Die Simulation unserer Wirklichkeit ist derart perfide, dass jene, die sie als solche erkennen und entlarven, zu geisteskranken Realitätsverweigerern erklärt werden.
In der Dunkelheit zahlen sich geschlossene Augen nicht aus.
Erst an der Schwelle merkt man sein Gepäck.
Nach über einem Monat lese ich wieder ein Buch. Für fünf oder sechs Wochen hat meine Konzentration bloß für Nachrichten und Kurztexte gereicht, für Magazinbeiträge und thematisch einseitige Zeitungsartikel. Endlich finde ich die Zeit und vor allem die innere Ruhe, mich hinzusetzen auf den angesammten Leseplatz und eine Stunde unabgelenkt mit Lektüre zu verbringen. (Das Handy liegt stummgeschaltet außer Griffweite.) Es ist das Bügelbuch, ein weit gereistes Buchgeschenk, das in ebenso kompakter wie leichtfüßiger Weise die Rituale und Routinen von Künstlern versammelt, hauptsächlich von Schreibenden. Es ist die Fortsetzung eines Bandes, und den ersten muss ich unbedingt haben. (Besessen von einer Besitzmöglichkeit.)
(Bügelbuch deshalb, weil im titelgebenden Zitat jemand behauptet, dass er am kreativsten sei, wenn er bügle. Ich kann mir das, ehrlich gesagt, kaum vorstellen. Allerdings bin ich seit jeher überzeugter und konsequenter Nichtbügler. In meinem Haushalt gibt es zwar ein Bügelbrett, doch ohne Bügeleisen; und eines ist nur etwas mit dem anderen. Eine andere Geschichte, wie genau es dazu kam.)
Das Buch gewährt sehr heitere und aufschlussreiche Einblicke in die Tagesabläufe berühmter Persönlichkeiten, gespickt mit Interviewpassagen und der einen oder anderen lehrreichen – oder zweifelhaften oder entlarvenden – Selbstauskunft. Auch die Frage des Alkoholkonsums scheint sehr präsent; inwiefern er der Kreativität förderlich oder abträglich ist, welchem Regelwerk er unterworfen sein sollte.
Man ertappt sich dabei, wie man sich selbst in die beschriebenen Personen hineinphantasiert, wie man Vergleiche zieht und Unterschiede festmacht. Selbst bei Autoren, mit denen ich persönlich nicht allzu viel anzufangen weiß, empfinde ich tiefen Respekt für deren Arbeitsethos, für eine Unbedingtheit und Stetigkeit, die den Kern eines Lebenswerks bildet.
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Manche Passagen sind unerlaubt wahr, schmerzhaft und köstlich zugleich. Über einen Philosophen aus dem Balkan heißt es, er folge einem strengen Ritual, um den eigentlichen Akt des Schreibens zu vermeiden. Dieses bestehe für ihn darin, beim Sichten und Sammeln der Notizen sich selbst gegenüber beharrlich zu behaupten, das nun Entstehende sei noch nicht die Endfassung, diese werde sich später im langwierigen Überarbeiten und Streichen ergeben. Der Witz aber ist: Die Notizen sind eben nur vermeintlich vorläufig, in Wirklichkeit entsprechen sie der letztgültigen Form, abgesehen von einem glättenden Akt der Säuberung. Schreibarbeit als Kompositionsarbeit, Formulieren und Fabulieren als Abschmirgeln der Nahtstellen.)
Diese Selbstüberlistung kenne ich auch von mir; längst habe ich sie erkannt und eingestanden, als recht gewitzt eingestuft und als taugliches Hilfsmittel abgesegnet. Beim Dahinholpern ist jedes Stützrad willkommen. (Blickt man sich selbst beim Arbeiten – das soll Arbeit sein? – über die Schulter, empfindet man sich selbst nicht selten als einen lieben Trottel, der es eh gut meint und meistens halt sein Bestes gibt. Leider nie mehr.) Denkarbeit als gesuchte Schinderei.
Für den Philosophen sei der Schreibprozess ein absoluter Horror. Sich selbst einzugestehen, dass er wirklich schreibe, löse bei ihm eine unvorstellbare Beklemmung aus. Das wiederum kann ich nur bedingt nachvollziehen. Das Buchstabenkrakeln und Formfinden ist ja doch eine Rettung; wenn auch eine, die immer tiefer ins Verderben führt. (Süchtig nach dem Suchtschmerz.)
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Mein Leseplatz ist das gemütliche Couch-Eck mit Deckenfluter, von dem auch ein zusätzlicher Schwenk-Arm samt Leselicht absteht. Ich habe die Sonne im Rücken und schalte es nicht ein. Mit einer Stunde Lesen schaffe ich beinah das halbe Buch. Wie ein Verhungernder schlinge ich die Seiten hinunter. Nach einer Essenspause lege ich eine zweite Etappe ein, mit der ich mir den Rest des Buches einflöße. Es wirkt. Ohne trinken bin ich ganz betrunken.
