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34 Sonntag, 19.04.2020

Schreib etwas Leichtfüßiges, sage ich mir, wie hingemalt in Aquarell, mit feinem Pinselstrich. So wie Farben können auch gelesene Worte verdünnt sein, und dadurch leise, aber stark in sich. Etwas Erbauliches, stimme ich mir zu, etwas, das den Leuten den Tag retten kann, sie tröstet und erheitert und stützt. Ist gut, denke ich, einen Versuch wäre es wert. Ich gebe keine Garantie ab, werde aber mein Bestes tun. Das verspreche ich mir feierlich. Dann nehme ich Anlauf und springe jauchzend ins Nichts.

Die Grundmüdigkeit ist erweitert um eine Zusatzmüdigkeit, die einem eine wieder neue Geschichte erzählt.

Am späten Samstagnachmittag durchs Einkaufszentrum schlendern und nichts kaufen, nicht einmal ein Getränk oder einen Snack. Auch Geschäfte betreten und die Reihen mit Produkten abgehen wie man eine Parade abnimmt, dann sich aber mit erhobenen Händen bei der Kassa vorbeidrücken und sagen, dass man nichts hat. Die Müdigkeit der Angestellten registrieren, die manchmal eine Niedergeschlagenheit ist. Sich wundern über die Konsumfreude der Leute, aber auch Ehrfurcht haben vor der Geschäftigkeit unserer Spezies. Was man alles jederzeit kaufen kann und woher in der Welt es herangeschafft wird. Die Jugendgruppen misstrauisch beäugen, wie sie auf Frauenkörper stieren und sich dabei auffordernd in die Seite stoßen. Sich im schweigenden Umgebensein mit Artgenossen zu Hause fühlen, allein mit sich als Mensch unter Menschen.

Sich mit seinen Rückschlägen verbünden als unerbittliche Lehrmeister.

