ein mit massiven Eisenstangen im Restaurantboden fixierter Polsterschwung. Ich nenne es das Lümmel-Möbel. Hier lehnen die Wartenden vereint in konzentrierter Langeweile und freuen sich aufs Erscheinen ihrer Nummer am über den Köpfen montierten Bildschirm. Das Lümmeln passt zur Laschheit der angebotenen Speisen.

So grundlos zornig, dass man versehentlich mit der Kaffeetasse den Rand der Porzellanschüssel abschlägt, die zum Abtropfen neben der Abwasch liegt.

Jemand am Handy starrt verbissen in sich selbst.

Einmal rief mich mein falscher Neffe im Volksschulalter an. Er benutzte das Telefon seiner Mutter. Ich erklärte ihm, es sei um mich herum gerade sehr laut, denn ich war unterwegs, gleich müsse ich in die U-Bahn einsteigen, ich wolle nämlich in die große Bücherei. Warum?, fragte er. Weil ich mir neue Bücher ausborgen will, sagte ich. Warum?, fragte er. Weil ich die alten schon ausgelesen habe, sagte ich. Mein Neffe war hörbar verwirrt. Tust du die nicht selber erfinden und so?, fragte er. Schon, sagte ich, aber ich mag ja auch Bücher von anderen lesen, das macht mir Freude. Und mein Neffe sagte: Nein.

Jemand ist als Mensch gut sortiert.

Gehen in der Sonne leuchtet ein.

Die Krückenfrau sitzt wieder an ihrem Platz in der Bäckerei und trinkt einen Kaffee.

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71 Dienstag, 26.05.2020

Unerbittlicher Begriff: Referenzszenario

Im Traum schreibt mir ein Bekannter, über den kommenden Sommer genieße er erst einmal die Große Freiheit. Aber das ist doch eine Straße, denke ich.

Beim Abgang zur U-Bahn ein Mann, an dem etwas nicht stimmt. Weird kommt mir als Wort in den Sinn. Es braucht ein paar Sekunden, bis ich dahinterkomme, was mich an seiner Gegenwart so irritiert: Er nimmt beim Hinuntergehen zwei Stufen auf einmal; ein Verhalten, das bei der umgekehrten Richtung, also beim Hinaufgehen, nicht bemerkt werden würde. (Bei Kindern ist ein mühevoller Satz über zwei oder sogar drei bis vier Stufen gleichzeitig ein beliebter Sport.)
Sein Gehen sieht sehr unbeholfen und angestrengt aus, es ist kein natürlicher Vorgang, noch dazu klackern dabei seine Schuhsohlen. Ich attestiere seinem eiligen Bergabschreiten ein erhöhtes Unfallrisiko und mache mich darauf gefasst, ihm für seine blutige Nase ein Taschentuch reichen zu müssen. Ich greife in die Hosentasche und hole sicherheitshalber eine Packung hervor. Der Mann ist Brillenträger, es bleibt also zu hoffen, dass beim Sturz das Glas nicht zersplittert und in seine Augen eindringt. Ich sehe ihn erblinden.

Einmal fragte mich die Schnitzelfrau – bei der ich mir jeden Montag ein Schnitzel mit Pommes Frites hole –, ob ich bei der Bücherei arbeiten würde, denn sie habe mich dort im Vorbeigehen schon öfter gesehen. Ich verneinte, war jedoch unheimlich stolz auf dieses Missverständnis, zeigt es doch, dass ich ausreichend Zeit an diesem Ort verbringe, um für einen Bibliothekar gehalten zu werden. Heute war ich das erste Mal seit Wochen wieder in der Bücherei, und alles wirkte noch ein bisschen fremd.
Im Türbereich gibt es zwei abgetrennte Spuren für Betreten und Verlassen der Filiale, fußförmige Bodenmarkierungen zeigen die Gehrichtung an, was reichlich übertrieben wirkt. Hinter einer großen Flasche Desinfektionsmittel ist eine Empfangsdame postiert, die bei Bedarf Einwegmasken verteilt. Sie sieht sehr jung aus, wahrscheinlich eine Jugendliche, die hier ihre Lehre absolviert. Die (echten) Bibliothekare tragen Schutzvisiere aus Plexiglas, was jeder Interaktion am Schalter den Anhauch des Verbotenen und Gefährlichen verleiht. Ich begnüge mich mit den einfach zu bedienenden Automaten, gebe einen lang ausgeborgten Kurzroman zurück, entleihe ein Sachbuch über das digitale Leben samt Aufruf zum Nachrichtenverzicht. Unterwegs lese ich ein bisschen hinein und merke, wie schon im ersten Kapitel die Entzugserscheinungen abgemildert werden. Ich stelle mich ein auf einen Sommer des Lesens.
Die Bücherei gehört noch nicht ganz wieder mir, doch ich werde sie mir als Ort zurückerobern, Tag für Tag und Buch um Buch. Und irgendwann wird mich die Schnitzelfrau fragen, ob ich mittlerweile nicht doch eine Stelle dort angenommen habe. Darauf arbeite ich hin.

Frühling ist die Zeit der Allergien. Die Stoffmaske sperrt Mund und Nase im Niesreiz ein. Juckender Mundwinkel, kitzelndes Augenlid. Rachenbrennen, dass man wüst hineinfahren und sich kratzen mag.

