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30 Mittwoch, 15.04.2020

Straßengeräusche sind auch eine Verbundenheit mit der Welt.

Die geduckte Haltung der Geher – nicht vor etwas auf der Flucht, doch vor etwas (oder jemandem?) auf der Hut. (Es fallen ein: Virus, Mitmenschen, Polizei.) Kaum verlässt man das Haus, begegnet man auch schon sich selbst.

Ein ansonsten einwandfrei gepflegter Mann steht barfuß auf der Rolltreppe, inklusive silbernem Zehenring. Ich werfe es ihm vor.

Ob die braven Asiaten uns auslachen, wie sehr wir jammern über die Maskenpflicht? – jedenfalls manche von uns (also ich).

Ich kenne einen, der kennt eine Asiatin. Eigentlich kenne ich einen, der einen kennt, der eine Asiatin kennt. Den einen, der die Asiatin kennt, den kenne ich nicht richtig, doch ich bin ihm begegnet – auf der Feier desjenigen, der ihn besser kennt als ich.
Er kennt die Asiatin nicht nur, sondern ist mit ihr zusammen. Sie ist wunderschön, eine wahre Augenweide, hat eine ansprechende Figur und lächelt aus einem zufriedenen Gesicht. Ihr Wesen ist aufgeweckt, und doch scheu. Ihr Haar fällt wie schwarzes Wasser. In ihrer Gegenwart fühlt man sich sonderbar geborgen. Man würde alles für sie tun.
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Die Asiatin spricht als Zweitsprache deutsch, und das einwandfrei, beinahe ohne Akzent. Sie ist mit einem Österreicher zusammen, der nicht aus Wien stammt, sondern vom Land kommt, vielleicht aus der Steiermark. Für meine Ohren spricht er wie ein Bauer, seine Worte sind derb und plump. Dadurch erscheint er mir als Person eher ungehobelt und proletenhaft. (Vielleicht kommt er auch aus dem Burgenland, denke ich, was die Sache noch viel schlimmer machen würde. Jedenfalls ist sein Sprechen mehr ein grantiges Bellen.) Ein einziges Mal bin ich vor ihm gestanden, und neben ihm die Asiatin. Sie war als Mensch zu Ende gedacht. Er war nichts als grobschlächtig. Du bist ein Prolet, dachte ich, und verguckte mich ins Lächeln seiner Freundin. Sie scheint nicht zu bemerken, mit wem sie da zusammen ist. Ihre asiatischen Ohren sind nicht empfänglich für die Nuancen des Deutschen, da es sich nicht um ihre Muttersprache handelt.
So beginne ich nachzudenken über andere Sprachen, zum Beispiel über das amerikanische Englisch in all den Fernsehserien. Für mich und viele andere klingen etwa Südstaatendialekte interessant, oft sogar richtig cool – wie aber klingen sie für einen Muttersprachler, der eher neutrales Standard-Englisch gewohnt ist? Womöglich ebenso affig und derb wie für mich das Bellen des steirischen Burgenländers. Zieht es einem waschechten New Yorker bei säuselnden Country-Songs innerlich alles zusammen? (Abgesehen davon sind einige in ihrer inhaltlichen sowie kompositorischen Schlichtheit, ihrem unterbelichteten Verklären des Vorhandenen und Vergangenen das Äquivalent zum deutschsprachigen Schlager.)
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Du bist ein Rüpel, dachte ich, als er vor mir stand, und die Asiatin sich an ihn schmiegte, als besitze er sie. Du hast sie nicht verdient, dachte ich. Auch war mir nicht geheuer, dass sie ihm stets unterwürfig hinterhertrippelte; zu den Getränken und zum Salzgebäck, aus der Küche ins Wohnzimmer und retour. Das hast du nicht nötig, dachte ich, wenn überhaupt, dann sollte er dir überallhin folgen, um sicherzugehen, dass du hier keinem normalen Menschen begegnest, in dessen Licht dein Freund verblasst.
Allein aus der Art seines Sprechens zu schließen, konnte er ihr nicht das Wasser reichen, in keinem Lebensbereich. Meiner Erinnerung nach waren beides Musiker, studierten beide an der Universität ein Instrument. Ihm würde ich keine Empfänglichkeit für hochgeistige Kunstwelten attestieren; ihr jedoch sofort, sah man ihr das Feingefühl im Übersetzen von Noten in Töne doch bereits an den zarten Fingerspitzen an. Du wirst deinen Weg machen, dachte ich der Asiatin ins lächelnde Gesicht, nur lass dich nicht bremsen von diesem unwürdigen Kerl. Du hast etwas Besseres verdient.
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Ich frage mich, ob es in ihrer Verbindung anfangs auch darum ging, dass sie bei ihrem Aufenthalt in Österreich einen verlässlichen Unterstützer vorweisen konnte, dass es ihr also vieles erleichterte – Amtswege, Studium, Unterkunft –, einen direkten Ansprechpartner zu haben, der von hier stammt und mit den hiesigen Gepflogenheiten bestens vertraut ist. Würdest du hören, was andere hören, dachte ich, würdest du dir die Ohren zuhalten, denn seine Sprache vermittelte eine Herkunft und eine Wesenstiefe, zeigte lückenhafte Bildung und mangelnde Umgangsformen an. Er sprach so wie ihm der Schnabel gewachsen war, und das war eher unförmig.
Am Abend unseres Kennenlernens stand ich kurz davor, die Asiatin darauf hinzuweisen, dass sie mit einem ungehobelten Proleten zusammen war, doch ich ließ es bleiben, da es mir aussichtslos schien, ihr meinen Eindruck ihres Freundes verständlich zu machen. Bereue ich es jetzt? An mir ist nichts für sie richtig, doch ich wünsche mir sie frei für einen anderen, der ihr entspricht. Ich sollte den, der einen kennt, der die Asiatin kennt, bei Gelegenheit fragen, wie es den beiden miteinander ergeht. Hoffentlich hat sie die Ohren geöffnet.
(Allein der Gedanke – noch mehr seine Verschriftlichung – strotzt vor feiger Niedertracht. Die Wahrheit muss lauten: Der Rüpel bin ich. Wir sind eben nicht nur so, sondern leider auch so. Und im Zugeben vielleicht ein bisschen Mensch.)

