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45 Donnerstag, 30.04.2020

Es gibt keine Sätze mehr.

Für etwa eine Woche habe ich alle Länder der Erde bereist, um mir einen Überblick zu verschaffen. Und nun, erschöpft zu Hause angekommen, ist die Sprache verschwunden. Ich habe mich in ein mir fremdes Vokabular begeben, jenes des Journalismus und der Wissenschaft und der Politik, ein technisches Vokabular, das die Menschen, um die es geht, nur vom Hörensagen kennt, und dann nur als den menschlichen Aspekt. Eine Woche lang habe ich in einer distanzierten Faktensprache gelebt, in der ich mich nicht recht zu Hause fühlen kann. Das hinterlässt im Kopf seine Spuren. Mir ist aufgefallen, dass ich mich von den Dingen entfernt habe. Ich kann keine Sätze mehr bilden.
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Ich habe mir Daten und Fakten zusammengeklaubt aus den hintersten Winkeln der Berichterstattung, und selbst nichts mehr zu sagen. Es war ein Herbeischaffen von wahrgeglaubten Informationsfitzelchen, denn bestätigen oder abstreiten kann ich sie nicht, nur kritisch hinterfragen. Es war die Arbeit des Büromenschen, der grauen Maus im Außenministerium, des niedersten Analysten beim Geheimdienst. Die verwendeten Begriffe bezeugen und beleuchten einen Sachverhalt, und auch in ihnen liegt eine Unerbittlichkeit. Sie lässt einen ehrfürchtig verstummen. Wie schön wäre die Rückkehr ins Eigene, die Wiederaufnahme der klassischen Notizen, um wieder bei mir selbst zu sein. Das, denke ich, wird neue Lebensgeister wecken.
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Ich habe mir einen kleinen Weltüberblick verschafft und bemerke eine umso stärkere Weltverbundenheit. Es stimmt jetzt nur noch mehr: Wir sitzen alle im selben Boot. Ein Gewicht der Welt muss auf uns lasten bei allem, was wir tun, bei jedem Schritt, den wir unsicher setzen.
Alle, wirklich alle Länder des Planeten sind zur selben Zeit mit exakt demselben Problem konfrontiert, einem Virus, der unabhängig vom Ort denselben Gesetzmäßigkeiten folgt. (Der Tröpfcheninfektion ist es egal, ob sie in Kalkutta, New Orleans oder Ludwigsburg stattfindet.)
Die Art der Übertragung ist überall gleich, doch die lokalen Gegebenheiten verändern ihre Wahrscheinlichkeit, ebenso wie getroffene Maßnahmen zur Eindämmung und deren Umsetzung. Die Art der Erkrankung ist bei jedermann gleich, ihr Verlauf hängt ab von der Konstitution des Einzelnen und den Möglichkeiten seiner Behandlung. (Gesundheit ist dabei immer eine Kosten-Nutzen-Abwägung.)
Der namenlose Weltenüberblicker geht bei seinem Virus-Experiment also von derselben Grundannahme aus. Ein Erreger verbreitet sich über den Globus mit mal erhöhter, mal gedämpfter Vehemenz und Rasanz, abgesehen von fälligen Mutationen behält er seine Form. Was dabei offensichtlich wird, sind die unterschiedlichen Voraussetzungen in der Bewältigung sowie die politisch und kulturell abweichenden Herangehensweisen bei Eindämmung und Abfederung der wirtschaftlichen und sozialen Folgen. Dinge, die immer schon offen auf dem Tisch gelegen sind, treten bloß noch deutlicher hervor. Ich habe für die Reise kein Gepäck gebraucht. Sie hat mir einen Erkenntnis-Schock in Sachen angewandter Länderkunde verpasst.
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Im Benennen von Ländern werden Entscheidungen getroffen, die nicht nur geographisch sind, sondern auch politisch. Dass es unterschiedliche Zählweisen für Kontinente gibt, sollte jedem geläufig sein; auch die Streitfragen bei Staatenlisten in Hinblick auf Überseegebiete und Sonderverwaltungszonen – da ist es wieder, das technische Vokabular mit Worterfindungen für etwas beständig Provisorisches. (Das Aufnehmen einer Karibikinsel in die Aufzählung, obwohl sie für spröde Besserwisser streng genommen bloß der Appendix einer ehemaligen Kolonialmacht sein mag, kann Respektsbezeugung des Romantikers sein oder sogar aufmuntern zur fortgesetzten Unabhängigkeitsbestrebung.)