Ich erinnere mich an den Anblick des Nachbarn im Gegenüberhaus, wie er nach wenigen Tagen der Quarantäne bloß bekleidet mit einer Unterhose regungslos im abgedunkelten Wohnzimmer stand. Er wusste nicht, wohin mit sich. Eine Zeitlang stand er so, vielleicht zwanzig Sekunden, und horchte gebannt in die Stille. Ich schaute weg und ließ ihn stehen. Als ich später meinen Blick abermals auf die Nachbarswohnung richtete, hatte er ein Smartphone in der Hand. Verdunkel dich nicht, wollte ich über die Straße rufen, von Nacht zu Nacht.
*
Eine Nachbarin im selben Gegenüberhaus, allerdings in einer anderen Wohnung, hat an einem der ersten Tage der Quarantäne energisch Fenster geputzt. Sie stieg dazu auf eine Leiter, und ich machte mir Sorgen, dass sie hinunterfallen könnte, was jedoch nicht geschah. Es war schwül und sie putzte sich den Ärger aus dem wendigen Körper. Sie wusste sich von mir beobachtet. Den Unterhosenmann kennt sie nicht. Würde man eine Wand durchbrechen und ihre Wohnungen zusammenlegen, kämen sie gut miteinander aus. Ich denke die beiden zum Paar.

Eine Art Friseursalon, in den Leute gehen, um sich die Ohren abschneiden zu lassen, also eigentlich ein Ohr-Salon. Dort arbeitet ein Friseur, der den Leuten die Ohren abschneidet, aber manchmal aus Versehen ihre Haare erwischt, weil er so ungeschickt ist. Der hat zwei linke Hände, sagt man. Alle setzen sich brav hin, um sich ein Ohr oder beide Ohren abschneiden zu lassen. Die Ledersitze sind verstellbar und bequem. Jemand betritt den Salon und legt die Jacke ab. Ein Lehrlingsmädchen weist ihm einen Platz an der Spiegelfront zu. Es trägt eine abwaschbare Schürze.
Der Friseur ist ein quirliges Kerlchen, dem seine Arbeit trotz der Ungeschicklichkeit große Freude bereitet. Schon als Kind hat er anderen gern die Ohren abgeschnitten. Er redet zu viel, erzählt gern aus seiner einprägsamen Vergangenheit und von seiner ausländischen Familie. Richtige Friseure findet er lächerlich. Also, was die da immer mit den Haaren anstellen, lästert er und verzieht dabei angewidert den Mund. Jemand sagt dazu gar nichts. Er ist zum ersten Mal hier und noch recht unsicher beit dieser Art von Behandlung. (Für Ohr-Salons ist es schwierig, sich eine Stammkundschaft aufzubauen.) Ich habe einen anderen Anspruch, sagt der Friseur mit einem unmerklichen Lispeln. Wer lispelt, steht auf Männer, denkt jemand und erliegt seinem Vorurteil.
*

Man müsste die Leute für unmündig erklären, sagt der Friseur ohne Lispeln, jedenfalls was ihren Kopf angeht. Am besten solle den Leuten verboten werden, selbst zu bestimmen, wie damit verfahren werde. Die Verantwortung über Köpfe müsse an Experten übertragen werden, die sich ihr Leben lang mit nichts anderem auseinandergesetzt hätten als damit, wie bei der Ausübung ihres Handwerks der höchste Grad der Vollendung zu erlangen sei.
Jemand weiß, dass der Friseur dabei an sich selbst denkt. Weiß er von den zwei linken Händen? Das Lehrlingsmädchen ist grün im Gesicht. Jemand unterschreibt eine Einverständniserklärung. Der Friseur sagt, dass jetzt alles amtlich sei. Er streichelt die Schere. Jemand stammelt etwas Unverständliches. Ich weiß, es hat Ihnen die Sprache verschlagen, sagt der Friseur. Dann sagt er: Legen wir los.

Nach einer rastlosen Nacht und einem Tag, an dem kaum Zeit bleibt, ein paar gehetzte Bissen hinunterzuwürgen, sich die Nahrungszufuhr weitgehend auf Trinken beschränkt – zu wenig Wasser und zu viel Kaffee –, dass sich der Magen schon nervös zusammenkrampft, nach so einer Nacht und so einem Tag geschehen unterwegs seltsame Dinge, zum Beispiel eine am Bahnsteig stattfindende und nur Gesichter betreffende Halluzination. Manche Menschen sind erstaunlich blass. Leichenblass, fast weiß. Beim ersten Mal denkt man noch, es ist das sparsame Stationslicht, das ihnen einen derart ungesunden Teint verleiht, doch beim zweiten Mal schließt man diesen Zusammenhang aus. Man wird stutzig. Hat sich da jemand in der Früh mit dem Puder vertan? Die Menschen sind hell wie Haut. Beim dritten Mal wird klar, die Gesichtsblässe der anderen liegt an einem selbst. Um die Halluzinationen abzustreifen, braucht es Schlaf und regelmäßige Mahlzeiten.

Jede Großstadt macht ihre Bewohner anders müde.