Die Maske lässt einen wortkarger werden, denn jedes Sprechen ist lästig. Richtig maulfaul wird man. Längeres Tragen führt zu Kurzatmigkeit. Oder werde ich alt? Ein stummes Maskenleben führen, denke ich.

Das Anlegen der Maske als intimer Akt, bei dem man nur ungern beobachtet wird. (Wie sich in der Öffentlichkeit die Schuhe zubinden; es hat etwas Kindhaftes, Unbeholfenes. Wir sind dabei nicht souverän.)

Erklärung für zu tief sitzende Masken: Viele Leute wissen nicht, wo genau sich ihre Nase befindet. (Illustration anfragen bei Kollege Picasso.)

Unter der Maske riecht man nach sich selbst.

Sich sklavisch an etwas halten – anstrengend und seltsam befriedigend.

Zurück von der Arbeit greife ich in den Briefkasten und erspüre eine Sendung. Über weißes Geschenkpapier kullert Obst mit Augen und Lächeln. (Wassermelone, Apfel, Banane.) Eine rückwärts alternde Kollegin hat mir ihren neuen Gedichtband zukommen lassen. Der ist angenehm groß und liegt ruhig in der Hand; sein Gelb ist kraftvoll und freundlich. Die Sprache ist dicht.
Dem Buch ist eine Karte beigelegt, darauf abgebildet ein bärtiger Postmann. Er steht an einer Haustür, mit der rechten Hand drückt er die Klingel, mit der linken fächert er eine Reihe von Briefen und wiederum Postkarten auf. Er ist gemalt und blickt in die Kamera. Aus einem Silberknopf der Uniform fällt eine Uhrenkette. An seiner Körpermitte ist ein winziger Umschlag befestigt; ich öffne ihn, und ein zartes Leporello springt hervor. (Mit zittriger Spannung hat es gespannt wie eine Feder auf seinen Einsatz gewartet; Das Leporello war geladen.)
Bei diesem Effekt verändert sich der resignierte Geichtsausdruck des Postmannes nicht, sein Bart erschreckt sich keinen Millimeter. Das gefällt mir: Ihm wachsen briefmarkengroße Abbildungen von russischen Villen aus dem Leib, aber er steht weiter da mit seiner Post und betätigt pflichtbewusst eine Klingel. Die Puppenhäuser sind zuckerlbunt, ihre Bilder sind klein und lassen wenig Platz für Landschaft und Gras.
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Die Dichterin hat eine richtige Erwachsenenschrift oder Arztschrift, selbstbewusst und filigran, das macht auch der zarte Bleistift. Zwar kann ich einzelne Wörter nicht lesen, doch verstehe ich den Inhalt des Geschriebenen. Es geht um Väter und Räume. Ich habe eine Kinderschrift, wie sie einem in der Schule mitgegeben wird, pragmatisch und leserlich, die nicht viel Persönlichkeit hat. (Das passt so. Hauptsache, ich kann mich selbst entziffern.)
Ein grüner Apfel am Papier lächelt traurig. Das Nebenobst muntert ihn auf. Das gelbe Buch ist richtig, ich teile es mir gut ein. Der Postmann hat die weichgezeichneten Hängewangen des russischen Präsidenten. Es wachsen ihm die Villen aus dem Bauch. Er lebt an meiner Pinnwand.