Es stellen sich schwerwiegende Fragen der Staatlichkeit. Gibt es Palästina? Für wen und vor wessen Augen soll, muss oder darf es etwas geben? Wer bin ich, es zu wissen? Und doch entscheidet man sich für die eine oder andere Lösung, spricht gleichzeitig mit dem Namen eine Existenzberechtigung aus, die einer dem anderen absprechen will. So wird das Hinzufügen eines Elements in die Liste der Staaten Westasiens unverhofft zum subtilen politischen Akt. (Wie viel Meinung, wie viel Forderung schwingt mit?)
Nicht zuletzt ist alles eine Frage der genutzten Quellen, man braucht ein gut geeichtes Sensorium, um die versteckte Agenda einer Listensammlung zu erkennen. Ich verhalte mich gegenüber den Bereitstellern von Information oft sehr naiv, verfüge weder über das nötige Grundwissen noch über den gebotenen Erfahrungsschatz. Es wird dann mehr ein lockeres Herumprobieren, ein Vergleichen der angebotenen Bestände und ihrer Überschneidungen. Mit dargereichtem Zahlenmaterial verhält es sich ähnlich: Wer möchte was aus welchen Gründen wen wissen lassen?
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Die geistige Weltreise macht einem schmerzhaft bewusst, dass viele Länder ganz andere Sorgen haben als eine neuartige Lungenerkrankung, die hauptsächlich für Alte und Geschwächte zum tödlichen Problem werden kann. Ich lese Artikel und Lexikoneinträge, scrolle mich durch Tabellen und Tourismusportale, überfliege Reisewarnungen des Auswärtigen Amtes in Deutschland, Hinweise der österreichischen Wirtschaftskammer oder gehe direkt zu Regierungsseiten, ich bemühe mich, mir halbwegs einen Überblick zu verschaffen, und werde erwartungsgemäß nicht fertig damit. Trotzdem reift die Erkenntnis, dass es Orte gibt, an denen die Menschen weitaus größere Probleme haben als Corona, die Krankheit und damit einhergehende Verwerfungen kommt zur aufreibenden Gesamtsituation nur erschwerend hinzu. Ein bisschen Ehrlichkeit sind wir uns schuldig: So lange muss man erst einmal am Leben bleiben, um an diesem Virus zu sterben.
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Es gibt Länder, die seit jeher mit Dürre und dem damit verbundenen Ernteausfall kämpfen, beileibe kein rein afrikanisches Problem. Nicht überall gibt es Zugang zu fließendem geschweige denn sauberem Wasser. Hinzu kommen Regierungskrisen, diktatorische Präsidenten, die sich als Alleinherrscher aufspielen und auch im Schlepptau dieser Krise perfide Dekrete erlassen, die ihre verhängnisvolle Macht zementieren.
All das ist schwer verdaulich, und nichts davon war unbekannt oder neu. Es hat mich nur kaum oder zu wenig interessiert. Wie heilsam kann es sein, in jedem einzelnen Land Halt zu machen – wenn auch nur kurz – und sich zu vergegenwärtigen, unter welchen Bedingungen man anderswo lebt; und wie gut würgt es sich ein bisschen an der eigenen europäischen Sattheit und Überfressenheit. Nichts ist neu, es rückt die Dinge nur ins Licht.
Selbst nach einem derart oberflächlichen Durchleuchten der verschiedenen Weltgegenden, fällt es schwer, nahtlos dort anzuschließen, wo man aufgehört hat, den radikalen Wechsel ins Innere zu vollziehen und subjektive Eindrücke zu schildern, wieder über beschlagene Brillen und die Unannehmlichkeiten der Maskenpflicht, von Stadtparksonne und verliebten Polizisten zu erzählen. Und so muss es auch sein. Wahrscheinlich geht es uns viel besser, als wir gern hätten. Man darf ruhig eine Zeitlang vergessen, welcher Wert darin liegt, von sich selbst zu erzählen.

Bald gibt es wieder Sätze.