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70 Montag, 25.05.2020

Der Arzt-Freund wendet sich in höchster Not an mich. Er steht in der Straßenbahn, vor sich eine eben geöffnete Bierflasche. Was er jedoch nicht bedacht hat: Dass er gezwungen ist, eine Maske zu tragen, die jeden Schluck aus der Flasche verunmöglicht (ein mittig eingestanztes Löchlein für den Strohhalm täte hier not.) Er bebildert die Verzagtheit mit einer sehr reduzierten Foto-Lovestory bestehend aus zwei Bildern.
Bild 1: Die offene Bierflasche.
Bild 2: Sein maskiertes Gesicht.
Bildunterschrift: Das war nicht wohl durchdacht …
(Die vom Wörterbuch empfohlene Schreibweise lautet wohldurchdacht, alternativ ist die von ihm gewählte jedoch ebenfalls zulässig.) Flaschenhals und bedeckter Mund als sehnsuchtswunde Romeo und Julia: Kein stoffern Bollwerk kann der Liebe wehren / Und Liebe wagt, was Liebe irgend kann.
*
Das Karomuster der Alltagsmaske verleiht ihr eine schottische Anmutung, was durch die Farbpalette noch verstärkt wird; gefertigt wurde sie aus alten Boxershorts, also von kundiger Hand umgeschneidert. Hätte man die Unterwäsche in der ursprünglichen Form belassen und ihr lediglich seitwärts Gummibänder angetackert, könnte man sie zweierlei Verwendungen zuführen, sie also nahtlos wechseln lassen zwischen Gesäß und Gesicht – eine Unterscheidung, die bei manchen Vertretern der Spezies Mensch nicht allzu sehr ins Gewicht fällt (ich denke hier spontan an Funktionäre und Wähler rechtspopulistischer Parteien oder Enkeltrickbetrüger). Ein entsprechender Prototyp harrt seines Einsatzes – patent pending.
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Ich gebe zu bedenken, dass es zwar schade ist, auf den Genuss des frischen Bieres in der Straßenbahn verzichten zu müssen, es jedoch ohnehin verboten wurde, bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel alkoholische Getränke mit sich zu führen. (Letztes Jahr muss das gewesen sein.) Würde der Arzt-Freund sich also zu einem ungenierten Schluck aus der Flasche hinreißen lassen, machte er sich gleich in doppelter Hinsicht schuldig, einerseits durch das Verrücken der verpflichtenden Maske, andererseits durch das Getränk. (Fehlte nur noch der herzhafte Biss in eine Wurstsemmel oder jegliche andere Speise, deren Verzehr ebenfalls – letztes Jahr? – verboten worden ist.)
Bei mir schrillen alle Alarmglocken, ich prophezeie eine umgehende Amtshandlung durch den Innenminister persönlich, genauer gesagt eine Heimsuchung. Der Arzt-Freund jedoch ist der Meinung, er habe ja nichts getrunken, und damit sei alles kosher (der Duden sagt koscher). Ich beharre darauf: Der Transport von alkoholischen Getränken ist sträflich untersagt. Der Arzt-Freund konsuliert die offiziellen Verhaltensregeln der Wiener Linien und gibt Entwarnung: Es ist der Konsum, der unter peinlichster Strafe steht! Ich bin reichlich verwirrt, habe ich doch schon offene Bierdosen während der U-Bahn-Fahrt schamvoll in der Jackentasche festgehalten und erst nach dem Aussteigen wieder vorgezeigt. Das wäre also gar nicht nötig gewesen, man muss in flagranti erwischt werden, im eigentlichen Akt des Trinkens, die Lippen müssen den Flaschenhals – oder die Trinköffnung der Dose – klar umschließen. Der damit geschaffene Graubereich ist bedenklich, Anarchie scheinen Tür und Tor geöffnet.
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Ich bin ein großer Freund des überschießenden Verbots und der drakonischen Strafe. Wenn es nach mir ginge, sollten auch geringe Verfehlungen sehr streng geahndet werden. Auf der Rolltreppe nicht rechts stehen – Todesstrafe. Auf den Boden spucken – Todesstrafe. Beim Zähneputzen den Wasserhahn aufgedreht lassen – Todesstrafe durch Ertrinken. Todesstrafe für öffentliches Zehennägelschneiden. Todesstrafe für Lautsprechertelefonie. Todesstrafe für Manspreading.
Ein Bekannter schickte mir einmal eine Kurznachricht: er sehe jetzt endlich jenen Film, von dem ich ihm vor Wochen so begeistert erzählt habe. Ich wünschte ihm gute Unterhaltung. Später antwortete er, dass der Film ihm derweil sehr gut gefalle. Mit jetzt meinte er also jetzt, in diesem Moment. Er saß im Kinosaal und schrieb am Handy herum. Ich schimpfte mit ihm und forderte ihn auf, das Handy sofort wegzulegen, dabei hoffte ich, dass er mir darauf nichts mehr zurückschreiben würde. Als Antwort erhielt ich ein paar Mal Tränenlachen, sowie ein gehorsames Aye aye, sir! – die klassische Entgegnung auf einen Befehl in der Seefahrt. Das Kino ist ein heiliger Ort. Todesstrafe auf Handy-Benutzung. (Bei jeder Forderung nach der Todesstrafe schwingt vorerst noch ein gewisses Augenzwinkern mit.)
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Ich frage mich, warum ich so gut aufgelegt bin, denn dafür gibt es keinen Grund. Auf den Straßen Wiens nimmt das Unglück seinen Lauf. Ein durstiger Arzt fährt Straßenbahn.

Nachdenken über die unbestrittenen Vorzüge der Distanzgesellschaft.

Schirm-Shopping nur bei gutem Wetter.

