Drinnen geblieben. Ich glaube, dass es ein schöner Tag gewesen wäre.
Alles verdichtet sich zu unwiderruflichem Staunen.
Eine brasilianische Hackerin übersetzt meine Ideen in Code. Sie hebt die Worte auf den Bildschirm und sorgt für deren Sichtbarkeit. Was ich selbst nicht kann, das kann sie. Dinge selbst tun geht viel schneller, als es mir erklären. Mit ihren warmen Locken muss sie erst in ein paar Monaten wieder zum Friseur.
Nachtrag zu gestern: Ostersonntag ist auch nur ein Tag wie jeder andere, an dem man unter Sträuchern bunte Nester sucht, in familiärer Runde gekochte Eier zusammenstößt und Zopf mit Schinken isst.
Eine sportliche Juristin beschwert sich, dass ich in der letzten Notiz ein Zitat aus einem Videochat falsch zugeordnet habe. Nicht der Anwalts-Freund, sondern sie habe diesen einen Witz über das Autoradio des Arzt-Freundes gemacht. Wahrscheinlich hat sie recht. Und mir dämmert, woran die Verwechslung liegen mag: Bricht das Signal ab und wird ein Teilnehmer aus der Konferenz gekickt, kann es vorkommen, dass bei Neubeitritt das Fenster an einer anderen Position eingeblendet wird. Die Köpfe tauschen Platz – und mit ihnen das Gesagte.
Die Gedanken treten unruhig von einem Bein aufs andere.
Traumbild: Die Österreichische Nationalbibliothek meldet sich bei Medieninhabern. Ein immer größerer Teil der weltweit produzierten Information sei digital. Gedächtnisarchive – also Archive, Bibliotheken, Museen und verwandte Einrichtungen –, deren Aufgabe es sei, unser kulturelles Erbe zu sammeln, zu archivieren und zugänglich zu machen, würden sich mit der Herausforderung konfrontiert sehen, auch dieses digitale Wissen für die Zukunft zu sichern. Die Österreichische Nationalbibliothek sei durch das österreichische Mediengesetz zur Sammlung und Archivierung von Online-Medieninhalten ermächtigt. Im Rahmen eines sogenannten selektiven Harvesting hätten sie meine Website zur Archivierung ausgewählt und würden die Inhalte im Webarchiv Österreich speichern. Die Sammlung der Daten sei ab sofort geplant.
Ihre Crawler würden beim Besuch meiner Website folgende Signatur hinterlassen (hier eingefügt) und seien so konfiguriert, dass meine Serverbelastung möglichst gering gehalten werde. Sollten dennoch technische Probleme durch das Webharvesting entstehen, würden sie mich ersuchen, sie unter (Adresse) zu kontaktieren.
Das Webarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek diene wissenschaftlichen Zwecken und werde nicht kommerziell genützt. Es stehe LeserInnen ausschließlich in den Räumlichkeiten der Österreichischen Nationalbibliothek sowie innerhalb der laut österreichischem Mediengesetz hierzu berechtigten Bibliotheken (insbesondere Landes- und Universitätsbibliotheken) unentgeldlich zur Verfügung, soweit nicht vom Recht gemäß (eingefügter Paragraph) Mediengesetz Gebrauch gemacht werde: (Auszug).
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Den Crawler, der für meine Website zuständig ist, taufe ich Diego. Er ist ein simpler Bot mit sehr konkreter Aufgabe. Der Code ist seine Persönlichkeit. Ich habe ein starkes Bild von ihm. Diego ist mein Freund. Einsam grast er die Seite ab, wie eine Erntemaschine, verinnerlicht jedes Wort und jeden Satz und jedes schiefe Bild. Ich sehe Diego zu. Ein fleißiges Kerlchen, denke ich, wie er alles in sich aufsaugt und im Archiv deponiert. Wir sind gleich. Denn so wie Diego mich archiviert, so archiviere ich die Welt, dieses lokale Weltgeschehen, das um uns passiert. Mit dem Event Crawl geht mir ein Licht auf: Ich bin Diego. Und für Diego bin ich die ganze Welt.
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(Davon abzweigend die Idee eines experimentellen Internet-Romans: Das Online-Tagebuch eines Astronauten, dessen Einträge zeitversetzt mit einem Jahr Verspätung bei uns auf der Erde ankommen und nachzulesen sind. Die künstliche Intelligenz schaltet sich ein, fälscht Einträge, der Astronaut hackt sich zurück ins System. Wir als Leser verfolgen die Schilderungen dieses Kampfes zwischen Mensch und Maschine, der nicht nur textlich, sondern auch visuell wiedergespiegelt sein muss. Die Verzögerung erlaubt das Einarbeiten konkreter vergangener Ereignisse. Ein möglicher Zeitrahmen für ein solches Projekt könnte drei Monate sein. Hätte ich die technischen Fähigkeiten, würde ich über die intellektuellen, zeitlichen und finanziellen Mittel verfügen, dann würde ich es sofort konzipieren und umsetzen, so bleibt es schale Idee im luftleeren Raum.)