Ein bayerischer Kabarettist nennt das Nichtstun bei der Erarbeitung von Drehbüchern oder Bühnenprogrammen ein notwendiges Herumschildkröteln; ein Wort, von dem ich mir wünsche, dass es auf meinem Mist gewachsen wäre, empfinde ich doch in vielerlei Hinsicht eine große Verwandtschaft zu diesen Tieren, wenn ich mich auch niemals erdreistet hätte, ihre langsam-gründliche Wesensart in ein Verb zu verwandeln. Das erscheint mir unendlich verwegen und schrecklich einleuchtend.
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Überhaupt ist in dem handlichen Buch viel vom Zeittotschlagen die Rede, vom raubtierhaften Umlauern des Schreibtischs, vom Herrichten und Umräumen des Arbeitsplatzes, von Ersatzhandlungen und Vorwänden und Scheinbeschäftigtsein, von einfallsreichen Vermeidungsstrategien, von all dem Uneigentlichen, welches uns beharrlich davon abhält, das Eigentliche zu tun. Und doch tun wir es. Andernfalls würde ja nicht so viel entstehen.
Manche der porträtierten Persönlichkeiten natürlich sind derart diszipliniert, dass man sich neben ihnen faul und unwürdig vorkommt. Wie schön wäre es, strengen Abläufen zu gehorchen, eingebettet zu sein in jenen gleichmäßigen Rhythmus, der einen sicher durch ein arbeitssames Künstlerleben trägt. Wie segensreich wäre der Tag als Tag wie jeder andere. Wie besonders und erzählenswert – und anekdotentauglich – wäre man, könnten andere die Uhr nach einem stellen.
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Respekteinflößend ist der von einem Journalisten mitnotierte Tagesablauf eines Junkie-Schriftstellers, inklusive präziser Angaben der Uhrzeit. Ein lückenhafter Ausschnitt:
15:45 Kokain
16:16 Orangensaft, Zigarette
16:30 Kokain
16:54 Kokain
17:05 Kokain
17:11 Kaffee, Zigaretten
Es drängt sich die Einsicht auf, dass es sehr anstrengend sein muss, eine Berühmtheit zu sein; und teuer erst recht. (Man darf nicht allem auf den Leim gehen. Es wird heillos übertrieben und munter an kurzweiligen Legenden gestrickt.) Schaffenskraft durch Drogenkonsum scheint möglich. Mutiger sein, denke ich, es probieren. (Ich kenne mich gut genug, um zu wissen, dass mir als gelernter Feigling diese Abwägung zu einschüchternd ausfiele; gemindertes Schlafbedürfnis und gesteigertes Durchhaltevermögen bei anhaltender Geistesgegenwart klingen zwar verlockend, doch scheint verkürzte Lebenszeit ein recht hoher Preis dafür zu sein.)
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Über einen deutschen Modeschöpfer heißt es, Sport treibe er auf Anraten seiner Ärzte kaum, seine Pausen verbringe er mit dem müßigen Blättern in Bildbänden oder in acht verschiedenen Tageszeitungen. Und er tagträume. Tagträumen sei die vielleicht wichtigste Arbeit in seinem Leben. Eine Diagnose, die sich so mancher von seinem Arzt wünschen mag.Und Tagträumen muss man ohnehin als produktive Arbeitszeit verbuchen.
Ich bin im Buch zu Hause. Es beschwingt und befragt und erbaut mich. Es fordert schön heraus. Manchmal stoße ich auf ein begradigtes Eselsohr. Hier war ein bewanderter Buchmensch zugange, der das Geschriebene vorgekostet hat, um sicherzugehen, dass es meinen Geschmack trifft.
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Das Buch selbst ist weiß, der Umschlag schwarz mit weißer Schrift, das Lesebändchen warm orange. Lesen muss von nun an wieder möglich sein, auch inmitten der seltsamen Zeiten. Anders wird es nicht gehen. Sei ein bisschen mehr du selbst, ermahne ich mich. Sei anders, wenn es sein muss, sei sogar neu, aber dann innerhalb deines Wesens und auf deine Art.
Die hier Versammelten sind Onkel und Tanten, von denen ich noch viel lernen, von denen ich mir das eine oder andere abschauen kann. Sie sind hosentaschenklein und überlebensgroß. Ein paar Gewohnheiten könnte ich probeweise verinnerlichen und vereinnahmen. Die Wahrheit lautet aber, dass ich ohnehin bereits über eine bunte Auswahl an Marotten verfüge, denen ich mich ganz überlassen, denen ich mich zuversichtlich hingeben kann. So einen wie mich muss man auch erst einmal verstehen. Die Dinge nehmen ihren Lauf. Der Rest wird sich ergeben. Ich klappe das Bügelbuch zu, lege es weg und habe den Tag in der Tasche. Jetzt kann sie kommen, die Welt.
Die Verortetheit im Wesen eines Buchs.
Wenn etwas aber wirklich stimmt – dann wird es durch Wiederholung nicht weniger wahr.
Ein Mann niest für die ganze Straße.