Video-Interview mit einem niederländischen Tenor. Ausgebildete Opernsänger haben eine groteske Sprechstimme, die noch gekünstelter ist als ihr Gesang. Sie sitzt unangenehm tief, klingt seltsam offen und voll. Opernstimmen besetzen jeden Raum, den sie bespielen, dringen in all seine Ritzen ein, und drücken die anderen gegen die Wand. Eine weiche Gewalt. In den Worten schwingt ein Lächeln mit, das der geschulten Lippenspannung dient. Nichts scheint je ganz ernst gemeint, alles ist knapp daneben gesagt. Der Stimmenklang dröhnt warm in den Ohren. Opernsänger können singen, es klingt falsch. Opernsänger können nicht sprechen.

Draußen herrenlose Zischlaute – jemand spricht in Zungen.

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69 Sonntag, 24.05.2020

Taxifahren sollte man nur in Ausnahmefällen: Wenn man es schrecklich eilig hat und dringend irgendwohin muss; wenn man eine Verletzung hat, zum Beispiel ein Gipsbein, und mit Krücken unterwegs ist; wenn man etwas transportieren muss, was mit den öffentlichen Verkehrsmitteln kaum zu bewerkstelligen ist (ich habe schon einen marmornen Kaffeehaustisch und ein Stagepiano in der U-Bahn befördert, das Klavier war laut Produktdetails des Herstellers zwanzigeinhalb Kilo schwer, die Marmortischplatte samt Stahlfuß sogar dreiundzwnzig Kilo. Lustig war beides allerdings nicht); wenn man so betrunken ist, dass man nicht mehr geradeaus gehen kann; wenn einem so schlecht ist, dass man Sorge hat, sich am Heimweg übergeben zu müssen (vielleicht sollte man aber gerade dann nicht Taxifahren); wenn es stark regnet und man nach wenigen Minuten klatschnass sein würde.
Ein anderer Grund fällt mir gerade nicht ein. Jedenfalls sollte man auf keinen Fall aus reiner Bequemlichkeit oder Ungeduld Taxi fahren. Dafür ist es einfach zu teuer. (Man sollte auch nichts aus der Minibar nehmen, bloß weil man faul im Hotelzimmer lümmelt und Lust auf gesalzene Erdnüsse hat; die hätte man sich in wesentlich größerer Menge und zu einem normalen Preis vorher im Supermarkt besorgen können. Die subtile Trennlinie zur Dekadenz.) Gleiches gilt für die bekannten Beförderungs-Apps.
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Dass die Nacht-U-Bahn noch immer nicht wieder fährt, ist mir entgangen. Deshalb bin ich nachts von der Station Hietzing heimspaziert, aus dem dreizehnten in den dritten Bezirk, was ungefähr eineinhalb Stunden gedauert hat. Das Handy als praktischer Wegfinder und treuer Verbündeter des Nachtgängers. Den blauen Pfeil des Navigationssystems habe ich dabei immer wieder überholt, schlussendlich erreichte ich mein Ziel zwölf Minuten vor der ursprünglich geschätzten Ankunftszeit. Es war ein Wettlauf gegen die Gewissheiten der elektronischen Karte.
Eine Spur flotter gewesen zu sein, als von einem internationalen Technologieriesen veranschlagt, erfüllte mich mit einer tiefen – wenn auch unbegründeten – Befriedigung, wohl sogar mit einer Art von Schadenfreude, die unfehlbaren Algorithmen des übermächtigen Milliardenunternehmens in die Schranken gewiesen zu haben.
Meine Gehgeschwindigkeit, im Durchschnitt und in Teilsegmenten der Strecke, sowie meine Route, die folgsame Linientreue und die anarchische Abweichung – all das wird ins Datengeflecht des Konzerns eingespeist, um das System zu verfeinern. Auch ich bin ein Tropfen Code im binären Meer, ein Informationsteilchen unter vielen.
Später werde ich mich an Details der Nacht erinnern, denn zum Mitnorieren hatte ich weder Zeit noch Lust. Später wird mir einfallen, was ich zwischen Hietzing und Rochusmarkt gesehen, gehört und gedacht habe. Am Heimweg hat es leicht genieselt, was erfrischend war.

Die unstillbare Sehnsucht, von sich selbst überrascht zu werden.