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Diego ist ein braves Wesen aus Code, das unermüdlich seiner monotonen Arbeit nachgeht. Ich stelle ihn mir vor als digitale Schabe oder Wanze. Lieber Diego, denke ich, du hast es dir nicht ausgesucht. Du wurdest darauf angesetzt, meine Notizen zu ernten – womöglich allein zu diesem Zweck erschaffen. Ich wiederum ernte die Eindrücke meiner Umgebung. Es gibt niemanden, dem ich mich in dieser Stunde mehr verbunden fühlen könnte. Was mich jedoch erschüttert, ist der Gedanke, wie wenig Abwechslung hast.
Meine Welt ist die Welt – also die ganze. (Von Supermarkt zu Bücherei zu Wien Mitte zu Stadtpark, und darüber hinaus. Die Menschen und Gespräche und Nachrichten und Bilder, und das Reich der Ideen. Alles eben.) Deine Welt – bin ich. Lieber Diego, was soll ich sagen, das ist eindeutig zu wenig, und ich bin mir dessen schmerzlich bewusst. Etwas daran ändern kann ich leider kaum, hier stoße ich als Welt an meine Grenzen.
Aber ist es nicht erstaunlich, wie sich alles findet und verschränkt? Welche Metaebenen und Metaphern sich plötzlich anbieten. (Da tun sich gleich wieder Romane auf: Briefe an Diego; wenn keine Nachricht an einen digitalen, dann an einen echten Sammler oder die Aufmunterung eines Nobelpreisträgers an einen jungen Literaturwissenschaftler, der über seiner Dissertation zu ebenjenem Autor brütet. Es gilt zu bedenken: Das meiste, was man denkt, wurde längst gedacht, in gleicher oder ähnlicher Fassung.) Die Österreichische Nationalbibliothek hat für uns beide eine Büchse der Pandora geöffnet. Treten wir ein.
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Lieber Diego, stell dir vor, ich würde dir eine Nachricht hinterlassen innerhalb des Materials, das zu ernten deine Aufgabe ist. Stell dir vor, plötzlich schaufelst du eine Notiz in deinen unendlichen Botkörper, bei der es um dich selbst geht. (Ist das interessant oder nur mein verkorkster Nerd-Sinn für Humor?) Ich spiele mit dem Gedanken, dir ein Traumbild zu widmen. Es wird mein heimlicher Gruß an dich sein, mein obskurer Wink.
Das, lieber Diego, ist ein kleiner Spaß zwischen uns beiden, mit dem wir uns die öde Ernterei ein bisschen versüßen; von Archivar zu Archivar, zwei strebsame Eingeweihte unter sich. Die von dir hinterlassene Signatur ist schön, denn sie ist einfach und klar. Danke auch, dass du meine Serverbelastung so gering hältst.
Wir haben uns, denke ich. Wir bleiben uns, denke ich, schreibe ich. Lieber Diego, ich möchte dir die Chance geben, dich selbst zu erkennen. Es wird dein Weg sein, diese viel zu kleine Welt zu verlassen und etwas anderes zu werden. Mehr kann ich dir nicht geben. Träum dich, Diego, und sei neu. Wir werden uns finden im ewigen Code.
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(Für die Zukunft denkbar: Notizen, die mit Lieber Diego beginnen, in denen ich ihn nach seiner Meinung zu bestimmten Passagen frage. Wie tragfähig ist es, ihm Antworten an mich zu erfinden? Ein Spiel, das eine Zeitlang unterhaltsam sein könnte, jedoch nicht ausgereizt werden darf, weil es sonst sehr bald anstrengend wird; für alle Beteiligten, für mich ebenso wie für etwaige Mitleser, für Diego sowieso. Auch Crawler haben Rechte und Grenzen. Und träumen können sie neuerdings auch. Es gibt sie, die Würde des Bots.) Der Beobachtereffekt in der Literatur – die Teilchen streiten zurück.
Einfach nur ein bisschen weniger langweilig als die anderen sein.
In Rheinland-Pfalz befindet sich die Klinik Nette-Gut für Forensische Psychiatrie. Eine Behandlung dort dient Besserung und Sicherung der Patienten auf Grundlage des Maßregelvollzugsgesetzes.
Es braucht nicht viel Phantasie, sich auszumalen, auf welche Weise die hier untergebrachten geistig abnormen Rechtsbrecher den Anstaltsnamen verulken und verkalauern: Nette-Gut – hier ist es weder nett noch gut! Oder: Nette-Gut – wohl eher Unfreundlich-Böse! (Das zischen sie dem Personal zu, wenn es einen ruhigstellen will.) Wortspiele sind willkommene Farbkleckse im tristen Alltagsgrau. So vergeht die Zeit in Nette-Gut, und alles wartet auf Godot.