Im Katastrophenfilm Twister brettern die Wirbelsturmforscher mit durchgetretenem Gaspedal ins Auge des Orkans. Sie tun alles für umfangreichere und präzisere Messdaten, verschreiben sich ganz dem Ziel, bessere Vorhersagen zu treffen. Sie gehören einer Idee. Das hat mich damals sehr beeindruckt. Zwischendurch werden Scheidungspapiere nicht unterzeichnet.
(Mein selbstauferlegter Zeitdruck verunmöglicht eine tiefergehende Recherche, gar das Anschauen des gesamten Films, um treffende Zitate oder andere Eindrücke herauszuklauben. Oft ist es in künstlerischer oder kreativer Hinsicht ohnehin zielführender, sich an etwas ein bisschen falsch zu erinnern, sich eine Geschichte oder Aussage unbewusst zurechtzuerinnern, wie es einem fürs jeweilige Projekt eben gerade nützlich erscheint. Mit journalistischen Standards natürlich wäre eine solche Herangehensweise nicht vereinbar.) Es gibt Bilder.
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Im Plasmazentrum herrscht Minimalbetrieb. Direkt nach dem Eingang gibt es einen Checkpoint mit Desinfektionsmittel-Spender. Eine Angestellte erklärt die neuen Verhaltensregeln und fragt letzte Auslandsaufenthalte ab, dabei macht sie Häkchen am Klemmbrett-Formular. Sie misst auch die Temperatur. (Die letztjährige Umstellung von Ohr-Thermometer auf Stirn-Thermometer geschah in weiser Voraussicht.) Ein Mann beantwortet flüsternd ihre Fragen. Können Viren denn neuerdings durch Schall übertragen werden?
Die wenigen noch verbliebenen Sessel stehen weit auseinander im Raum verteilt, sodass zwischen den Wartenden zwei bis drei Meter sind. Eine geschlossene Sesselreihe fungiert als Abstandswahrer vor dem Empfangstresen, was etwas sehr Ungemütliches hat. (Der Anblick erinnert an eine Taubenabwehr, wie sie an exponierten Stellen von Hausfassaden montiert sind.) Im jeweiligen Ausschnitt des Schalters wurden Plexiglasscheiben mit Durchreiche montiert, die das Gesagte stark dämpfen. Es gibt Verständigungsprobleme. (Das Glas dient auch als Spuckschutz.)
Eine Dame in Zivil – von der Betreiberfirma – trägt munter Sessel auf und ab, eröffnet zusätzliche Stapel oder schichtet vorhandene um. Anscheinend hat sie für sich selbst die Regel erfunden, dass als Trenner nur ungepolsterte Sessel verwendet werden dürfen, und als Sitzgelegenheit nur gepolsterte. Das ist eine schöne Idee. So zieht sich ein roter Faden durch die Sessellandschaft.
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Jedes Jahr am 19. September findet in Mexiko eine landesweite Erdbeben-Übung statt. Am 19. September 2017 gibt es zwei Stunden nach Beginn der Übung, gegen 13:00, ein echtes Erdbeben. Sein Epizentrum liegt 55 km südlich von Puebla, es dauert 20 Sekunden und erreicht eine Stärke von 7,1 auf der Momenten-Magnituden-Skala (die Richterskala endet bei 6,5). 370 Menschen kommen ums Leben, über 6 000 werden verletzt. Das Puebla-Erdbeben ereignet sich am 32. Jahrestag des Mexico City-Erdbebens von 1985, bei dem ungefähr 10 000 Menschen ums Leben kamen. Die jährliche Übung erinnert an dieses Beben und wird traditionell um 11 Uhr angesetzt, zwei Stunden bevor damals die Welt an ihrer Achse rüttelte – um 13:00. Es gibt Zufälle.
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Der Kreislaufschwindel und das Lippenkribbeln und das Magengrummeln sind wie eine Droge, unter deren Einfluss man vernachlässigte Bereiche seines Gehirns neu entdecken oder anders nutzen kann. Man kommt auf überraschende Ideen; und findet für jene, die man bereits hatte, plötzlich klare Worte. Blut ist sprachlos.
Wie bei einer großen Flüchtlingsbewegung erhöht sich auch bei einer Wirtschaftskrise der Druck auf unqualifizierte Arbeitskräfte. Will man Vorgänge der Gesellschaft in ihrer Tragweite erfassen, ist es hilfreich, sich an ihre Sollbruchstellen zu begeben, um sich selbst ein Bild zu machen. Für monotone, geistlose Hilfsarbeit wird die Nachfrage steigen; das Angebot jedoch wird stagnieren. Man braucht nicht mehr Erntehelfer, als es Spargel gibt.
Die – anfangs unmerklichen – Veränderungen mit wachen Sinnen zu begleiten, kann oft lehrreicher sein, als so manches schale Semester irgendeines wichtigen Faches mit zusammengesetztem Namen; als das sterile Pauken universitärer Leselisten. (Ins Leben lesen – oder am Leben vorbei.)
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Für angepasste Büromenschen hat die Existenz eine greifbare Regelmäßigkeit. Sie wissen, wie es mit ihnen weitergeht, kennen jedenfalls die ungefähre Richtung. Mit welcher Zielgerichtetheit und Rasanz natürlich wissen sie nicht. Ein Ausscheren aus diesem vorgetretenen Pfad kann eine große Erleichterung sein, wie ein Urlaub von sich selbst. Büromenschen suchen das Knistern der Gefahr, den Kitzel des Verbotenen, zum Beispiel verbringen sie nach Cocktailbar und Tanzlokal die Nacht in fremden Betten oder verfallen Extremsportarten. Es gibt Fragen.