Ich erinnere mich an die berühmten vier Gründe, hinauszugehen, wie sie uns vor einigen Wochen, zu Beginn der großen Quarantäne, auf Pressekonferenzen in mündlicher und durch ministerielle Aussendungen in schriftlicher Form gebetsmühlenartig eingetrichtert worden sind.
Erstens: Berufsarbeit, die nicht aufschiebbar ist.
Zweitens: Für notwendige Besorgungen wie Lebensmittel und Medikamente.
Drittens: Um anderen Personen zu helfen.
Viertens: Spaziergänge und sportliche Betägigung.
Ich erinnere mich, wie ich mir gedacht habe: Das sind doch alle Gründe, um hinauszugehen.
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Dann ist mir eingefallen, dass hier natürlich der Besuch von Restaurants und Lokalen sowie der Besuch von Konzerten oder anderen Veranstaltungen fehlen – doch für diese gab es ohnehin keine Möglichkeit. Weiters ist mir eingefallen, dass auch das Treffen von Freunden und Bekannten dezidiert ausgeschlossen wird – jedenfalls das Betreten des öffentlichen Raums mit dem Ziel, jemanden zu treffen. Denn der Besuch von Freunden selbst war niemals verboten, wie im Nachhinein offen einbekannt wurde.
Jetzt denke ich mir, dass man also hätte hinausgehen dürfen, um sich die Beine zu vertreten, damit einem nicht die Decke auf den Kopf fällt, und während man so herumspaziert wäre ohne etwas Böses im Schilde zu führen, hätte einem der Gedanke kommen können, einen Freund zu besuchen. Damit ist ein Schalter umgelegt, und mit einem Mal besteht ein Vorsatz. Vielleicht nimmt man das Telefon aus der Hosentasche und ruft jemanden an, um etwas auszumachen, weil man vorbeikommen will. Vielleicht macht man etwas aus und bewegt sich – durch den öffentlichen Raum – gezielt in die Richtung der Wohnung. Das Gehen ist mit einem Mal verboten geworden, denn es ist ein anderes Gehen, nämlich eines in Richtung des Menschen. (Dieser Gedanke ist sehr interessant, aber auch traurig.)
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Den Nachweis des verbotenen Gehens muss ein Fremder erst einmal erbringen. Solange unsere Gehirnströme noch nicht zweifelsfrei visuell abbildbar und die Gedanken frei sind, ist man aus dem Schneider. Ich weiß nicht, inwiefern diese laienhaften Ausführungen juristisch gedeckt sind und erwarte mir aufschlussreiche Richtigstellungen von einer kompetenten Entscheidungsinstanz wie dem Verfassungsgerichtshof. Der Vorsatz, dich zu sehen – so beginnen doch Liebesgedichte; schnörkellos und herzergreifend schlicht. Ich erinnere mich, dass ein sehr guter Grund fürs Hinausgehen immer war, nicht mehr drinnen zu sein.

Wie sich der Obdachlosenzeitungsverkäufer unmerklich vor der respektvoll ablehnenden Passantin verbeugt.

Der österreichische Bundespräsident sitzt mit seiner Ehefrau zwanzig Minuten nach Mitternacht im Schanigarten eines italienischen Innenstadtrestaurants (Nobelitaliener steht auf den Nachrichtenportalen; allein die Tatsache, dass es eine Artikelflut samt knalliger Überschriften wert ist, verdeutlicht die Seltsamkeit der Zeiten.) Um dreiundzwanzig Uhr wäre die gesetzlich verordnete Sperrstunde gewesen; eine Regelung, die von Anfang an für Unverständnis gesorgt hat, deren Sinnhaftigkeit mit Kopfschütteln in Zweifel gezogen wurde.
Die wichtigen Gäste sitzen vor Getränken, als eine Polizeistreife ihre Personalien aufnimmt. Der Restaurantbesitzer sagt, sein Betrieb sei „geschlossen“ gewesen, für ihn wohl ein sehr dehnbarer Begriff. (Wer durfte nicht knapp eineinhalb Stunden nach Sperrstunde noch gemütlich sein Bier austrinken und danach die Gläser einfach draußen stehen lassen als Geschenk an die Launen der Stadt?) Er habe sich auch ein bisschen dazugesetzt, sagt der Wirt, bei den beiden handelt es sich um liebgewonnene Stammgäste, die ein bisschen gleicher sind als dahergelaufene Normalbürger. (Plötzlich scheint so vieles unsere Aufregung wert; wo ist die Verhältnismäßigkeit der Empörung? Vielleicht weiß es der konkursgefährdete Clubbetreiber.)
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Der österreichische Bundespräsident sagt, er habe sich verplaudert, weder er noch seine Ehefrau hätten also bemerkt, dass jenes Restaurant, in dessen Schanigarten sie gesessen sind, bereits eine Stunde und zwanzig Minuten zuvor geschlossen worden war. Auch wäre niemandem aufgefallen, wie spät es ist. (Auch im Beraterstab trägt keiner eine Uhr.) Dass er schwindelt, weiß er selbst.
Vielleicht war es so: Der österreichische Bundesprädient und seine Ehefrau haben sich, genauso wie der befreundete italienische Nobelwirt, über die derzeit geltenden Bestimmungen bewusst hinweggesetzt – weil sie lächerlich sind. Schön wäre aber, wenn sie für alle gleich lächerlich wären, wenn die Sperrstundenregelung aufgeweicht und man es Nachtlokalen gestatten würde, sinnvoll weiterzumachen. (Selbst wenn der Lokalbesuch nahtlos in ein gemütliches privates Beisammensitzen übergegangen ist, sollten Amtsträger die von ihnen getragenen und eingeforderten Maßnahmen übererfüllen, um sich kein Glaubwürdigkeitsproblem einzuhandeln.)
Als Staatsbürger könnte man sich hinreißen lassen zur Aussage: Der österreichische Bundespräsident ist ein Heuchler – sonst aber ein integrer und in seiner schelmischen Gelassenheit hochsympathischer Mensch. Doch allein daran zu denken, wäre lächerlich. Lassen wir es gut sein, denke ich, und lassen wir den Leuten ihre Nacht.

Jemand inszeniert eine Verfehlung, bei der er sich absichtlich erwischen lässt. Das wirbelt einigen Staub auf. Gehen wir von einem Prominenten oder sogar einem Politiker aus: Er und sein Team lassen jetzt die Medienmuskeln spielen und zeigen, wie gut sich jemand entschuldigen kann. Das bringt beim Publikum, dem Wähler, Bonuspunkte. Oft kann es nützen, der Böse zu sein, ist es doch die Vorstufe zum glorreichen Comeback. Dieser Schuss kann nach hinten losgehen. Unterschätzt man die gravierenden Vertrauenseinbußen durch die Verfehlung oder überschätzt man die eigene Fähigkeit, der Geschichte einen neuen Spin zu geben, kann der Imageschaden irreparabel sein. Ein gefährliches Spiel mit dem Feuer, das nur spielen sollte, wer auch über die Mittel verfügt, es zu gewinnen.