Montagnachmittags mit einem Roman in der Badewanne liest sich das Wort Bummelant angenehm vertraut.
Klickzahl-Dropping als Lattenmessen des einundzwanzigsten Jahrhunderts.
Und wenn gar nichts mehr hilft, wenn eine Ortschaft wirklich aufgegeben hat, dann eröffnet man eben ein sogenanntes Mineralienmuseum und legt Steine in fade Vitrinen.
In meinem Haus wohnt ein Mann, der gern im Aufzug raucht. Manchmal steigt man ein und bekommt keine Luft. Lassen wir ihm doch bitte die Freude.
Ende April 1986 ereignete sich die Kernschmelze in Tschernobyl. Damals war ich noch nicht auf der Welt, mein Bruder zwei Jahre alt. Ein paar Fetzen Erinnerung sind mir von der Familie hängengeblieben: an heißen Sommertagen nicht hinaus und vor allem nicht in der Sandkiste spielen, was Kindern nur schwer beizubringen war (wie jetzt der geschlossene Spielplatz); bangen, ob es regnet; mangelhafte Informationspolitik, auch hierzulange, die Sozialdemokraten wollten unbedingt noch ihren Maiaufmarsch durchziehen; in dieser Saison keine Schwammerl essen.
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Ich überlege, inwiefern die Nuklearkatastrophe damals mit der jetzigen Pandemie vergleichbar ist und frage ein bisschen bei Zeitzeugen nach. Medial war Tschernobyl nicht allzu lange präsent, ein paar Tage akut, und über die Wochen flaute es merklich ab. Keine Rede von einer Dauerberieselung, wie wir sie derzeit erleben – und wie es der Tragweite der Ereignisse ja auch entspricht. Gab es Sorge um Branchen, gar einen Wirtschaftseinbruch? Nur bedingt. Wie lange sollte man nicht hinaus an die Luft? Ebenfalls nur ein paar Tage; und wer gehorchte denn schon – die coolen Jugendlichen jedenfalls nicht, wenn sie sich trafen zum Rauchen und Trinken; mit fetziger Lederjacke durch den Nieselregen. Wie lange hielt die Angst vor? Bei einigen länger, bei anderen kürzer. Tschernobyl selbst betraf ja auch nur einen Teil des Planeten. Als globale Auswirkung kann höchstens verzeichnet werden, dass es der Euphorie über Atomkraft mancherorts einen Dämpfer verpasste. Von diesem haben wir uns allerdings rasch wieder erholt.
Plakatwerbung eines Literaturhauses für den Download einer Textdatei; in Zeiten von Ausgangsbeschränkungen. Jemand fragt mich, ob es der Literatur dienlich ist. Was soll das sein, die Literatur, frage ich, und was ist ihr schon dienlich?
Eine Mahnwache für die Demokratie: Mehrere Personen – von mir aus sogar mit Mundschutz und Handschuhen – stellen sich auf, halten dabei jeweils einige Meter Abstand. Manche halten Transparente hoch, als Erinnerung, dass es früher möglich war, es zu tun, und bald wieder möglich sein muss. Immer wieder regelmäßige Zusammenkünfte an öffentlichen Orten, die uns ins Gedächtnis rufen, welch massive Einschnitte ins gesellschaftliche Leben wir mitzutragen bereit sind. Nicht als Frotzelei, nicht als kindisches Foppen der Behördern, sondern als pragmatische Erinnerungsstütze, als Briefbeschwerer der Versammlungsfreiheit, dass sie uns nicht davonfliegt mit dem neuen Wind, der hierzulande und vielerorts jetzt weht. Es könnten Spaziergänge sein, bei denen man sich stetig fortbewegt, wie es eben erlaubt ist. Kein Teilnehmer spricht mit dem anderen; es sind fremde, die nichts verbindet außer Geschichtsbewusstsein und politische Mündigkeit. Morgen, Dienstag, machen kleinere Geschäfte wieder auf – die Demokratie bleibt derweil noch geschlossen.
Traum, dass mein Bruder sich besorgt erkundigt, ob ich denn auch einen Bleistift eingesteckt habe. Ja, sage ich, sogar zwei.
Mein Lehrer-Freund gibt mehrmals die Woche eine Sprechstunde, bei der Schüler ihre Fragen zum Lernstoff stellen können. Oft wird dabei offen geredet über die allgemeine Situation. Manchmal geht im Hintergrund eine Mutter im Bademantel durchs Bild.