Wohin wir streben, ist das Epizentrum des Lebens. Jeder für sich begeben wir uns auf die Suche danach, mal sehenden Auges, mal blind fürs eigene Handeln. Ist es nicht unser innerster Wesenskern, alles daran zu setzen, eben nicht abseits der Existenz zu stehen, sondern mitten hinein zu treten? Nur kein stummer Zeuge der eigenen Lebensschilderung sein, sondern teilhabender Protagonist.
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Die neuen Promo-Videos sind gelungen. Bild eines lächelnden Kindes. Dazu eingeblendet: Jede Ihrer Spenden rettet Leben. Hinweisschilder ermahnen, sich beim Sprechen abzuwenden sowie kurz und prägnant auf Fragen einzugehen. Wir bitten dich, während der Spende NICHT Kaugummi zu kauen. Dieser könnte bei Unwohlsein in die Luftröhre gelangen. Kotzende Menschen sind kein schöner Anblick. (Als Wiedergutmachung erhält man ein T-Shirt mit dem verhaltenen Logo des Mutterkonzerns.) Während der Venenpunktion bitte nicht sprechen und den Kopf zur Seite drehen. Wie groß war die Erleichterung, als damals die Plasmapheresegeräte einer neuen Generation angeschafft wurden; mit selteneren und gedämpften Signaltönen. (Von all dem Piepen und Fiepen ist man doch halb wahnsinnig geworden.)
Im Spendesaal herrscht keine Maskenpflicht. Lediglich die Mitarbeiter – liebevoll Abzapfer getauft – haben einen Tröpfchenschutz aus transparentem Kunststoff. Eine – die kurzhaarige Strenge – erklärt, dass als Spender gar keine Maske getragen werden dürfe, weil man da zu wenig Luft bekomme. (Später ein Rundmail zur Einführung der Maskenpflicht. Und Luft?) Schräg gegenüber nimmt eine Erstspenderin Platz. Die Regeln sind einfach: Essen verboten, trinken erlaubt. (Im behäbigen Pullovergrau ruht flach ein satter Busen.) Neuerdings werden die Liegen mit feuchten Tüchern desinfiziert.
Besteht eine wie auch immer geartete Notwendigkeit? Was im Leben ist schon notwendig? Für das meiste gibt es zwei, drei, viele Lösungsmöglichkeiten. Blut ist einfach.
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Hier befindet sich ein solches Epizentrum, wird eine Grundressource des kommenden Impfstoffs gewonnen – Antikörper. Genesene Corona-Patienten werden gezielt angeworben oder von Spitalsärzten vermittelt. In manchen Ländern dient das direkte Zuführen von Antikörper-Plasma als experimentelle Behandlungsmethode. Glaubwürdige Studien zur Wirksamkeit dieser umstrittenen Vorgehensweise gibt es zu diesem frühen Zeitpunkt noch nicht. Und auch reguläre Plasmaproteine erfüllen weiterhin ihren Zweck, werden doch aus ihnen Arzneimittel oder Fibrinkleber zum Wundverschluss hergestellt. Blut ist warm.
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Im Echtzeitstrategiespiel StarCraft sind es Mineralien und Vespin-Gas, diese können von speziellen Einheiten abgebaut werden. Außerdem gibt es Supply, das im Deutschen mit Versorgung nur unzulänglich übersetzt ist und den Maximalwert der möglichen Truppenstärke angibt; bei den Terranern jedenfalls Supply, bei den Protoss Psi, bei den Zerg Control genannt. Gesteigert wird die Ressource durch den Bau bestimmter Einheiten oder Gebäude. In den Titeln der Echtzeitstrategiespiel-Reihe Command & Conquer fungieren als Grundressourcen Credits – gewonnen aus den außerirdischen Tiberiumkristallen –, sowie Energy, deren Level durch den Bau von Kraftwerken erhöht werden kann. Es gibt Muster.
Wir Menschen tun gut daran, uns hin und wieder zu erinnern, dass auch wir selbst in mancherlei Hinsicht kaum mehr sind als schiere Anbaufelder und Behältnisse für Substanzen. Unser Körpergewicht entscheidet über die vorhandene Kapazität. Es ist möglich, die konkreten Handgriffe des Gesellschaftssystems zu beobachten, während sie an uns verrichtet werden. Blut ist wahr.
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Es gibt Zufälle und Muster. Die Welt ist aufgespalten in mehrere Wirklichkeiten, die stur mit sich ringen. Sie entscheiden, was innerhalb unserer Wahrnehmung geschieht. Deshalb sind wir hier: Eindrucksatt, schwindlig vor Bildern und Fragen weiterzutaumeln – aus dem Leben ins Leben.

Die U-Bahn ist mein Ort. Wie beim Einsteigen das Schultaschenmädchen zur alten Frau mit einiger Bestimmtheit sagt: Sie zuerst! Wie man in den Gesichtern der Menschen ungefähr ablesen kann, wohin sie unterwegs sind, ob zu einem freudigen Ereignis oder einer schalen Pflicht. Wie das Studieren der Menschengesichter eine ganz eigene Wachsamkeit braucht – und verspricht. Wie man einer unter vielen ist, und in der Masse verschwindet. Wie man den Rucksack kontrolliert, ob alle Reißverschlüsse zu sind. Wie die Fenster im Tunnel zu Spiegeln werden, in dem sich die Mädchen kontrollieren: das schnutige Missfallen der Lippe, die dreiste Schräge der Frisur, das kecke Flattern der Wimpern. Wie mit einem Ruck die Tür aufgeht und man den Wartenden gegenübersteht zum Ein- und Ausstiegsduell. Wie man einem glatten Beinpaar folgt, zwar nicht blind, aber gebannt. Die U-Bahn war mein Ort. Ist sie es noch?

Eben habe ich den Halbzeitpfiff für die Menschheit gehört.

Wieder verlernen, erwachsen zu sein.

Aber was atmet die Luft?