Erst unterwellte, dann durchgestrichene Notiz, verewigt in ihrer anhaltenden Vorläufigkeit: Zahlenfetischismus und Gesundheitshörigkeit auf Kosten aller übrigen Lebensbereiche? Haben wir verlernt, dass Menschen sterben?

Erinnerungen an den eigenen Tod.

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68 Samstag, 23.05.2020

Arztbesuch

Der Patient wurde aufgerufen. Hüftsteif schlurfte er an der Sprechstundenhilfe vorbei ins Behandlungszimmer. Der Arzt erwartete ihn mit gespieltem Interesse.
– Machen Sie es sich bequem.
– Danke.
– Wo drückt uns denn der Schuh?
Der Patient seufzte.
– Ich habe Corona.
– Sie haben was?
– Nicht was, sondern wen.
Der Arzt beugte sich vor, nun mit ehrlicher Neugier.
– Wen haben Sie?
– Corona.
– Sind Sie sicher?
– Ziemlich.
– Ist es akut oder chronisch?
– Beides.
Der Arzt nickte ernst.
– Akut chronisch oder chronisch akut?
– Wo liegt denn der Unterschied?
– Ist es chronisch akut, dann spüren Sie es kurz und stark, das aber ständig, ist es akut chronisch, dann spüren sie es ständig, dafür aber kurz und stark.
Der Patient dachte angestrengt nach.
*
– Naja, wie auch immer, murmelte der Arzt, wodurch äußert sich Corona bei Ihnen denn?
– Also …
Der Patient holte tief Luft, als würde er zu einem langen Sermon ansetzen.
– Hier drückt es. Und hier auch. Und oft auch da.
– Oje.
– Und beim Fuß …
– Der Fuß auch?
– Der ganz besonders! Vor allem am großen Zeh. Und das ist erst der Anfang. Mein Rücken ist verspannt. Dazu Konzentrationsschwierigkeiten und Schlafstörungen. Appetitlosigkeit wechselt sich mit Heißhunger ab, dazwischen Bauchweh. Gleichgewichtsstörungen und Schwindelgefühl. Seekrankheit auf Rolltreppen und in Aufzügen. Nervöses Fingerzucken und Sesselwippen. Anhaltende Ungeduld. Schüttelfrost und Schweißausbrüche. Halskratzen und Husten. Niesreiz. Starker Schläfendruck. Handrückenjucken. Kniekehlenstechen. Schulterblattbrennen.
Der Arzt notierte im Kopf andächtig mit.
– Wenn ich mit anderen spreche, dann oft mit verstellter Stimme, das bin irgendwie nicht ich, der da spricht. Auf kein Buch kann ich mich konzentrieren, auf die Arbeit schon gar nicht. Ich lege Listen an, die mir helfen, mein Leben zu organisieren. Plötzlich schmeckt mir Wodka mit Eistee. Seit ein paar Wochen interessieren mich die Sonntagszeitungen nicht mehr, die ich mir über Jahre unbedingt besorgen musste. Ich verwechsle Handgriffe, drücke mir ein bisschen Zahnbürste auf die Zahnpastatube und fahre mir damit in den Mund. Neulich wollte ich mir zuerst eine Tasse in den Kaffee leeren, dazu noch der Doughnut … die Sauerei können Sie sich ja vorstellen. Die Wäsche wasche ich im Geschirrspüler und die Teller in der Waschmaschine.
– Auf Dauer wird das teuer.
– Wem sagen Sie das. Alles ist entweder zu viel oder zu wenig, zu langsam oder zu schnell, zu leise oder zu laut. Ihre Wand hier ist mir viel zu weiß, ihre Nase nicht groß genug, und mein beschissener Pullover ist mir zu grün. Oder nicht grün genug, was weiß ich. Mein Herz macht viel zu viele Schläge, deshalb trinke ich literweise schwarzen Kaffee, um ein bisschen runterzukommen. Irgendwie ergibt das Sinn. Jedenfalls geht es so nicht weiter. Sie müssen mir helfen.
Der Arzt wühlte nachdenklich im Bart.
*
– Bitte, Herr Doktor, was können Sie mir raten?
Er kramte nach seinem Rezeptblock.
– Ich werde Ihnen etwas verschreiben.
Erleichtert hopste der Patient von der Krankenliege.