Schön muss es für all jene sein, die sich aktiv an der Lösung des Problems beteiligen. Ich stelle mir vor, wie gut es Beamten in Ministerien geht, weil sie gefordert sind und auf ein gemeinsames Ziel hinarbeiten. Auch Polizisten oder andere Staatsbedienstete erfüllen eine konkrete Aufgabe und erhalten Strukturen aufrecht. Medizinisches Personal agiert sowieso im Kern des Problems. Supermarktangestellte und Lebensmittelauslieferer gewährleisten die Befriedigung der Grundbedürfnisse. Sie alle werden in die Lage versetzt, mit der Situation produktiv umzugehen.
Eine Kellnerin, die ihren Job verloren hat, ein Gastronom, der um die Zukunft bangt, kann das schwer. Sänger, Tänzer oder Sportler hängen in der Luft. Sie alle sind der Situation mehr oder weniger ausgeliefert; etwas beitragen können sie nur indirekt durch ihr Verhalten und das Spielen der ihnen zugewiesenen Rolle im Gesellschaftsgefüge. Auch ich selbst erfülle streng genommen keinen Zweck. (Zeitvertreib, Belustigung?) Politiker müsste man sein. Ich beneide die Akteure um das Erleben ihrer Selbstwirksamkeit.

Zufrieden brüten wir in unserer Gewöhnlichkeit – wie ein Laib Sauerteigbrot im vorgeheizten Backrohr.

Menschen mit psychischem Leiden zwangsrekrutieren zum Freiwilligendienst. So bekommen wir sie aus der Isolation. Es wird ihnen guttun.

Kann man an handgedrehten Schupfnudeln gesunden? Man kann.

Mit dem Anwalts-Freund trete ich in langwierige Verhandlungen zu einem möglichen Biergang ein, also einem zufälligen Spaziergang mit Abstand und Bier. Ich schlage vor, ihm in seiner Wohngegend zufällig über den Weg zu laufen. Er hat große Sorgen, gegen die derzeit aufrechten Bestimmungen zu verstoßen. Wie zufällig kann man sich treffen? Wie viel Abstand sollte dabei eingehalten werden? Was sagen, wenn jemand es genauer wissen will? Als Jurist ist er sich der Tragweite unserer zufälligen Entscheidungen bewusst. Die erste Verhandlungsrunde endet mit offenem Ergebnis.
Ich werde es darauf anlegen, zufällig in der Nähe seines Hauses aufzutauchen, zufällig mit einer Dose Bier. Zufällig werden zwei bis drei Meter zwischen uns sein und wir einander beim Reden nicht immer verstehen. Unsere Stimmen werden zufällig laut sein.

In der Anwaltskanzlei, wo sich die Prokuristen ihren krummen Rücken abholen.

Ein Leben wie die Menschen in der Filmreihe Matrix. Wir hängen an Schläuchen, die uns versorgen, an Nabelschnüren, die uns sinnlos ernähren. Gefangen in einer Art Schlaf. Ein Zustand, den wir nicht anders kennen, weil wir nie daraus aufgewacht sind. Ja, denke ich, wir leben wie die Zukunftsmenschen in Matrix.
Wir haben alles, was den Organismus am Laufen hält, denn es wird uns zugeführt und eingeflößt. Bewacht und organisiert von gnadenlosen Maschinen. Sie zapfen uns an, wir sind nützliche Energiequellen – Batterien in der passgenauen Wabe. Wir sind kompakte Einheiten der Grundressource Mensch. Blasse Embryonen, die in Fruchtwasser schweben. Haarlos, konform.
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Der Maschinengott schenkt uns einen bequemen Traum, in dem wir Leben führen, die es nicht gibt. Denn es stellte sich heraus, dass wir so etwas wie ein Leben brauchen, um verwertbar zu sein. Unser Verstand – oder Geist – würde eingehen ohne die Stimulation dieser geträumten Existenz. Wir sind zu Ende domestizierte Kreaturen und funktionieren.
Eines Tages bemerken wir das Déjà-vu, die verquere Dopplung, und erkennen den Webfehler in der Oberfläche unserer Traumwelt. Wir folgen der Frau in Rot zur Entscheidung. Ernste Hände klappen auf. Die blaue Pille wird uns vergessen lassen, wie es hätte gewesen sein können. Wir hängen an Schläuchen. Die Wirklichkeit trieft vor Dunkelheit und Fadesse. Der Vorhang grünen Codes wird getrennt, und heraus blutet der Schleim einer dringend amputierten Lüge. Wir sind der Schmerz, dass es uns gibt.

Es war einmal eine Idee.

Jemanden allein am Luftholen während des Lachens erkennen.

Ein anderer Mensch als Richtung, in die man lebt.