Traumbild: Auf dem Weg zur Frage krallt sich mir eine Katze an den Rücken. Dies löst vor allem Verwunderung aus, weil ich annahm, sie bereits losgeworden zu sein. Über mehrere Stunden trage ich das Tier mit mir herum, stets in Sorge, dass es mich anpinkeln könnte und es scharf zu riechen beginnt nach Katzen-Urin. Andere fragen mich, weshalb es mir nicht wehtut. Ich schüttle unsicher den Kopf. Nachbilder des Traums zerschwimmen mir vor den Augen. Und ich rieche an mir herum, ob mich etwas angepinkelt hat. Ich weiß nicht, was es ist; doch ich weiß, dass etwas stimmt.
Mein innerer Hippie nennt verlieren ab sofort gekämpft haben.
Eine Idee zur Krisenlinderung mit dem positiven Nebeneffekt einer länger tragenden Völkerverständigung: Das Einrichten eines Buddy-Systems.
Die Vorgänge in China geben uns eine ungefähre zeitliche Perspektive, eine Ahnung von der Dauer des Shutdowns und seinem Fortgang in abgewandelter Form. Wir blicken in den Osten – und sehen unsere Zukunft; jedenfalls mit Vorbehalt. Die Chinesen sind wir selbst in der Möglichkeitsform.
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Idee einer Plattform, auf der sich Chinesen uns Europäern als Corona-Buddy anbieten, als Trostspender und Vorleber des Weitermachens. (Beide Seiten ausgestattet mit komfortablen Englischkenntnissen.)
Nach einer ersten Kontaktaufnahme berichtet der Buddy, wie er selbst und seine Angehörigen durch die Maßnahmen gekommen sind, nimmt dem Europäer gewisse Ängste und Sorgen. (Jungchinesen als Hoffnungshelfer und Mutmacher; ihre Durchhalteparolen in singendem Mandarin.) Die Botschaft lautet: Es wird vorbeigehen, ich bin dafür der lebende Beweis.
(Erwartbare Kontroverse: Wie wird es vorbeigehen? Mit Nachbarschaftskomitee und Checkpoint und Punktesystem und Standortdaten und Tracking und Unterwürfigkeit und Abstandwahren und Wohnhausspitzel und Winnie-the-Pooh als Präsident von beängstigender Herzigkeit und der Chinesifizierung Europas?)
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Der Corona-Buddy als Unterstützer, mit dem wir über Funk verbunden sind. Er sagt uns: Halte durch, Freund – an mir siehst du das Abklingen der Angst. Wir werden sicher ankommen. Wie ein Passagier, der unverhofft ein Flugzeug landen muss und dabei von jemandem bei der Bodenkontrolle mit fester Stimme hindurchgelotst wird. Schritt für Schritt. (Sehen Sie den großen roten Knopf? Drücken Sie ihn nicht. Auf keinen Fall den großen roten Knopf drücken. Betätigen Sie den kleinen blauen Hebel neben der ovalen Anzeige mit dem komplizierten Dings. Tun Sie es jetzt.)
Der Buddy verkörpert die Fortsetzung unserer Geschichte. Sie geht in ihm glimpflich aus. Er ermahnt uns zum Einhalten der Maßnahmen und redet uns gut zu. Daraus entstehen länder- und kulturenübergreifende Freundschaften, die auch nach dem Kampf gegen die Krankheit Bestand haben werden. Schnöde Himmelsrichtungen sind außer Kraft gesetzt. (Corona-Buddes for Life!)
Ich bilde mir ein, jemand bezeichnete mir gegenüber die Philosophie einmal als Gedankenarchitektur.
Welch abgrundtiefe Anmaßung darin liegt, von sich selbst zu erzählen. (Eine noch größere Anmaßung lag darin, bereits als Jugendlicher, noch Jahre vor der ersten Veröffentlichung, für mich selbst beschlossen zu haben, dass es, wenn man schreibt, Haupt- und Nebenbücher gibt; ich wusste, worum es sich dabei handelt, und wie es sich anfühlen würde, diese Einteilung für sich selbst vorzunehmen. Es war keine vage Ahnung, sondern ein sicheres Wissen. Bis heute hat es sich bewahrheitet, was einerseits großes Befremden und andererseits tiefe Befriedigung auslöst.) Wir sind, wer wir immer schon waren.
Beim Notieren trifft mich der verächtliche Blick mancher Leute, als würde ich sie bestehlen. Recht so, denn das tue ich ja auch.
Nie weiß ich, wie man Terrasse schreibt.
Gestern war ich kurz davor, Tauben als graue Tiere zu bezeichnen; wohl nur, um eine unschöne Wortwiederholung zu vermeiden. Zum Glück habe ich es gelassen. Graue Tiere – wird man ihnen damit gerecht?
Nach den seltsamen Zeiten werde ich etwas sagen wie: Und jetzt, nach allem, bin ich um ein paar Erfahrungen reicher – und um ein paar Erkenntnisse ärmer.
So verzweifelt, dass es schon wieder heiter ist.
Wissen, wenn es nichts zu sagen gibt.