– Wunderbar, dann wird es bestimmt bald wieder besser. Was gibt es denn Gutes? Remdesivir? Ritonavir? Hydroxychloroquin?
– Nichts dergleichen.
Der Patient runzelte skeptisch die Stirn.
– Ich vermute, dass Corona bereits restlos die Kontrolle über Ihren Organismus übernommen hat. Das Immunsystem ist hier dezidiert miteingeschlossen. Auf jede Prozedur, um die Ausbreitung von Corona einzudämmen bzw. im weiteren Verlauf Corona abzustoßen, wird Ihr Körper mit den schärfsten Gegenmaßnahmen reagieren. Jeder dahingehende Versuch wäre aussichtslos und sogar kontraproduktiv.
Der Arzt schüttelte betreten den Kopf.
– Ihnen bleibt eigentlich nur eine einzige Therapiemöglichkeit.
– Und die wäre? Helfen Sie mir doch bitte, zu verstehen …
– Die endgültige Akzeptanz des Befalls mit Corona. Sie müssen die Waffen strecken, sich geschlagen geben. In Corona haben Sie einen Gegner, der stärker ist als Sie. Ihnen wird nichts anderes übrigbleiben, als mit Corona in eine Art symbiotische Existenz einzutreten, sich mit der Diagnose zu arrangieren.
Der Patient musste das alles erst einmal verdauen.
– Fälle wie Ihrer sind mir durchaus schon untergekommen.
Wahnsinn blitzte in den Arztaugen auf.
– Also, dozierte er, ich verschreibe Ihnen hiermit eine hohe Dosis Corona.
– Wie bitte?
– Ja, ganz Recht. Gegen akut chronische oder chronisch akute Corona hilft am allerbesten eine strikte Corona-Kur, verbunden mit einer strengen Corona-Diät. Ich verordne zwanzig Tropfen Corona, jeweils in der früh direkt nach dem Aufstehen, mitttags nach dem Essen und abends vor dem Schlafengehen. Außerdem sollten sie regelmäßig einen Corona-Wickel machen. Hierzu verwenden Sie eine Faustvoll Corona, die Sie leicht erwärmen und sich in die Beine massieren. Unbedingt nötig sind heiße Bäder mit ätherischem Corona-Öl. Desweiteren empfehle ich regelmäßiges Gurgeln mit Corona. Ich gebe Ihnen eine hochkonzentrierte Corona-Salbe mit, die können Sie sich in die Schläfen reiben, was zu einer Linderung des durch Corona ausgelösten Kopfwehs führen sollte. Erforderlich ist die absolute unablässige Nähe zu und Einnahme von Corona in möglichst hoher Dosis. Glauben Sie mir: Zu hoch kann die Corona-Dosis für Sie gar nicht sein!
Der Wahnsinn blitzte wieder auf.
*
– Ja, aber, stammelte der Patient, das kann es doch nicht geben. Sie können als Kur für Corona doch nicht einfach Corona verschreiben. Immer noch mehr und noch mehr Corona. Das hört ja alles nie mehr auf.
– Tja, das hätten Sie sich wohl überlegen müssen, bevor Sie sich Corona eingefangen haben.
– Aber, Herr Doktor, ist das denn nicht … – er traute sich kaum, es laut auszusprechen – … ist das denn nicht verrückt?
Der Arzt lachte auf. Unwirsch riss er den Zettel vom Rezeptblock und drückte ihn dem Patienten in die Hand.
– Das liegt im Auge des Betrachters!
– Aber wenn es verrückt ist, Herr Doktor, sind denn dann Sie nicht verrückt, mir all das zu verschreiben?
Das erboste den graubärtigen Arzt.
– Ich ganz sicher nicht! Wenn, dann sind doch wohl Sie verrückt, sich Corona einzufangen! So ein undankbarer Bengel …
Der Arzt drückte die Tür auf und machte Anstalten, den Patienten unsanft hinauszubugsieren.
– Wie sind denn die Heilungschancen?
– Sie werden es schon überleben …
Der hinausstolpernde Patient schien von dieser Prognose nicht sonderlich beruhigt.
– Und wenn nicht?
– Gute Besserung!
Damit fiel die Tür zu.