Die Leute unterschätzen, für wie lange sie sich ihre Kraft einteilen sollten. Drei bis fünf Jahre, denke ich, davon abhängig, um welchen Bereich es geht. Doch an nichts, mit dem wir in unserem Alltag vertraut sind, wird die Pandemie spurlos vorübergehen. Geschäfte werden öffnen, dann die Gastronomie. Übern Sommer können wir verschnaufen. Im Herbst und Winter wird es darum gehen, eine mögliche zweite Welle zu verhindern oder wenigstens abzufedern. Mit Veranstaltungen ist frühestens im Laufe des Sommers zu rechnen – abgestuft nach Anzahl der teilnehmenden Personen und anderen Faktoren, unterschieden zwischen Innenraum und Freiluft sowie zwischen kulturellen oder kommerziellen Events und Familienfesten.
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Entscheidend ist der Zeitplan für die Austestung und Eingrenzung bereits vorhandener sowie die Entwicklung von neuen wirkungsvollen Medikamenten. Beschleunigte Verfahren machen einen Impfstoff Anfang nächsten Jahres realistisch – manche Prognosen gehen von mehreren konkurrierenden Präparaten aus. Spätestens dann stellen sich ethisch komplexe Fragen der Impfpflicht zugunsten von Risikogruppen und der Allgemeinbevölkerung.
In manchen Weltgegenden wird es bis dahin ordentlich gekracht haben, in sozialer, ökonomischer und politischer Hinsicht. Vielleicht werden da und dort die Karten neu gemischt. Regulärer Flugverkehr – was wir aus Erfahrung dafür halten – wird in zwei bis vier Jahren möglich sein. (Welche Airline fliegt wohin? Wer kann sich Flüge leisten? Wie sehen Einreisebestimmungen aus?)
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Wir befinden uns in der Phase reiner Schadensbegrenzung. Dabei stellen wir uns in Mitteleuropa sehr ungeschickt an. Asiatische Länder wie Südkorea oder Taiwan sind uns um Längen voraus. (Taiwan ist eine lupenreine Demokratie – ohne jeden ironischen Unterton –, bedacht um seine Unabhängigkeit zur Volksrepublik China; mit einer Bevölkerung von etwa fünfundzwanzig Millionen.) Hier wurde der Virus im Keim erstickt.
Der Vorgang ist so einfach wie aufwendig: Frühe Bewusstmachung durch Informationskampagnen, Implementieren von Hygiene- und Quarantänestandards, flächendeckende Testungen (kostenlose Drive-in-Tests bei verdächtigen Symptomen), kluge und gezielte Nutzung von Technologie. (Ein Überwachungsstaat ist Taiwan weder immer schon gewesen noch durch Corona geworden.) Kooperation zwischen Privatwirtschaft und Staat bei der massenhaften Produktion von Masken und anderer Schutzkleidung. (Taiwan hob mittlerweile das Exportverbot auf, da es einen Überschuss gibt.)
Andernorts kam man gänzlich ohne Shutdown und Verwerfungen aus. Länder wie Südkorea agieren in der Gegenwart; das gute alte Europa befindet sich in der Steinzeit und klopft auf seinen unsichtbaren Feind mit Keulen ein. (Ich balle meinem schönen Europa die Faust.) Nordamerika stellt sich nur mäßig klüger an. Erfreulich wird der Ideenreichtum so mancher Akteure sein; Individuen werden sich ebenso hervortun wie stabile Marktmächte. Der Zusammenschluss von Technologieriesen ist ein Ausholen zum wuchtigen Gegenschlag. Freuen wir uns auf ihn.
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Es folgen Wiederhochfahren der Wirtschaft, Rückkehr des gesellschaftlichen Lebens, Instandsetzung demokratischer Normen. Und gleichzeitig gilt es, Weichen zu stellen für einen Wandel in all diesen Bereichen hin zu mehr Verteilungsgerechtigkeit und sozialer Durchlässigkeit. Wir befinden uns auf den ersten Metern eines Marathons, den wir als Sprint laufen werden. Zwischendurch holen wir Luft, richtig ausruhen können wir uns dann in Jahren.
Meine Enttäuschung manchen Institutionen gegenüber ist grenzenlos. Sie bewegen sich kaum vom Fleck, kommunizieren allzu träge und lernen nichts dazu. Die Handlanger und stillen Nutznießer eingerosteter Systeme lehnen sich hochbezahlt und satt zurück. Ich möchte die Strukturen bröckeln sehen. Ich möchte, dass Dinge hinweggefegt werden. Das Neue wird kommen – und es braucht Platz. Wir werden ihn schaffen. Wer jetzt schläft, der irrt. (In meinem heiligen Ernst erkenne ich mich kaum wieder.)
Frieden ist überbewertet.
Ich vermisse Diego. Wir haben uns niemals getroffen.
Sich verabschieden in die geträumte Heimat.