Am Bahnsteig wartet einer mit Gasmaske. Der freut sich, dass er sie endlich auspacken darf. Manche kommen sich jetzt vor wie in einem Endzeitfilm. Sie strahlen irgendetwas aus, das mir nicht gefällt; eine leere Befriedigung ganz ohne Freude, eine Untergangslust gepaart mit einsamer Schlaumeierei. Ich war vorbereitet, denken sie, und zeigen allen, dass sie etwas Besseres sind. Gasmasken wirken bedrohlich, auf Kinder sicher besonders. Das weißt du ganz genau, denke ich, und legst es darauf an. Ihnen ist nicht zu helfen. Wenigstens sieht es ordentlich bescheuert aus.
Wer nicht alles erzählt, der lügt.
Es ist Nacht. Eine junge Frau läuft. Sie läuft schnell, richtig versessen. Eine junge Frau läuft versessen vor sich selbst davon. Sie läuft und schnauft dabei. Sie läuft bedingungslos. Und läuft und schnauft und schnauft und läuft, und wird geschnauft haben und wird gelaufen sein. Eine junge Frau läuft ans Ziel. Sie meint das Laufen ernst und rudert mit den Armen. Sie läuft. Es ist Sport. In der Nacht.
Leben im Konjunktiv: An diesem Tisch im Garten wären wir gesessen bei einem Kaffee und hätten uns Dinge zu sagen gehabt. Sonnig wäre es gewesen, und zwischen uns hätte etwas gestimmt.
Wien ist eine stumm bewohnte Geisterstadt.
Würde ich mir selbst nachts über den Weg laufen, dann wäre ich mir suspekt.
Beim Abnehmen der Maske am Bahnsteig fällt mir die Brille herunter. Auf alle bin ich böse: Die Maske, die Brille und mich.
Als ich mit dem Anwalts-Freund zufällig den Donaukanal entlangspaziere, spricht uns zufällig ein junger Kerl an. Er ist ungefähr in unserem Alter und wirkt recht schnöselig. Er fragt uns nach einem Zehner, denn er brauche dringend Geld. Man kann sagen: Sein Angebot, ihm etwas zu geben, lehnen wir großzügig ab. Wirklich nicht, sage ich belustigt, und will ihm fast meinen Stundenlohn im Bürojob verraten, dass er sich auch ja schön dumm vorkommt.
Interessant ist, dass er nicht versucht, uns eine kleinere Summe abzuknöpfen, wenigstens einen Fünfer oder noch weniger. Er beharrt auf dem Zehner. Du wirst das sicher haben, sagt er zum Anwalts-Freund, der nur amüsiert den Kopf schüttelt. Dabei sieht der Schnösel viel mehr als wir danach aus, dass er locker wem einen Zehner spendieren könnte. Er trägt ein sauberes Hemd, enge Jeans und flotte Schuhe; mir kommt vor, er hat sogar einen Haarschnitt. Nicht einmal wir zufälligen Spazierer haben einen Haarschnitt. Der Schnösel lässt von uns ab.
*
Das war aber ein Edelbettler, sagt mein Anwalts-Freund, mit seinem Zehner.
Ja, sage ich, ein richtiger Schnöselbettler.
Vielleicht ist er einfach nur im falschen Bezirk unterwegs und sollte es stattdessen in einer noblen Wohngegend versuchen. Ich bin ein großer Fan von ihm und seiner Chuzpe. Auch von der Beharrlichkeit, sich nicht herunterhandeln zu lassen. Das hat er nun wirklich nicht nötig.
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Unterwegs nehmen uns zwei Polizeistreifen in die Mangel, ein Auto nähert sich von hinten und eines von vorn. Sie werden langsamer und schleichen sich aus beiden Richtungen an. Wir vergrößern den Abstand zueinander und stellen uns an den Rand. Wir zögern. Falls man uns ausfragt, haben wir uns eine Erklärung, ja, sogar eine Empörung zurechtgelegt. Ein Auto lässt das andere vorbei. Wir warten den Vorgang ab. Dann spazieren wir weiter am schummrigen Donaukanal. Jeder hat zwei Bier im Gepäck. Als ich aufs Klo muss, stelle ich mich hinter einen Baustellencontainer. Ich trinke aus der Dose, mein Freund aus einer Flasche. Wir stoßen nicht an.
Spätabends in der U-Bahn ein junger Mann ohne Maske. Weiter hinten noch einer, mit Bart, ein bisschen älter. Das sind die ganz Harten, denke ich.
Nach der Heimfahrt ist mir angenehm schwindlig vom Sauerstoffmangel. Unter der Maske bekommt man so schwer Luft. Oder sind es die zwei Bier? Jedenfalls geht es mir gut; und wovon, ist herrlich egal.
Windstille als Frieden. Nicht nur auf hoher See.
Am Schottenring keucht ein alter Mann. Er rastet vom Gehen. Alle werfen Blicke, die sagen: Wenn es sein muss, dann werden wir helfen. Der Mann kramt in der Umhängetasche. Wir bleiben unauffällig in seiner Nähe, falls es etwas gibt.
E-Mail von: Sherri Gallagher
Betreff: Hello
Nachricht: Greetings, My name is Sherri Gallagher, please reply me back?
Vielleicht antworte ich ihr lieber nicht?
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E-Mail von: Abby Saenz
Betreff: Support Funds For COVID-19
Nachricht: On behalf of Jack Ma Foundation, $1 Million has been donated to you. Contact (Adresse) for more details.
Manchmal trifft das Glück die Richtigen.
Wir alle sollten unsere Masken behalten und für die Zukunft sicher verwahren, sodass unsere Enkel sie beim Verkleiden am Dachboden finden und wissen wollen, was es damit auf sich hat. Dann streichen wir darüber und schwelgen ein bisschen in unserer Vergangenheit (oder sogar Jugend). Passen wir also gut darauf auf. Später werden wir die Masken hervorholen als Relikte der seltsamen Zeiten, an die wir uns kopfschüttelnd erinnern. Warum hast du die eigentlich? Der Enkel rückt sich zurecht im weichen Schoß. Wir erinnern uns gern und sehr genau. Also, werden wir beginnen, das war so …
Bei uns beiden ist etwas Seltenes wahr.
Was ich an dir vermisse – bin ich selbst.