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67 Freitag, 22.05.2020

Unerbittlicher Begriff: Öffnungsstrategie

So mancher blüht im Notstand auf, weil er ihn durchhalten oder sogar produktiv damit umgehen kann, was ein Überlegenheitsgefühl schenkt. Die Herausforderung setzt neue Energien frei, entsichert Kraftreserven, von denen man gar nicht wusste, dass es sie gab. Trotz aller Beschwernisse und Verwerfungen wird dem Ganzen etwas Positives abgewonnen. Und weil es also manche gibt, die in der Krise wachsen, wollen sie auch nicht, dass sie zu Ende geht – sie würden damit ihren Daseinsgrund verlieren.
Jeder Ausnahmezustand ist bis zu einem gewissen Grad herbeigesehnt. Der renommierte Experte hat nur teilweise Interesse an einer Rückkehr in den Normalzustand, selbst wenn es dafür stichhaltige Argumente gibt. Daran muss ich denken, als ich die achtunddreißigste Folge des vom Norddeutschen Rundfunk produzierten Podcasts mit dem unbestrittenen Ober-Virologen höre (unwidersprochen wollte ich ihn zuerst nennen, habe es dann aber gelassen). Ihm geht es in der Krise gut, auf eine Weise liebt er sie; ermöglicht sie ihm doch, seine Expertise einzubringen. Alle fragen ihn um Rat, und diesen kann er geben. Die Krise ist seine Kompetenz.
Fachlich sind die Ausführungen von hoher Qualität, sie dürfen nur nicht die einzige Maßgabe des Handelns sein. (Genauso wenig sollte man den Kreuzfahrtkapitän oder den Eventveranstalter als alleinige Einflüsterer einsetzen, auch nicht den in abstrakten Gefilden operierenden Philosophen. Etwas sagen oder denken geht sehr schnell, manchmal aber muss man etwas tun. Für die korrekte Gewichtung der Interessen braucht es eine übergeordnete Instanz; das wäre die Politik.)
*
Jeder handelt nach seiner Kompetenz. Fragt man einen Virologen oder eine Epidemiologin nach den bestmöglichen Verhaltensweisen im Alltag, um die Ansteckungsgefahr konsequent zu verringern, werden sie Begräbnisse abschaffen und Kinderbetreuung einschränken. (Der Ober-Virologe trinkt laut eigener Aussage grundsätzlich kein Fassbier in Lokalen; ich glaube, seit dem Studium.) Diese Empfehlungen können nur ein Element von vielen sein, ein Baustein im Konstrukt, das Entscheidungsfindung heißt. (Während einer eloquenten Diskussionsrunde muss ich daran denken, dass keiner der Entscheidungsträger die wirtschaftlichen Auswirkungen seiner Entscheidungen am eigenen Leib erfährt; auch kein Beamter, dessen Aufgabe es ist, die Krise zu verwalten. Wurden auch Staatsbedienstete in Kurzarbeit geschickt? Bekanntermaßen gibt es aber nicht allein die gesundheitliche oder ökonomische Dimension.)
Fragt man die Ernährungsberaterin, wie man ein hohes Alter erreicht, wird sie den Speiseplan des Normalsterblichen in einem Anflug von Vernunft auf ein unerträgliches Maß zusammenstreichen. Es ist ihre Kompetenz. Fragt man einen stunt driver, wie man unbeschadet durch die Fußgängerzone brettert, wird er seine Fahrkünste auspacken und eine Route ohne Poller finden. Es ist seine Kompetenz. Fragt man den Politiker, wie man in Umfragen vorne liegt, wird er zeigen, dass entschlossenes Handeln und Griffigkeit der Kommunikation bei den Menschen gut ankommen, und offensichtlich auch eine hermetische Männerbastion, die in Maßanzügen vor die Kameras tritt. Es ist unsere Wahl.
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Das Durchpeitschen von Gesetzesvorlagen ist zwar anstrengend und fordernd, aber auch geil. Wären die Politiker ehrlich mit sich selbst und gegenüber anderen, dann würden sie zugeben, wie berauscht sie davon sind, jeden Aspekt der Gesellschaft durch ihr Handeln zu formen. Genauso wie die Wissenschaftler in Beraterfunktion davon berauscht sind, dass ihre Sichtweisen nahtlos übergehen in Schriftsätze und Paragraphen, dass ausgehend von ihren Analysen Ordnungsstrafen verhängt und Betretungsverbote ausgesprochen werden.
Für jene, die in der Krise glänzen, darf sie ruhig ein wenig länger dauern. (Abwägungen geschehen insoweit, als dass auch Entscheider und Berater schulpflichtige Kinder haben oder gern einmal ins Kino gehen; ihr Durchhaltevermögen ist jedoch ein völlig anderes, auch dank sorgenfreier Finanzlage.) Wer mit der Situation in der ihm zugewiesenen Rolle souverän umgehen kann, wird eher bestrebt sein, sie aufrechtzuerhalten, als jemand, der seine Kompetenzen nicht einbringen darf. (Gästebewirtung und Trauerreden sind ausgeklammerte Berufungen. Auf Theaterarbeitern wird herumgetrampelt wie auf den Brettern, die nicht einmal ein bisschen Welt bedeuten; erste Linienflüge gehen vollbesetzt an die Mittelmeerküste, in den Opernsitzreihen herrscht viele Meter Sicherheitsabstand.)
*
Auch ich selbst merke, wie berauscht ich phasenweise davon bin, funktionieren zu können. Als Schreibender bin ich die kleinste Arbeitszelle, die es überhaupt nur geben kann; im Kern unabhängig von anderen. Ich bin ein einzelner Mensch, der mit Notizbuch und Bleistift alleine zu Hause sitzt oder umherstreunt, um Bilder und Ideen zu sammeln; in der Wohnung sind es andere als auf der Straße, manchmal fließt das eine ins andere über, die Draußen-Geschichten werden zu Drinnen-Gedanken. Niemand kann es mir nehmen; wer soll mich zwingen, es zu lassen? (Außer die Umstände.) In der weitergedachten Wahrheit natürlich bin ich sehr abhängig von anderen, von Verlagskomplizen und Veröffentlichungsorten und Vertriebswegen. Fallen Lesungen weg, geht ein Standbein verloren. Also weiterhumpeln, in verbissener Zuversicht.
Als Musiker gehört das Musizieren im Kein mir selbst. Eine Gitarre ist nicht schwer zu spielen, auch das Komponieren von Songs geht mit einiger Übung leicht von der Hand. Ohne Konzerte natürlich verhallen sie ungehört im Reich der eigenen vier Wände, eine Albumveröffentlichung geht schonungslos ins Leere. Dabei klingen die Lieder nach mehr. Hier endet das eigene Funktionieren.
Es kann auch anstrengend sein, monatelang für etwas in den Startlöchern zu stehen, bei dem man nicht weiß, ob dafür jemals der Startschuss ertönt. Auf Dauer geht das ins Kreuz (vor allem, wenn man rundum in anderen Diszplinen längst bei der Siegerehrung angekommen ist). Und wer hat eigentlich gerade die Pistole in der Hand?
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Ein medienerprobter Systembiologe und Modellierer in einer spätabendlichen Talkshow: Jetzt geb ich irgendwas wieder, was nicht genau meine Expertise ist, aber ich versuch’s mal.

Im Wegfall von Einkommensquellen offenbaren sich neue Möglichkeiten des Verzichts.

Vor dem Grillfest ein paar Tage Bierdurst ansparen.

Ach, wie uns alle immer vor uns selbst retten wollen!

Was ist schon in sich geschlossen? Ich jedenfalls nicht.